Jacqueline Keune, Theologin.
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Sehnsucht nach dem Regen aus Segen: Jacqueline Keune zum Jahreswechsel

Die Welt ist aus den Fugen geraten. Mit «Dank an der Kante» blickt die Dichterin Jacqueline Keune ins neue Jahr. Sie dankt Menschen wie der Iranerin Neda Salehi Agha-Soltan, dem Russen Alexei Nawalny oder der Schweizerin-Belarussin Natallia Hersche, die «wie ein Regen aus Segen» sich für eine heiligere Welt einsetzen.

Jacqueline Keune*

Dank an der Kante

Ich danke für alle Gedichte
die sich gegen das Morden stemmen
für alle Reden
die der Unmenschlichkeit ins Wort fallen
für die biblische Geschichte der Hebammen
die sich dem Befehl zum Töten widersetzen
und das Lied der Mirjam
das den Sturz der Throne besingt

Ich danke für alle
die sich mit dem Krieg nicht abfinden
die sich an das Grauen nicht gewöhnen
deren Zorn über die Verbrechen
die aus lachenden Dörfern stumme Ruinen
und aus Menschen Monster machen
nicht nachlässt
Die dem Himmel in den Ohren liegen
– das Blut der Opfer noch warm

Ich danke für alle
die sich zitternd an den Wolf beim Lamm klammern
die sich weigern, die leeren Bäuche mit Hass zu füllen
die ihren Kindern in den Ruinen den Frühling flüstern
und auf den löchrigen Balkonen Blumen säen –
lavendelblau, honiggelb, himbeerrot

Ich danke für alle
die irgendwo auf der Welt auf die Strassen gehen
die ihren Mund aufmachen
die ihre Plakate in die Höhe halten
die sich allein mit ihren Körpern den Panzern in den Weg stellen
und sich die Schleier der Unterdrückung wegreissen
während Gewehre auf sie gerichtet werden

Ich danke für alle die heiligen Zeugnisse
deren Mut mich beschämt und bewegt
Für Sophie und Hans Scholl
für Neda Salehi Agha-Soltan
für Alexei Nawalny
für Natallia Hersche und alle die andern
die hinstehen und bekennen
Wie ein Regen aus Segen ziehen sich ihre Namen durch die Zeit

Ich danke für alle an den Hebeln der Macht
die kaum mehr schlafen können
die sich in ihren Betten wälzen
die inmitten der Nacht zum Telefon greifen
die mit den Tyrannen der Welt keine Höflichkeiten tauschen
sondern sie vor den Kopf stossen

Ich danke für jeden Soldaten und jede Soldatin
die sich die Menschlichkeit durch alles hindurch bewahren
die sich weigern
ihre Geschwister ins Visier zu nehmen
ihre Nachbarn zu erschiessen

Gebt nicht auf!
Der Widerstand verzweigt!
Es kommt der Tag
da gehen die Türen der Kerker auf
da treten die Gezeichneten ins Freie
da legt sich das Recht wie Licht über das Land

* Jacqueline Keune ist freischaffende Theologin und Autorin. (rr)


Jacqueline Keune, Theologin. | © Jutta Vogel
31. Dezember 2022 | 08:27
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