Kardinal Joseph Ratzinger und Walter Kasper 2004 im Vatikan.
Theologie konkret

Sieg nach Verlängerung: Kardinal Walter Kasper gewinnt den theologischen Match gegen Benedikt XVI.

Kardinal Walter Kasper gilt als einer der grossen Theologen des 20. Jahrhunderts. Vor Jahren verlor er ein intensives theologisches Spiel gegen Joseph Ratzinger, den späteren Papst Benedikt XVI. Jetzt ist Walter 90 Jahre alt und Papst Franziskus lässt ihn diesen Wettstreit doch noch gewinnen.

Hendro Munsterman*

Er stand nicht auf der Liste der Teilnehmer der Bischofssynode, die im Okotber im Vatikan über die Erneuerung der römisch-katholischen Kirche beriet. Dennoch schritt der 90-jährige Kardinal Walter Kasper täglich durch das Vatikantor, an den Schweizer Gardisten vorbei, in die Synodenhalle. Dort sass er in der Halle an einem rechteckigen Tisch in der Nähe des Eingangs. Nicht an einem der runden Tische der Synodenmitglieder, auch nicht unter den Experten. Er hörte einfach zu.

Wer die historische Bedeutung dieses stillen Vorgangs verstehen will, muss ein paar Schritte in die Vergangenheit gehen.

Akademischer Disput mit Joseph Ratzinger

Im Jahr 1999 veröffentlichte Kasper, damals Bischof von Rottenburg-Stuttgart, einen theologischen Artikel, in dem er seinen deutschen Theologenkollegen Joseph Ratzinger scharf kritisierte. Sieben Jahre zuvor hatte Kardinal Ratzinger als Leiter der vatikanischen Glaubenskongregation ein offizielles Dokument veröffentlicht, das Kasper wohl die Haare zu Berge stehen liess. Es entwickelte sich ein zweijähriges theologisches Ping-Pong-Spiel zwischen den beiden prominentesten deutschen Theologen jener Zeit.

Walter Kasper und Hans Küng im Jahr 1973
Walter Kasper und Hans Küng im Jahr 1973

Es folgten nacheinander: eine Erwiderung Ratzingers bei einem Vortrag in Rom (1999), eine Widerlegung der Argumente Ratzingers durch Kasper in der deutschen Jesuitenzeitschrift Stimmen der Zeit (2000), eine Kritik daran durch Ratzinger in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (2000), eine Antwort Kaspers in der amerikanischen Jesuitenzeitschrift America (2001) und eine Erwiderung darauf wiederum durch Ratzinger in der gleichen Zeitschrift.

Deutsche Fehde in Rom

Und als ob das alles nicht schon spektakulär genug wäre, wurde Kasper mitten in diesem Duell vom damaligen Papst Johannes Paul II. nach Rom befördert, um das vatikanische Ministerium für Ökumene zu leiten. So hatte die römisch-katholische Kirche plötzlich zwei sich befehdende Kurienkardinäle.

Ein seltenes Bild aus der Konzilszeit: Joseph Ratzinger (ganz links) und Hans Küng (rechts). Ivo Fürer war beim Konzil als Berater dabei.
Ein seltenes Bild aus der Konzilszeit: Joseph Ratzinger (ganz links) und Hans Küng (rechts). Ivo Fürer war beim Konzil als Berater dabei.

Die theologische Fehde zwischen Ratzinger und Walter drehte sich im Wesentlichen um einen Satz aus dem Dokument von 1992. Darin schrieb Ratzinger, dass die Universalkirche «ontologisch und chronologisch jeder einzelnen Partikularkirche (Ortskirche, die Red.) vorausgeht». Kurz gesagt, die Universalkirche bestimmt die Ortskirchen und nicht umgekehrt.

Universalkirche bestimmt Ortskirche

Ratzinger hatte diese Formulierung bereits zweimal in seinem persönlichen theologischen Werk verwendet. Aber mit dem Antritt der Stelle als Präfekt der Glaubenskongregation wurde seine persönliche theologische Meinung zur offiziellen Kirchenlehre. Und das ging Kasper gegen den Strich.

«Ratzinger denkt neo-platonisch: von oben nach unten»

Ratzinger denkt im theologischen Bereich neo-platonisch «von oben nach unten» denkt – die Ortsdiözesen sind bei ihm eine Art Spiegelung der Weltkirche im Kleinen. Dagegen steht das aristotelische Denken Kaspers, der «von unten nach oben» denkt und sich in seiner Ratzinger-Kritik sehr bewusst auf Thomas von Aquin (das heisst auf die Philosophie Aristoteles) bezieht.

