Karl Wolf vor der roten Madonna an der Zürcher Langstrasse.
Theologie konkret

Spiritual Karl Wolf spricht über Sex

Domherr Karl Wolf (67) ist Pfarradministrator in Küsnacht – und neuer Spiritual des Churer Priesterseminars. Ein Gespräch über verklemmte Priester, den neuen Verhaltenskodex – und was für eine zeitgemässe Spiritualität notwendig ist.

Jacqueline Straub

Sie sind Spiritual im Churer Priesterseminar. Wie sieht Ihr Alltag dort aus?

Karl Wolf*: Ich bin alle zwei Wochen für zwei Tage im Priesterseminar in Chur. Es gibt immer einen bestimmten Tagesablauf: Gebet und Eucharistiefeier am frühen Morgen, ein gemeinsames Frühstück und dann Gruppengespräche mit bestimmten Themen und Einzelgespräche. 

Seit Januar ist Karl Wolf (links) auch Domherr des Bistums Chur.
Seit Januar ist Karl Wolf (links) auch Domherr des Bistums Chur.

Die restlichen Tage arbeiten Sie in einer Pfarrei in Küsnacht und in einer Praxis als Psychoanalytiker. Abends sieht man Sie oft auf der Langstrasse in Zürich. Sie kümmern sich dort um Obdachlose und Prostituierte. Bekommen Sie alles unter einen Hut?

Wolf: Ich versuche es seit Beginn im Dezember 2021 mit der Einteilung in Blockzeiten. Ich finde, dass es mit Abstrichen bisher funktioniert. Im Sommer kann ich mehr dazu sagen, dann räume ich mir eine Zeit der Auswertung ein, bei der ich meine Erfahrungen mit den Verantwortlichen in Chur kritisch betrachten werde.

«Die Studierenden sind auch mit dem Regens und mit ihren geistlichen Begleitern unterwegs.»

Es gibt Stimmen in Chur, die sagen: Ein Spiritual muss bei den Seminaristen und den Studierenden sein, also in Chur leben. Wie sehen Sie das?

Wolf: Da ist etwas Richtiges dran. Diesen Punkt gilt es auf jeden Fall zu bedenken. Allerdings bin ich nicht der einzige Verantwortliche. Die Studierenden sind auch mit dem Regens und mit ihren geistlichen Begleitern unterwegs. Auch die Gemeinschaft untereinander und die Unternehmungen miteinander sind von Bedeutung. 

Schwester Ariane Stocklin und Pfarrer Karl Wolf.
Schwester Ariane Stocklin und Pfarrer Karl Wolf.

Sie sind für die spirituelle Begleitung von jungen Männern verantwortlich. Welche Voraussetzungen braucht es, um später ein guter Priester zu sein?

Wolf: Menschliche Reife und Entwicklung als Person ist wichtig. Eine grundsätzliche Zugewandtheit zu Menschen, mitfühlend sein zu können, ist von Bedeutung. Ebenso ein wertschätzender Blick auf sich selbst und die eigene Biografie, eine ganz offene Selbstreflexion. Hinzu kommt die Bereitschaft, sich selbst besser kennen zu lernen, die eigene jeweilige Persönlichkeit in ihrer physischen und psychischen Beschaffenheit. Ein junger Mensch kann daraus Stabilität gewinnen und eben auch eine eigene Spiritualität entwickeln. Ganz grundsätzlich geht es um Offenheit für neue Erfahrungen, eine Begeisterung für einen Dienst am Menschen, die Freude in einer Gemeinschaft von Gleichgesinnten. Eigentlich geht es beim Priestersein um eine lebendige Freundschaft mit Jesus und mit den Menschen. Ausserdem wollen junge Menschen in der Gesellschaft und in der Kirche etwas bewegen. 

Kantonsschule und Priesterseminar St. Luzi Chur
Kantonsschule und Priesterseminar St. Luzi Chur

Ist ein Priesterseminar überhaupt noch zeitgemäss?

Wolf: Definitiv. In einer Gesellschaft, die individualistisch geprägt ist und in der das Ego, die eigene Karriere, Konsum und Wellness auf das Banner gehoben wird, ist gemeinschaftliches Leben, indem man lebt, studiert und miteinander Ideen, «Geist und Leben» zu teilen lernt, umso wichtiger. Es ist im guten Sinn eine Voraussetzung und ein Training, später besser miteinander zu kommunizieren und zusammenzuarbeiten. Eine Gemeinschaft vom Stil Jesu geprägt kann grosse Kraft entwickeln.

Die Priesteramtskandidaten des Bistums Chur.
Die Priesteramtskandidaten des Bistums Chur.

