Der Dominikaner Marie-Dominique Philippe mit Papst Johannes Paul II.
Schweiz

Seminar in Freiburg, Sex in Paris: Pater Philippe hat sein Doppelleben gut versteckt

Der Freiburger Bischof Charles Morerod bestätigt: Er kennt einen Fall, wonach Pater Marie-Dominique Philippe auch in der Schweiz spirituellen Missbrauch und wohl auch sexuellen betrieben habe. Recherchen im katholischen Milieu Freiburgs zeigen, dass der Dominikaner ein Meister der Vertuschung war. 

Maurice Page, cath.ch / Adaption: Annalena Müller

Im Juni 1945, kurz nach Ende des Zweiten Weltkriegs, berief die Universität Freiburg den erst 33 Jahre alten Dominikaner Marie-Dominique Philippe zum Professor für Philosophie. Diese Position behielt er bis zu seiner Emeritierung im Jahr 1982.

Marie-Dominique Philippe lebte im Albertinum

Bis 1950 war Marie-Dominique Philippe zunächst als ausserordentlicher Professor tätig, danach erhielt er einen eigenen Lehrstuhl. In Freiburg lehrte er Epistemologie und die Geschichte der griechischen Philosophie. 1947 kam das Fach «Elemente der Ästhetik» hinzu, das von 1955 an «Philosophie der Kunst» hiess.

Dominikaner-Niederlassung "Albertinum" in Freiburg.
Dominikaner-Niederlassung "Albertinum" in Freiburg.

Ausserdem lehrte er an verschiedenen Institutionen in Frankreich. In Freiburg war der Dominikaner dem Kloster Albertinum zugewiesen. Dieses wiederum unterstand dem Generalsuperior der Dominikaner in Rom.

An den Wochenenden war er meistens unterwegs

Während des Semesters hielt sich Pater Philippe von Dienstag bis Freitag in Freiburg auf. In dieser Zeit kam er seinen universitären Verpflichtungen nach. Freitags verliess er Freiburg, um nach Paris oder an andere Aufenthaltsorte zu reisen. 

Maria Regli studierte in Freiburg Theologie.
Maria Regli studierte in Freiburg Theologie.

Heute wissen wir, dass er die langen Wochenenden meist mit einer oder mehreren seiner «dirigées» verbrachten – Frauen, die er geistlich begleitete und die Opfer von spirituellem und sexuellem Missbrauch wurden. 

Ohne Kleidung mit Frauen im Bett

Michèle-France Pesneau war eine dieser Frauen. In ihrem Buch «L’Emprise» schreibt sie: «Zu dieser Zeit (1971, Anm. d. Red.) habe ich meine Beziehung zu Pater Marie-Dominique wieder aufgenommen. Ausser im Sommer traf ich ihn ungefähr einmal im Monat in einer Pariser Wohnung.» Dort verbringen sie die Nächte «zusammen ausgestreckt betend (…) mit oder ohne Kleidung, meistens ohne…».

Der Dominikaner-Professor reiste viel. Nach Paris, aber auch zu religiösen Frauengemeinschaften, wo er Exerzitien leitet. Und er hält Vorträge in ganz Frankreich und darüber hinaus. Die Grenzen des Freiburger Albertinums sind für Pater Philippe sehr durchlässig.

«Nichts Aussagekräftiges»

Der Historiker Tangi Cavalin hat das Buch «L’Affaire. Les dominicains face au scandale des frères Philippe» geschrieben. Er verbrachte zusammen mit einem weiteren Forscher zwei Tage im Archiv der Diözese Lausanne, Genf und Freiburg. Dort haben sie nach Spuren von Marie-Dominique Philippe gesucht. Dies bestätigt die Archivarin Nathalie Dupré gegenüber cath.ch.

«Das Dossier zur Universität Freiburg hat nichts Aussagekräftiges geliefert. Dort ist nicht einmal erwähnt, dass Marie-Dominique Philippe 1945 als Professor nach Freiburg kam», sagt Nathalie Dupré.

Freiburg war für die Gemeinschaft St. Jean nicht zuständig

Auch in der Akte «Dominikaner» finden die Historiker keine Hinweise. «Dort sind einige Lob- und Dankesbriefe für die Lehrveranstaltungen von Pater Marie-Dominique zu finden, aber keine Hinweise auf unangemessenes Verhalten»», sagt Nathalie Dupré. «Das kommt bei solchen Fällen recht häufig vor.»