Dezentralisierung

Das Zweite Vatikanum gibt Ratzinger einerseits Recht. Das Konzil hielt 1964 fest: ›Die Teilkirchen sind nach dem Bild der Gesamtkirche gestaltet’. Aber kurz danach heisst es: ›diese eine und einzige katholische Kirche in und aus die Teilkirchen besteht’ (Lumen Gentium 23). Kasper war der Meinung, Ratzinger hätte Lumen Gentium zu einseitig interpretiert und der zweiten Satz so etwas wie vergessen.

Seit dem Zweiten Vatikanum sind Laiinnen und Laien in der katholischen Kirche auf dem Vormarsch.
Seit dem Zweiten Vatikanum sind Laiinnen und Laien in der katholischen Kirche auf dem Vormarsch.

Als Ortsbischof im Jahr 1999 empfand Kasper die zunehmend zentralistischen Eingriffe aus Rom als immer bedrückender. Theologisch hat er in dieser Hinsicht das Zweite Vatikanische Konzil auf seiner Seite. Ratzinger argumentierte aus römischer Sicht, weil er befürchtete, dass zu viel Pluralität und Freiheit für Ortsbischöfe die Einheit der Kirche gefährde.

Konklave

Im Jahr 2005, vier Jahre nachdem die Debatte der beiden Theologen abgeflaut war, wurde Ratzinger zum Papst gewählt. Es schien, als hätte Ratzinger damit den Kampf endgültig gewonnen. Doch die römische Zentralisierung ging während seines Pontifikats nach hinten los. Als Papst hat der deutsche Spitzentheologe die Dinge nicht unter Kontrolle und der Vatikan taumelt von einem Skandal zum nächsten.

«Kirche braucht eine heilsame Dezentralisierung.»

Papst Franziskus

Das Konklave 2013 hat der Debatte um Zentralisierung oder Dezentralisierung eine neue Wendung gegeben. Kardinal Kasper war 80-jährig selbst kein ernsthafter Papstkandidat, aber die Kardinäle wählten jemanden, der seine Ansichten teilte und der als Erzbischof von Buenos Aires ebenfalls unter dem Regulierungseifer Roms gelitten hatte.

Papst Franziskus schrieb kurz nach seinem Amtsantritt in seinem programmatischen Text Evangelii Gaudium über die «heilsame Dezentralisierung», die die Kirche braucht. Es sei «nicht angemessen, dass der Papst den Platz der Ortsbischöfe bei der Beurteilung aller Fragen in ihren Territorien einnimmt».

Sieg nach Verlängerung

Papst Franziskus organisierte die Weltsynode zur Erneuerung der Kirche ganz im Kasper’schen Sinne, nämlich von unten nach oben. Unter seinen beiden Vorgängern wurden die Entscheidungen in Rom getroffen und «nach unten» kommuniziert. Doch Franziskus begann seine Synode 2021 mit dem Hören auf die einfachen Gläubigen. Nur was über nationale und kontinentale Zwischenschritte in Rom angekommen ist, wird von der Bischofssynode diskutiert.

Bei der Weltsynode im Oktober 2023 sassen die Teilnehmenden um runde Tische.
Bei der Weltsynode im Oktober 2023 sassen die Teilnehmenden um runde Tische.

Im Abschlussdokument der ersten Sitzung wird entsprechend davon gesprochen: «Formen der Dezentralisierung zu erkennen und zu fördern». Von der Kirche als «Gemeinschaft von Kirchen» auch. Und von einer römischen Kurie, die «die Ortsbischöfe stärker konsultieren und den Stimmen der Ortskirchen mehr Gehör schenken» soll.

An seinem eckigen Tisch in der Synodenaula dürfte Kasper dies alles mit einer gewissen Genugtuung beobachtet haben. In der Nachspielzeit, während er auf der Bank sitzt und auf den Schlusspfiff wartet, gewinnt er das Spiel doch noch. Dank eines argentinischen Ersatzspielers. (am)

*Hendro Munsterman ist Vatikan-Korrespondent der niederländischen Tageszeitung «Nederlands Daglad». Dieser Artikel erschien zuerst dort: https://www.nd.nl/geloof/katholiek/1199836/deze-oude-duitse-kardinaal-wint-in-reservetijd-van-benedictus#


Kardinal Joseph Ratzinger und Walter Kasper 2004 im Vatikan. | © Romano Siciliani/KNA
19. November 2023 | 09:00
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