Was könnte sich ändern?

Wolf: In früheren Jahren gab es auch in Chur schon einmal die Idee eines Seminars für Priesteramtskandidaten und für alle Theologiestudierenden gemeinsam – als Haus der lebendigen Gemeinschaft. Diese Idee kommt in meinen Gesprächen mit pastoralen Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen und priesterlichen Kollegen aus den Dekanaten im Blick auf Chur jetzt wieder. Es wäre gewissermassen ein Haus, wo Menschen, die einen kirchlichen Beruf anstreben, in ihren jeweils unterschiedlichen Berufungswegen und doch gemeinsam unterwegs sind. 

«Es geht um Freiheit und Offenheit, Zugewandtheit und adäquate Nähe mit angemessener Distanz.»

Priesteramtskandidaten wird gerne nachgesagt, dass sie verklemmt sind. Wie sind Ihre Erfahrungen?

Wolf: Ich spüre keine generelle grössere Verklemmtheit bei den jungen Männern, die Theologie studieren, als bei anderen Menschen in ihrem Alter. Das ist eher eine Frage der einzelnen Persönlichkeit. Freiheit und Offenheit, Zugewandtheit und adäquate Nähe mit angemessener Distanz verbinden und in der Begegnung mit Menschen leben zu können, ist für uns Menschen von heute ein sehr wichtiger Lernprozess.

Konzelebranten in der Kathedrale St. Gallen. Rechts im Bild: der Churer Regens Martin Rohrer.
Konzelebranten in der Kathedrale St. Gallen. Rechts im Bild: der Churer Regens Martin Rohrer.

In der Churer Kathedrale kommunizieren viele Seminaristen nur per Mundkommunion. Wie passt das zum Wunsch, Priester zu werden: also später einmal Brot in die Hand zu nehmen, zu wandeln und auch auszuteilen?

Wolf: Zunächst einmal sind Formen des persönlichen religiösen Ausdrucks von Religiosität und der originären Beziehung mit Gott zu respektieren. Die Mundkommunion kann für einen Menschen der positive Ausdruck einer innigen Verbundenheit mit Gott sein. Dies gilt es erst einmal wertzuschätzen. Zur Ausbildung gehört für jeden Theologiestudierenden dann allerdings, dass er Wissen hinzugewinnen und eine Haltung finden kann, auch andere Ausdrucksformen als die Eigenen anzuerkennen. Denn auch eine ganz andere Haltung kann Ausdruck von tiefer Gottverbundenheit sein. Eine Weitung des Horizontes in diesem Sinn ist für alle Studierenden heilsam. Wer später in die aktive Rolle in einem pastoralen Dienst hineinwächst, wird noch einmal durch die Praxis unterschiedliche Ausdrucksformen von Menschen kennenlernen. Er wird lernen, sie jeweils zu fördern. Als der Gebende wird er für sich selbst dann auch andere Ausdrucksformen entwickeln und pflegen. Zur Zeit des Studiums gehört für mich, sich mit diesen Fragen bewusst und ganzheitlich auseinanderzusetzen. 

Konservative Priester haben ihn bekämpft und müssen ihn nun nicht unterschreiben: Churer Verhaltenskodex
Konservative Priester haben ihn bekämpft und müssen ihn nun nicht unterschreiben: Churer Verhaltenskodex

Welche Rolle spielt in ihrer Arbeit als Spiritual der Verhaltenskodex, den das Bistum Chur kürzlich herausgegeben hat?

Wolf: Der Verhaltenskodex gehört seit der Veröffentlichung zum Programm der Präventionsarbeit in unserer Diözese, um Missbrauch und Machtmissbrauch spiritueller und sexueller Art zu verhindern.  Als Psychologe gehört für mich solch eine Checkliste zum Standard-Instrumentarium. Wir arbeiten auch in der Pfarrei sowohl mit den Mitarbeitenden, als auch bezüglich des Verhaltens von Freiwilligen damit. Auch mit den Seminaristen wird das selbstverständlich ein Thema sein. Der Kodex regt zum Austausch an zu bestimmten Verhaltensweisen und Grundhaltungen in der Begleitung von Menschen – und das ist sehr gut. 

Sie gehören dem "Churer Priesterkreis" an und kritisieren den Verhaltenskodex: die Domherren Roland Graf (l.) und Franz Imhof.
Sie gehören dem "Churer Priesterkreis" an und kritisieren den Verhaltenskodex: die Domherren Roland Graf (l.) und Franz Imhof.

Die Domherren Franz Imhof und Roland Graf haben Vorbehalte gegenüber dem Verhaltenskodex. 

