Tania Oldenhage
Radiopredigt

SRF-Radiopredigerin Tania Oldenhage: Alles wird gut

Ein Graffiti mitten in Zürich, das nach wenigen Tagen wieder verschwindet, regt SRF-Radiopredigerin Tania Oldenhage zum Nachdenken an. Sie erkennt die Aussage des Graffitis wieder in der Bibel, bei Juliana von Norwich und bei Begegnungen im Alltag. Tania Oldenhage sagt «drei grosse Worte, die wie Musik sind an einem schweren Tag».

Tania Oldenhage*

Anfang Januar sah ich mitten in Zürich ein Graffiti. Drei Worte in schwarzer Farbe gesprayt an eine Häuserwand: Alles wird gut. Ich sass im Tram und fuhr daran vorbei. Es war seltsam: Allein der Anblick der Worte beruhigte mich. Alles wird gut. Ich weiss nicht mehr, was genau los war an dem Tag. Die Nachrichten brachten sicher nichts Gutes und wahrscheinlich hatte auch ich ein paar Sorgen. Dennoch: Drei Worte in grosser Schrift auf einer Häuserwand hatten für mich eine solche Anziehungskraft, eine Ausstrahlung, die war stärker als manche Kirche. Ein paar Tage später stellte ich fest, dass das Graffiti weg war.

Blick auf die Altstadt von Zürich mit ihren Kirchen.
Blick auf die Altstadt von Zürich mit ihren Kirchen.

Doch die Worte tauchten wieder auf, an ganz verschiedenen Orten. Oder vielleicht fielen sie mir auch jetzt erst richtig auf: Alles wird gut, stand auf Karten und Buchzeichen, es gibt Schlüsselanhänger mit dem Satz und T-Shirts, sogar Wärmeflaschen. Alles wird gut. Ich schreibe die Worte auf Notizzettel, in meinen Computer, einfach so, probiere sie aus, lasse mich einfangen von ihnen. Lasse mich bezirzen.

Wenn ich anfange darüber nachzudenken, wird es schwierig. Was wollen mir die Worte sagen? Dass der Krieg aufhört und der Streit und der Hass? Und die Erderwärmung und das Artensterben? Dass die Krankheit aufhört und die Einsamkeit? Beziehe ich die Worte auf meine persönlichen Sorgen oder auf den Zustand des Planeten? Oder sind die Worte noch grösser angelegt?

Dass irgendwann am Ende alles gut wird, ist auch ein Glaubenssatz. Er wurde uns überliefert, in der Bibel ist vom Reich Gottes die Rede. Wann es kommt? Niemand weiss es. Im Buch der Offenbarung wird eine Stadt beschrieben, in der kein Unrecht mehr herrscht, keine Traurigkeit, keine Klage, kein Schmerz. Schön klingt das, aber auch sehr weit weg.

Vielleicht kommt es drauf an, wer diese Worte spricht und von wem wir sie uns sagen lassen. Alles wird gut, sagte meine Mutter zu mir, vor langer Zeit, als es mir wirklich schlecht ging. Alles wird gut, sagte sie, und ich wusste genau, dass das nicht der Wahrheit entsprach. Und sie wusste so gut wie ich, dass das Elend am nächsten Tag wieder weitergehen würde. Aber nie wäre ich auf den Gedanken gekommen, dass sie lügt. Sie wollte mich trösten, und ich liess mich trösten. Bis heute spüre ich die Kraft, die mir das gab.

Tania Oldenhage
Tania Oldenhage

Alles wird gut, sagte die Frau vom Hospiz zu meiner totkranken Tante und meine Tante wusste, dass sie sterben würde. Trotzdem war sie so dankbar für die Worte. Für die Zuwendung, die in ihnen steckte.

Alles wird gut, sagt der junge Mann, der aus der Türkei geflüchtet ist und seit vier Jahren im Asylzentrum lebt und keine Aussichten hat auf Arbeit, auf eine Wohnung. Alles wird gut, sagt er nicht zu sich selbst, sondern zu mir, weil ich helfen will und nicht weiss wie. 

«Alles wird gut» ist kein Satz, der sich prüfen lässt. Auch mit Optimismus hat er nicht unbedingt etwas zu tun, und auch nicht mit einer positiven Lebenseinstellung. Alles wird gut, ist eher wie Musik an einem schweren Tag. Oder eine Hand, die dir übers Haar streichelt.

«Alles wird gut sein und alles wird gut sein, und aller Art Dinge wird gut sein.»