Die Lektüre der Akten über die «Kongregation St. Jean» im Freiburger Diözesanarchiv bleibt ebenfalls ergebnislos. 1975 gründete Marie-Dominique Philippe die Bruderschaft St. Jean zusammen mit einer Gruppe von Studenten in Freiburg. Allerdings hatte die Gruppe nichts mit dem Bistum zu tun. Die Gemeinschaft St. Jean unterstand zunächst der Abtei Lérins im Departement Var und wurde später der Diözese Autun zugeordnet.

Uni Freiburg hat keine Hinweise auf Missbrauch

«Die letzte Freiburger Spur führte die Historiker ins Archiv des Albertinums», sagt Nathalie Dupré. Also in das Kloster, in dem der Dominikaner in Freiburg lebte. Auch hier hätten die Historiker nichts gefunden. «Pater Philippe scheint 1982, als er Freiburg verliess, alle seine Akten mitgenommen zu haben», sagt die Diözesanarchivarin.

Auch im Universitätsarchiv ist nichts zu finden. «Im Rahmen der Ausstrahlung eines Arte-Dokumentarfilms 2019 wurden Informationen über diese Zeit und über allfällige dokumentierte Ereignisse gesammelt», teilte das Rektorat mit.

Schweizer Dominikaner fühlen sich nicht zuständig

«Abgesehen von den üblichen Verwaltungsunterlagen konnten wir jedoch nichts finden. Wir wissen also bis heute nicht, ob die Verurteilung des Vatikans von 1957 den damaligen Instanzen unserer Universität bekannt war oder nicht. Uns sind auch keine Anschuldigungen wegen sexuellen Missbrauchs oder anderen Fehlverhaltens im universitären Umfeld bekannt.»

Auch die Dominikaner in Freiburg geben sich unwissend. Pater Jean-Michel Poffet, ehemaliger Professor an der Universität und ehemaliger Prior, erinnert daran, dass Pater Marie-Dominique Philippe nie der Schweizer Provinz des Ordens angehörte. 

1957 vom Heiligen Offizium verurteilt 

«Während seiner Freiburger Aufenthalte wohnte er im Albertinum. Ich kann mich nicht erinnern, ihn jemals in unserem Kloster St. Hyazinth gesehen zu haben», sagt Jean-Michel Poffet. An der Universität hatte Poffet durchaus mit Philippe zu tun. Von seinem Doppelleben habe er allerdings nichts gewusst: «Philippes vollkommene doktrinäre Orthodoxie gab ihm einen soliden Schutz.»

Im Februar 1957 wurde Pater Philippe durch das Heilige Offizium verurteilt. Zum Prozess kam es, nachdem Denunziationen zu einer Untersuchung geführt hatten. Das Urteil hält fest, die geistliche Begleitung durch Marie-Dominique Philippe sei «zu marianisch und affektiv».

Beichtverbot für Pater Philippe

Das Urteil verbot Marie-Dominique Philippe, die Beichte abzunehmen, Exerzitien zu leiten oder etwas zu lehren, das mit Spiritualität zu tun hat, sagt der Historiker Florian Michel. 

Allerdings erfahren 1957 nur Marie-Dominique Philippe, einige Mitglieder der dominikanischen Generalkurie in Rom und der französische Provinzial von dem Urteil. In Freiburg unterrichtet Marie-Dominique Philippe weiter. Da er nicht Spiritualität, sondern Philosophie lehrt, verstösst er damit auch nicht gegen das Urteil. Auch veröffentlicht er weiterhin zahlreiche Bücher und wahrt so den Schein.

Rehabilitiert im Jahr 1959 

Auf Antrag des Generalsuperiors wird Marie-Dominique Philippe im Juni 1959 von Rom rehabilitiert. Zwar wird er nicht entlastet. Mit der Rehabilitierung erhält er jedoch seine klerikalen Rechte zurück. Rom ermahnt ihn dazu, ein «wahrhaft priesterliches Leben» zu führen. 

Der Historiker Florian Michel vermutet, dass das Pontifikat von Johannes XXIII. und die Ankündigung des Zweiten Vatikanischen Konzils das Heilige Offizium dazu veranlassten, weniger streng mit den Verurteilungen umzugehen.

