Bild "Rotes Tuch", gemalt von Farida Ahmed-Bioud
International

Schleier verbrennen, Haare abschneiden: Iranerinnen wehren sich gegen die Mullahs

Die Iranerin Mahsa Amini (22) verstösst gegen Kleidervorschriften und wird verhaftet. Drei Tage später stirbt sie im Gefängnis. Seitdem nehmen die Proteste in Iran zu. «Die Mehrheit der iranischen Frauen erfahren den Schleier als Unterdrückung», sagt die Religionswissenschaftlerin Farida Stickel.

Eva Meienberg

Warum müssen Iranerinnen ihr Haar verhüllen?

Farida Stickel*: Die iranischen Frauen müssen laut gesetzlicher Vorschrift ihre Körperformen und ihre Reize verhüllen, um angeblich geschützt zu werden. Dazu gehört neben dem Bedecken der Haare auch das Tragen von langen Oberteilen, die mindestens bis Mitte Oberschenkel reichen müssen.

«Die Mehrheit der iranischen Frauen erfahren den Schleier als Unterdrückung.»

Wer soll vor wem geschützt werden?

Stickel: Es kommt darauf an, wen man fragt. Manche Frauen, aus traditionellen oder religiösen Familien, haben die Schleierpflicht so weit verinnerlicht, dass sie sagen, der Schleier schütze die Frauen vor Belästigungen. Es gibt andere, die sagen, der Schleier schütze den Mann vor den Reizen der Frau. Dieses Männerbild wiederum wird kritisiert. Die Mehrheit der iranischen Frauen erfahren den Schleier als Unterdrückung und Einschränkung ihrer Freiheit. Denn sie können ihre Kleider nicht selbst wählen und müssen einen Schleier tragen, hinter dem sie religiös gar nicht stehen.

Demonstrantinnen für den Hijab im Wallis
Demonstrantinnen für den Hijab im Wallis

Die Bedeutung und Wahrnehmung des Schleiers variiert also?

Stickel: Es kommt zudem auf die Zeit an. Zu Beginn der 1980er-Jahre, während des Iran-Irak-Krieges, sind viele Männer gefallen. Die Frauen mussten viele Aufgaben der Männer übernehmen und waren im öffentlichen Leben präsent. Der Schleier ermöglichte ihnen den Auftritt im öffentlichen Leben und beförderte in einer Weise ihre Autonomie und Emanzipation. Der Schleier war wie die schützenden Wände des Hauses, in dem sich die Frau sonst aufzuhalten hatte.

«Die Frauen haben in Iran den öffentlichen Raum erobert, bewegen sich selbstverständlich darin.»

Und wie ist es heute?

Stickel: Heute ist es ganz anders. Die Frauen haben den öffentlichen Raum erobert, bewegen sich selbstverständlich darin. Sehr viele Frauen sind gut gebildet. Die Mehrheit der Studierenden an den iranischen Universitäten sind Frauen, es gibt mehr Absolventinnen als Absolventen. Die Frauen sind emanzipiert. Der Schleier wird als Einschränkung und Freiheitsbeschneidung wahrgenommen.

Frauen im öffentlichen Raum in Teheran
Frauen im öffentlichen Raum in Teheran

Halten sich denn alle Frauen an die Verschleierungspflicht?

Stickel: Es gibt Phasen, in denen die Frauen die Kleidervorschriften lockerer nehmen, da werden etwa kürzere Oberteile getragen. Dann folgen wieder rigidere Phasen. In den grossen Städten wie Teheran lassen die Frauen den Schleier eher mal runterrutschen und beeilen sich nicht, ihn wieder zu richten. Die Iranerinnen wissen sehr gut, wie sie sich wo verhalten müssen.

«Keine Frau geht ohne Schleier aus dem Haus.»

Im öffentlichen Raum in Iran sieht man also keine Frau ohne Schleier?

Stickel: Nein, keine Frau geht ohne Schleier aus dem Haus. Allerdings gibt es immer wieder Protestaktionen von Frauen, die ohne Schleier über die Strasse laufen, wie man in den sozialen Medien sehen kann.

Unter dem Hashtag #MahsaAmini gibt es in den sozialen Medien eine grosse Welle der Solidarität.
Unter dem Hashtag #MahsaAmini gibt es in den sozialen Medien eine grosse Welle der Solidarität.

Im Fall von Mahsa Amini hat die Sittenpolizei brutal durchgegriffen, die junge Frau ist vermutlich an den Folgen der Polizeigewalt gestorben.

Stickel: Es kommt immer wieder vor, dass die Sittenpolizei in aller Härte durchgreift. Da reichen lackierte Nägel, ein sichtbarer Knöchel, zu kurze Ärmel. Für die Iranerinnen ist diese Willkür und Unsicherheit schwierig. Was heute toleriert wird, kann morgen ein Verstoss sein. Dass Frauen von der Sittenpolizei unter Gewaltanwendung mitgenommen werden, ist nicht aussergewöhnlich.

