Sr. Agatha Kocher mit Orchideen im Refektorium
Schweiz

Schwestern hauchen Appenzeller Kloster neues Leben ein

Appenzell, 6.10.16 (kath.ch) Mitten im Dorf Appenzell steht das Kapuzinerinnenkloster Maria der Engel. Vor acht Jahren sind die letzten fünf Nonnen ausgezogen. Mit Sr. Agatha Kocher und Ilse Cimander zieht nun nach und nach neues Leben hier ein.

Vera Rüttimann

Ein Osttiroler Tal warb einmal mit dem Satz: «Kommen Sie zu uns – wir haben nichts.» Dass das Nichts eben nicht nichts ist, kann der übernachtende Gast im Kloster Maria der Engel erleben. Der Weg zu den Schlafzellen, in die Ordensfrauen nach einem Tag voller Kontemplation, Andacht und Arbeit über 330 Jahre lang ihr Haupt gelegt haben, geht durch einsame Fluren. Nur das Knarren der Balken ist zu hören. In den kleinen Zellen, die Schwesternamen tragen, ist noch alles da: Bibel, Rosenkranz und Kruzifix. Es gibt keinen Fernseher, nur Stuhl, Tisch und Kommode. Der Gast lässt sich ins weiche Bett fallen und lauscht der Stille.

Neues Leben keimt

Wer das Kloster betritt, der spürt sofort: Hier keimt neues Leben. Der Gast wird in Empfang genommen und durch einen langen Gang zum Speisesaal geführt. Ein grosser Saal mit seiner kostbaren Kassettendecke aus hellem Holz tut sich auf. An der hinteren Wand hängen ein leidender Jesus am Kruzifix, zwei grosse Ölporträts von Franziskus und Clara von Assisi sowie Fotos der letzten drei Päpste. Es riecht nach frischem Kaffee. Auf dem langen Holztisch liegen selbstgemachte Konfitüre, Butter und Brotschnitten. An ihm sitzen Pilger, die hier für eine Nacht ein Bett gefunden haben, und eine Mittvierzigerin, die sich vom stressigen Alltag hier eine Auszeit nimmt. Sie war zuvor noch nie in diesem Kloster.

Nach dreimal Nein doch ein Ja

Am Tisch sitzt auch Sr. Agatha. Die, die mitessen, loben ihre Kochkünste. Die erfahrene Ordensfrau steht für den Neubeginn. Seit Mai 2015 wirkt die sympathische Vorarlbergerin im Kloster Appenzell im Einverständnis mit der Bistumsleitung. Auch sie war beeindruckt von diesem Kloster, das sie vor vier Jahren erstmals betrat. «Ich spürte, das ist ein von Gebeten getragener Ort.» Ihr Weg dahin gleicht einem Zickzackkurs: Von einer Appenzellerin hörte sie, das dieses leer stehende Kloster nach einer neuen geistlichen Nutzung suchte. Für eine Übergangszeit, bis hier wieder eine Gemeinschaft leben kann. Dreimal fragte sie der Stiftungsrat an, dreimal sagte sie nein. «Ich wusste, ich gehöre in mein Kloster im Vorarlberg», sagt sie.

Beim nächsten Mal reiste sie zu einem Vortrag nach Appenzell. Zuvor stellte sich die hellwach wirkende Frau zwei Fragen: Was braucht unsere Zeit? Was passt hierher? Ihr schwebte eine «Oase» vor, wo Menschen mit Depressionen oder Burnout oder Ehekrisen einen Rückzugsort und Hilfe finden können. Deshalb stellte sie an einem Vortrag die Hagiotherapie vor, die, so ist sie überzeugt, gut an diesen Ort passe. Das Thema kam nicht nur beim Stiftungsrat gut an. Die promovierte Medizinerin behandelt im Kloster bereits Hilfesuchende mit dieser jungen Therapieform. Darunter sind Suchtkranke und Menschen in Lebenskrisen. Hagiotherapie bedeute Heilung der heiligen Bereiche im Menschen. Die Ordensfrau sagt: «Der Mensch wird in der Bibel als tiefe Einheit von Körper, Psyche und Geist gesehen. Je wissenschaftlicher die Medizin wurde, desto mehr hat sie die geistliche Dimension vernachlässigt. Heutzutage merkt man aber wieder, dass man sie braucht.»