Ein Professor mit seinem Hofstaat 

Die Freiburger Schwester Marie-Emmanuel erinnert sich an Pater Marie-Dominique Philippe: «Er hielt im Mai 1968 die Predigt bei meiner Exerzitienfeier.» Die ehemalige Generaloberin der Hospitalschwestern in Freiburg erzählt, dass er abends an der Universität Vorträge gehalten habe. Einige ihrer Mitschwestern seien ihm treu ergeben gewesen.

Aber Marie-Emmanuel fand, dass sich der Dominikaner-Professor stets mit einem Gefolge aus «etwas seltsamen Leuten» umgab. Das störte sie. Aber dennoch hat sie nie missbräuchliches Verhalten vermutet. «Wenn die damalige Oberin, Mutter Canisia, auch nur den geringsten Verdacht gehegt hätte, hätte sie ihn nicht eingeladen zu predigen.» 

Missbrauch auch in der Schweiz

Ein ähnliches Unbehagen empfindet auch André Kolly. «Ich besuchte seinen Kurs in Ästhetik, der in jeder Hinsicht bemerkenswert war. Aber ich schätzte weder seinen Stil als Person noch den Clan, der sich um ihn herum bewegte», sagt der ehemalige Direktor des «Centre Catholique de Radio et Télévision». Auch er hegte keinen Verdacht auf Missbrauch.

André Kolly, Präsident von "Cath-Info".
André Kolly, Präsident von "Cath-Info".

Laut dem amtierenden Bischof von Lausanne, Genf und Freiburg, Charles Morerod, hat Pater Philippe jedoch auch in der Schweiz Missbrauch begangen. So habe der Dominikaner-Professor eine Ehefrau spirituell und wohl auch sexuell missbraucht. Das erfuhr Morerod von einem Kind der Ehefrau: «Als Bischof habe ich vom Zeugnis einer Person erfahren. Sie berichtete über den grossen Schaden, den Pater Marie-Dominique Philippe ihren Eltern zugefügt hatte», sagte Morerod zu kath.ch.

Bischof Charles Morerod
Bischof Charles Morerod

«Es handelte sich zweifellos um geistlichen Missbrauch. Und es ist wahrscheinlich, aber nicht sicher, dass dieser Missbrauch sexuelle Beziehungen mit der Ehefrau beinhaltet hatte.»

Totale Verleugnung 

Am 4. Februar 2006, etwas mehr als sechs Monate vor seinem Tod, leugnete Pater Marie-Dominique Philippe (1912–2006) die ihm vorgeworfenen Taten. Er schrieb an den Prior von St. Jean: «Ich möchte sagen, dass das, was mir offen vorgeworfen wird, nicht wahr ist und dass diese Anschuldigungen auf Eifersucht beruhen. (…) Die Gemeinschaft wird durch ein «Meisterwerk» der Vermischung angegriffen, welches die wahren Intensionen der Angeklagten verschleiert, dabei aber die Absichten derjenigen, die sie beschuldigen, enthüllt.» Dann fügte er etwas rätselhaft hinzu: «Das Problem des persönlichen Gewissens ist etwas so Geheimes, dass nur Gott das Recht hat, darüber zu urteilen. Menschen haben nicht das Recht, über Absichten zu urteilen.»

Toxische Familie 

Der Fall Philippe betrifft die beiden Bluts- und Religionsbrüder Thomas und Marie-Dominique Philippe. Thomas Philippe, der zusammen mit Jean Vanier die Arche gegründet hatte, wird im Namen einer fehlgeleiteten Mystik zu einem noch unerbittlicheren Missbrauchstäter als sein Bruder. Auch eine leibliche Schwester der Philippe-Brüder war Teil des Missbrauchskomplexes: Sie soll Nonnen ihres Konventes in die Arme ihres Bruders Thomas getrieben haben. Auch soll sie selbst sexuell mit einigen Nonnen verkehrt und sogar inzestöse Kontakte mit ihrem Bruder Thomas gepflegt haben. (cath.ch/kath.ch)


Der Dominikaner Marie-Dominique Philippe mit Papst Johannes Paul II. | © zVg
17. Februar 2023 | 18:14
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