Wolf: Für die Theologiestudierenden und die pastorale Ausbildung ist solch eine Checkliste hilfreich. Die Themen darin beziehen sich auf Sorgfalt und Achtsamkeit im Umgang mit Menschen, die unserer Sorge anvertraut sind. Grenzverletzungen und Übergriffe in der Vergangenheit und in der Gegenwart brauchen eine detaillierte Reflexion. Wenn wir die Möglichkeit aufgreifen, damit zu arbeiten, tun wir etwas in Hinsicht auf Qualitätssicherung in der seelsorglichen Tätigkeit. Dass darin auch Aspekte enthalten sind, die man durchaus weiter diskutieren muss, ist für mich selbstverständlich.  

«Im Verhaltenskodex werden männliche Übergriffe kritischer betrachtet als weibliche. Das ist ein einseitiger Blick.»

Welche etwa?

Wolf: Als Spiritual finde ich es wichtig, in der Begleitung das Thema der ganzheitlichen Spiritualität zu besprechen. Die Emotionalität und Affekte und deren Hintergründe, die manchmal im Unbewussten liegen, sind von Bedeutung. Die Motivationen und Ursachen eines Verhaltens etwa brauchen das Hin-sehen mit einem analytischen Blick. Für jede Person, ob Mann oder Frau, verheiratet oder nicht, ist geschlechtliche Identität und Sexualität ein wesentlich zur Persönlichkeit gehörender Teil. Sie zu gestalten und ihr eine angemessene Kultur zu geben, ist die Aufgabe jedes Menschen. Deshalb ist das Thema der Entwicklung der Identität – einschliesslich der Sexualität und die Entwicklung der sexuellen Präferenz – ein Thema, das in der Ausbildung besprochen werden muss. Wenn der Katalog formuliert, dass wir diese Frage nicht stellen sollten, ist er für mich an dieser Stelle mangelhaft. Es ist wichtig, dass jemand im pastoralen Dienst sich seiner sexuellen Identität und sexuellen Präferenz bewusst ist, um sie adäquat seiner Verantwortung für andere Menschen gestalten zu lernen. Ebenso werden im Kodex männliche Übergriffe in den Blick genommen und kritischer betrachtet als weibliche. Das ist ein einseitiger Blick. Da wäre der Blick zu schärfen.

Karl Wolf
Karl Wolf

Ist Sex ein Thema, über das Sie mit den Seminaristen sprechen?

Wolf: Selbstverständlich ist Sexualität ein Thema. Der Mensch ist ein sexuelles Wesen, daher ist es ein Thema.

Das Priesterseminar St. Luzi und die Theologische Hochschule Chur.
Das Priesterseminar St. Luzi und die Theologische Hochschule Chur.

Was geben Sie den Priesteramtskandidaten diesbezüglich mit auf den Weg?

Wolf: Es geht um den ganzen Menschen in all seinen Anteilen von Emotionalität und Affektivität. Die Gesamtpersönlichkeit eines Auszubildenden und seine Identität braucht die Aufmerksamkeit, dazu gehört auch die geschlechtliche Identität. Sexualität betrifft die ganze Persönlichkeit. Es geht um eine ganzheitliche Ausbildung, die zur Bildung und Wissensvermittlung, auch die eigene Sexualität in konstruktiver, positiver Weise im Blick hat. Es ist wichtig, dass die jungen Männer – und übrigens auch die jungen Frauen, die Theologie studieren – die verschiedenen Persönlichkeitsanteile in ihr Leben integrieren, ihre eigene geschlechtliche Identität kritisch reflektieren und sich überlegen, wie sie die geschlechtlichen Präferenzen gestalten möchten. 

Dieses Plakat (Ausschnitt) ist Teil der Ausstellung "Take Care", die im Kunsthaus Zürich zu sehen ist und war Teil einer "Stop Aids"-Kampagne.
Dieses Plakat (Ausschnitt) ist Teil der Ausstellung "Take Care", die im Kunsthaus Zürich zu sehen ist und war Teil einer "Stop Aids"-Kampagne.

Verteufelt die Kirche Sex?

Wolf: Nein. Die katholische Kirche als solche verteufelt weder generell die leibliche Verfassung des Menschen, noch die Sexualität im Spezifischen. Manche in verschiedenen christlichen Kirchen – zum Beispiel auch Freikirchen – tun das aus meiner Sicht.

«Es gibt eine gewisse Sprachlosigkeit zur gelebten Sexualität.»

Wie nehmen Sie das wahr?