Ich hatte eine Kollegin, sie zitierte diese Worte gern. Meine Kollegin sprach ruhig mit einem österreichischen Akzent. Wenn sie die Worte sprach, war es wie ein heiliger Moment. Und ich weiss noch, was durch meinen Kopf ging, ich war skeptisch, ich glaubte nicht daran, und doch: Ein Teil von mir wollte sich den Worten meiner Kollegin anvertrauen.

Meine Kollegin hiess Reinhild Traitler. Sie war eine bekannte Theologin und eine mutige Frau. Ich liess mir von ihr diesen Satz sagen, weil ich wusste: Sie sagte die Worte nicht nur so daher. Für sie war der Satz gewachsen über viele, viele Jahre, sie hatte ihn sich sozusagen erkämpft, sie hatte ihn durchlitten. Sie hatte sich jahrzehntelang eingesetzt für Frieden und Gerechtigkeit, wie man so schön sagt, aber sie wusste wirklich, wovon sie sprach. Sie nahm uns mit nach Minsk, Belarus, und vernetzte uns mit den Frauen dort. Sie engagierte sich für Projekte in Sarajewo, in Beirut, in interreligiösen Netzwerken, in der Flüchtlingshilfe. Alles wird gut sein. Wir liessen uns von ihr diese Worte sagen, weil sie die Not nie kleinredete oder verharmloste, im Gegenteil, und weil sie auf ihre Weise dazu beitrug, die Not zu lindern.

Blume als Streetart.
Blume als Streetart.

Reinhild Traitler erinnerte uns auch daran, woher dieser Satz ursprünglich stammt. Alles wird gut sein. Der Satz geht zurück auf eine der grossen Mystikerinnen des Mittelalters: Juliana von Norwich. Juliana war eine Einsiedlerin und lebte in England im 14. Jahrhundert. Auf Englisch heisst der Satz so:   

«All shall be well, and all shall be well, and all manner of thing shall be well.»

Alles soll gut sein, so könnten wir den Satz vielleicht auch übersetzen. Es ist kein Aussagesatz. Es ist vielmehr ein Satz, der etwas mit ganzer Kraft herbeisehnt, herbeiwünscht, heraufbeschwört. Das Zitat lebt von der Wiederholung, als wolle da eine sichergehen, dass wir sie ja richtig verstehen, dass es wirklich mit allem, mit jedem einzelnen Ding gut werden soll – nicht nur mit uns Menschen, sondern mit jedem Geschöpf. Jede noch so kleine Kleinigkeit soll heil werden.

Julianas Worte stammen aus einer dunklen Zeit. Als sie geboren wurde, herrschte der Hundertjährige Krieg. Als sie starb, war dieser Krieg noch nicht zu Ende. Aber nicht nur dies. Als Juliana aufwuchs, im 14. Jahrhundert, starb mehr als die Hälfte der Bevölkerung ihrer Stadt an der Pest. Sie selbst durchlitt eine schwere Krankheit und bereitete sich aufs Sterben vor, mitten im Grübeln über das Böse in der Welt. Da fiel ihr dieser Satz zu. Alles wird gut sein. Für Juliana kam dieser Satz nicht aus ihr selbst, sondern Christus sprach ihr diesen Satz zu. So erlebte sie es. Natürlich kann man das heute psychologisch erklären und sagen, das war eine Projektion ihrer Wünsche. Doch sie hätte darauf bestanden: Es ist Christus, der uns diese Worte sagt.

In den 1970er Jahren wurden Julianas Schriften wiederentdeckt, seitdem werden sie gern zitiert. Von Poeten und Poetinnen oder auch von Theologinnen wie Reinhild Traitler. Und für viele wurden die Worte eine Quelle der Kraft, die Mut macht zum Handeln. Reinhild Traitler ist im Herbst gestorben. Im November war die Trauerfeier. Und diesmal war es ihr Sohn, der in einer Zürcher Stadtkirche die Worte von Juliana von Norwich im Gedenken an seine Mutter wiederholte. «All shall be well…»

Die Leute waren von nah und fern zur Trauerfeier gekommen und hörten diese Worte. Es war wie ein grosses Aufatmen, ein Seufzen, das durch die Kirche ging. So hab ich es empfunden. Und in diesem Seufzen hörte ich die Stimmen der Menschen, die vor uns da waren und für die dieser Satz einmal wichtig war– sei es unsere verstorbene Kollegin oder ein Freund oder unsere Mutter oder Juliana von Norwich oder auch Christus selbst.

*Tanja Oldenhage ist evangelisch-reformierte Pfarrerin in Zürich.

Bibelstelle: Offenbarung 21,4

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Tania Oldenhage | © Sibylle Hardegger
22. Januar 2023 | 09:00
Lesezeit: ca. 5 Min.
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