Der innere Kreis

Motiviert macht sich Sr. Agatha daran, das Klosterleben neu aufzubauen. Schon als Sennerin alleine auf der Alp hat sie früher Stärke bewiesen. Nun macht sich die 55-Jährige auf die Suche nach Mitschwestern mit Pioniergeist. Eine grosse Herausforderung, wie sie weiss. «Feste Strukturen wären bequemer. Aber dieser Ort befindet sich in einem Prozess. Deshalb braucht es hier Menschen, die sich darauf einlassen und mitgestalten wollen.» Neben einem äusseren Kreis von Frauen, die hier für eine begrenzte Zeit spirituelle Erfahrungen machen möchten, hat Sr. Agatha in Ilse Cimander bereits seit Januar 2016 ein «Gespänli», wie die Appenzeller liebevoll sagen, für den «inneren Kreis» gefunden.

Die gebürtige Bayerin war letzten Sommer erstmals hier und war beeindruckt von diesem Ort. Sie erinnert sich: «Ich fuhr jedoch wieder zurück nach Hause, aber mich hat dieser Ort nicht mehr losgelassen.» Nach mehreren Besuchen kündete sie im Dezember 2015 zu Hause ihren Job und begann im Kloster Appenzell ein neues Leben. «Ich suchte nach einem Ort, wo ich mein geistliches Leben führen kann», beschreibt sie ihre Motivation. Im Nachbarort arbeitet sie nun teilzeit als Alterspflegerin.

«Eine besinnliche Atmosphäre»

Ilse steht bei Tagesanbruch auf, schlüpft in ihre Kleider und macht sich auf den Weg zur Vigil. Bald dringt die hohe Stimme von Sr. Agatha aus der Klosterkirche hinaus auf die Felder, wohin die ersten Bauern ihr Vieh führen. Beim Mittagsgebet sowie bei Vesper und Komplet am Abend bleibt die lärmende Welt für Augenblicke draussen. Dem Gast gehen Szenen des preisgekrönten Dokumentarfilms «Die grosse Stille» durch den Kopf. Wenn abends alle betend vor der Monstranz knien, verdichtet sich die Essenz dieses Ortes. Ilse sagt beim Verlassen des Raumes: «Man spürt, dass hier gebetet wurde. Hier drin herrscht eine besinnliche Atmosphäre.»

Am nächsten Morgen sitzen in den Bänken auch auswärtige Gäste, die diesen Ort für sich entdeckt haben. Beim Hinausgehen greifen sie sich einen Flyer. Jeden Freitag ist in der Klosterkirche Rosenkranz, Heilige Messe, stille Anbetung und Segensandacht, abends noch eine generationenübergreifende Gruppe mit Wochendank und Bibelgespräch. Sr. Agatha sagt: «Junge Leute bringen sich musikalisch ein, aber auch mit kritischen Fragen. Ältere Menschen kommen mit ihren wertvollen Lebenserfahrungen – ein sehr fruchtbarer Dialog.» Die Tochter einer Bergbauerfamilie hofft, dass weitere Personen zum inneren Kreis hinzustossen. Es werden wohl Frauen sein, die nicht mehr in ein klassisches Kloster eintreten wollen, aber eine Sehnsucht nach einem gottgeweihten Leben in sich tragen. Sr. Agatha weiss: «Die Motivation zu diesem Schritt kommt heute oft in der Lebensmitte. Sobald sich manche fragen: Ist das jetzt alles?» Im oberen Stock hängt das «wundertätige Kreuz». Dort deponiert sie ihre Bitte für neue Mitschwestern.

Eine Wunde verschorft

Im Dorf beobachtet man mit Wohlwollen die Entwicklung des Klosters. «Wenn ein Kloster stirbt, dann klafft da eine Wunde, eine Leerstelle. Wenn nun von diesem Kloster wieder ein Segen ausgeht, dann ist das wie ein Heilungsprozess.» Sie weiss, dass sie hier ein Wagnis eingeht. «Viele andere Klöster machen fast zu oder gar ganz. Wir starten einen Neuanfang, haben jedoch keine Garantie, dass es gelingt», sagt sie, und blinzelt zuversichtlich in die Sonne. (ft)

Sr. Agatha Kocher mit Orchideen im Refektorium | © Vera Rüttimann
6. Oktober 2016 | 11:34
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