«Der Tod von Mahsa Amini war der Funke, der zur Explosion führte.»

Wie erklären Sie sich die landesweiten Protestaktionen nach dem Tod von Mahsa Amini?

Stickel: Der Unmut in der Bevölkerung ist riesig. Es hat sich grosse Unzufriedenheit angestaut. Es herrscht eine grosse Perspektivlosigkeit in Iran. Die Inflation ist hoch, die Arbeitslosigkeit ist gross, die persönlichen Freiheiten werden eingeschränkt, Korruption ist an der Tagesordnung. Das ist ein explosiver Mix. Der Tod von Mahsa Amini war der Funke, der zur Explosion führte.

Schleier verbrennen als Protest gegen die Unterdrückung in Iran.
Schleier verbrennen als Protest gegen die Unterdrückung in Iran.

Hat diese Explosion Parallelen zum Beginn des «Arabischen Frühlings»?

Stickel: Ja. Ähnlich ist auch, dass jetzt wieder ins Bewusstsein rückt, wie lange die Menschen schon unzufrieden sind, wie lange der Unmut schon schwelt. Ein Zündfunke genügt dann, um die Menschen auf die Strasse zu bringen.

«Bei den gegenwärtigen Protesten sind die Frauen die treibenden Kräfte.»

Wie unterscheiden sich die Proteste von denen von 2019, nach der Benzinpreiserhöhung?

Stickel: Bei den gegenwärtigen Protesten sind die Frauen die treibenden Kräfte. Die Proteste finden auch in Gegenden statt, die als regimetreu gelten. Neu ist auch die Zunahme von Aktionen in den sozialen Medien, in denen sich die Frauen filmen, wie sie gegen Sicherheitskräfte protestieren und ihren Schleier wegwerfen. Wir sehen, wie sie ihren Schleier verbrennen oder wie sie sich ihre Haare abschneiden.

Unter dem Hashtag #MahsaAmini gibt es in den sozialen Medien eine grosse Welle der Solidarität.
Unter dem Hashtag #MahsaAmini gibt es in den sozialen Medien eine grosse Welle der Solidarität.

Was bedeuten diese Aktionen?

Stickel: Der brennende Schleier ist der Kampf gegen die Unterdrückung. Das Abschneiden der Haare macht grossen Eindruck. Die Frauen schneiden sich die Haare ab, die als weiblicher Reiz gelten und wofür sie schliesslich den Schleier tragen müssen. Es hat auch eine mythologische Komponente. Im iranischen Nationalepos Shahname wird berichtet, wie sich eine Königin nach dem Tod ihres Mannes aus Wut und Trauer die Haare abschneidet.

Initiative «Ja zum Verhüllungsverbot» des Egerkinger Komitees.
Initiative «Ja zum Verhüllungsverbot» des Egerkinger Komitees.

In Iran müssen sich Frauen verhüllen, in der Schweiz soll bald ein Verhüllungsverbot gelten. Sehen Sie Parallelen?

Stickel: Es handelt sich in beiden Fällen um Stellvertreterdebatten. Über die Kleidervorschrift versucht man für Frauen zu bestimmen, wie sie zu leben haben. Es geht dabei immer nur um die Frauen. Es wird ihnen abgesprochen, dass sie selbst wählen können, wie sie sich kleiden und schliesslich leben wollen.

Papst Franziskus begrüsst Ajatollah Alireza Arafi, Leiter der islamischen Seminare im Iran, am 30. Mai 2022 im Vatikan.
Papst Franziskus begrüsst Ajatollah Alireza Arafi, Leiter der islamischen Seminare im Iran, am 30. Mai 2022 im Vatikan.

Glauben Sie, dass sich mit den aktuellen Protesten etwas ändern wird in Iran?

Stickel: In der Vergangenheit hatte ich bei Protesten immer wieder die Hoffnung, es würde sich etwas ändern. Das Regime schlug jedoch jedes Mal die Proteste gewaltsam nieder. Bei den jetzigen Protesten scheint eine neue Dimension erreicht, die Ausmasse sind grösser als zuvor und das Regime wird in irgendeiner Form wohl Zugeständnisse machen müssen. Ich bin zwar nicht sehr optimistisch, hoffe aber natürlich trotzdem auf Veränderung.

* Farida Stickel (42) ist Religionswissenschaftlerin und Geschäftsführerin des Religionswissenschaftlichen Seminars der Universität Zürich. Ihre Forschungsschwerpunkte sind unter anderem die iranische Religionsgeschichte sowie Gender und Islam.


Bild «Rotes Tuch», gemalt von Farida Ahmed-Bioud | © Barbara Ludwig
24. September 2022 | 09:43
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