Wolf: Für mich spielt in der Praxis mehr eine Rolle, dass es eine gewisse Sprachlosigkeit bei dem Thema gelebter Sexualität gibt. Wir haben Mühe, eine konstruktive und positive Weise zu finden, darüber zu sprechen. Emotionalität und Sexualität will ja angemessen und wertschätzend in Sprache gefasst werden. Eine sogenannte Verteufelung von Sex und Sexualität generell betrachte ich als ungesund. Denn dann wird ein Teil von der Persönlichkeit abgespaltet oder ausgegrenzt.

Papst Johannes Paul II. trifft bei seinem Besuch in Liechtenstein Bischof Johannes Vonderach (8. September 1985 in Vaduz).
Papst Johannes Paul II. trifft bei seinem Besuch in Liechtenstein Bischof Johannes Vonderach (8. September 1985 in Vaduz).

Wie sehen Sie die Sexualmoral der Kirche?

Wolf: Schon früh in meiner Ausbildung habe ich gelernt, dass es immer um eine ganzheitliche und auch um eine konkrete Integration geht. Ich finde, dass Papst Johannes Paul II. mit seiner Theologie des Leibes konstruktiv mit dem Thema umgegangen ist. Er hat in seinen Ansprachen zu diesem Thema einen Ansatz vorgeschlagen, der den Menschen in ihrer Geschlechtlichkeit und Leiblichkeit als Ort der Gotteserfahrung betrachtet. Das finde ich einen wunderbaren Zugang. 

Bischof Joseph Maria Bonnemain bei der Eröffnung der Wallfahrtssaison in Kevelaer.
Bischof Joseph Maria Bonnemain bei der Eröffnung der Wallfahrtssaison in Kevelaer.

In einem Interview sagte Bischof Joseph Maria Bonnemain, dass jeder, der mit einer Missio die Frohbotschaft verkündet, den Willen haben muss, «kohärent mit dieser Frohbotschaft sein Leben zu gestalten». Was sagen Sie dazu?

Wolf: Bischof Joseph ist jemand, der als Mediziner und Theologe und Bischof das Ganze im Blick hat. Ich bin mit Bischof Joseph zum Beispiel am Karfreitag zu seelsorglichen Gesprächen und zu Beichtgesprächen im Primero, dem Café unserer Gassenarbeit, gewesen. Er ist es gewöhnt in andere Milieus einzutauchen.

Selbstverständlich geht es darum, dass wir alle, die wir vom Evangelium sprechen, uns auch daran messen. Der Massstab ist das Leben, der Stil Jesu mit Menschen umzugehen, wie es uns die Evangelien vorlegen. Auch ich selbst muss meine «Kohärenz» mit der Frohbotschaft immer neu selbstkritisch in den Blick nehmen. Das müssen wir alle: Uns überprüfen, ob unser ganz konkretes Leben mit dem Evangelium übereinstimmt. Als Seelsorger und Therapeut kann ich aus den Begegnungen im Milieu sagen, dass es sehr unterschiedlich gelebte homosexuelle Präferenzen gibt. Nicht jede Gestaltung entspricht dem Evangelium. Es geht um gelebte Liebe, das ist zu definieren und zu überlegen, was das als glaubender Mensch für meine Identität und sexuelle Präferenz heisst. In bestimmten Milieus wird Gewalt und Aggressivität mit Sexualität kombiniert, das entspricht nicht dem Evangelium.

Karl Wolf an der Langstrasse in Zürich – im Gespräch mit Menschen am Rand.
Karl Wolf an der Langstrasse in Zürich – im Gespräch mit Menschen am Rand.

Sie stammen aus Deutschland. Warum sind ist Sie eigentlich Priester des Bistums Chur? 

Wolf: Ich kam 1999 für eine psychoanalytische Ausbildung im C. G. Jung Institut in die Schweiz – nach Küsnacht. Ich bin zuerst hin- und her gependelt. Eigentlich war geplant, dass ich danach weiter Vollzeit in der Diözese Limburg arbeite. Es hat sich aber so entwickelt, dass ich ein Angebot von Bischof Amédée Grab annahm. Aus der Übergangszeit wurde eine Vollzeitstelle.

* Karl Wolf (67) ist seit Dezember 2021 Spiritual des Priesterseminars Chur und seit Januar 2022 Domherr. Er ist seit 2003 Pfarradministrator der Pfarrei Küsnacht-Erlenbach und arbeitet zudem als diplomierter Analytischer Psychologe in einer Praxis in Zürich.


Karl Wolf vor der roten Madonna an der Zürcher Langstrasse. | © Vera Rüttimann
22. Mai 2022 | 06:15
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