Misza Czerniak kann jetzt zu seiner Homosexualität stehen.
Porträt

Russisch, orthodox, schwul: Wie Misza zu sich selber fand

Misza Czerniak (37) ist neuer Co-Präsident des europäischen Forums für LGBT-Christen. In Russland haderte er lange Zeit mit einem Outing. Er heiratete eine Frau und bekam eine Tochter. Nach einem psychischen Tiefpunkt beschloss er, nach Polen auszuwandern – und dort ein neues Leben zu beginnen.

Protokoll: Regula Pfeifer

Ich heisse Misza Czerniak und lebe in Warschau, Polen. Ursprünglich bin ich aus Moskau. Ich wuchs in Russland in einer Familie orthodoxer Christen auf. Meine Eltern konvertierte wenige Jahre vor meiner Geburt vom Atheismus zum orthodoxen Christentum. Sie waren in einer Pfarrei aktiv, dessen orthodoxer Priester 1990 ermordet wurde – wegen seiner Arbeit, seinen Predigten, seinem sozialen Dienst. Wahrscheinlich wurde er vom russischen Geheimdienst KGB ermordet.

Ikonen in der serbisch-orthodoxen Kirche «Maria Himmelfahrt» in Zürich
Ikonen in der serbisch-orthodoxen Kirche «Maria Himmelfahrt» in Zürich

Ich war in der Pfarrei aktiv: in Jugendgruppen, im Musikdienst, in Bibelgruppen, in ökumenischen Gruppen. Wir trafen verschiedene kirchliche Gemeinschaften im Westen: etwa die Taizé-Gemeinschaft, katholische charismatische Erneuerungsgruppen, protestantische Kirchen. Diese Offenheit gegenüber der Welt lag an unserem Priester Alexander Men, der dann ermordet wurde.

Schwulsein als einsame Entdeckung

An einem gewissen Punkt in meinem Leben habe ich realisiert, dass ich schwul bin. Das war beängstigend zu merken. Ich war etwa neun oder zehn Jahre alt. Ich merkte, dass ich Buben mochte. Besonders mochte ich einen meiner Klassenkameraden. Das festzustellen, war eine einsame Sache. Denn da gab es absolut niemanden, mit dem ich darüber sprechen konnte.

Tipp vom Priester: Sport soll Homosexualität zum Verschwinden bringen.
Tipp vom Priester: Sport soll Homosexualität zum Verschwinden bringen.

«Der Priester sagte: Treibe Sport, dann geht es vorüber.»

Als ich Teenager war, sprach ich mit einem Priester darüber, der mich gut kannte. Es sagte: Treibe Sport, dann geht es vorüber. Kein Psychologe war bereit, mit mir darüber zu reden. In der Gesellschaft gab es fast kein Vorbild, kein positives Beispiel. Jeder denkt, das sei ein peinliches Thema. Besonders in der Kirche. Da heisst es: Du lebst in Sünde. Etwas ist falsch mit mir. Ich bin ein kranker Mensch.

Mit diesem Verständnis bin ich aufgewachsen. Also outest du dich nicht gegenüber deinen Eltern und auch sonst gegenüber fast niemandem. Deine Sexualität wird sehr ungesund, denn du kannst sie nicht ausleben. Wegen meiner religiösen Erziehung konnte ich mich nicht als schwule Person akzeptieren. Ich erlaubte nur, dass es ab und zu mal geschah, bereute es dann und tat so, als ob es nicht geschehen sei. Ich erlaubte mir nicht, mich zu verlieben, eine ernsthafte Beziehung anzufangen. Nein, es ging nur um Sexualität, und das war nicht gesund für mich. Aber das war die Art, wie ich mir erlaubte zu funktionieren. Und das war zerstörerisch.

Beten mit Bibel
Beten mit Bibel

«Mein einziges Gebetsanliegen war: Gott, rette mich davor.»

Irgendwann – bereits als Teenager – fing ich an zu Gott zu beten: Bitte hilf mir, das loszuwerden. So vergingen 13 Jahre meines Lebens. Ich konnte anderen keinerlei Aufmerksamkeit zuwenden. Mein einziges Gebetsanliegen war: Gott, rette mich davor.

Austausch in Online-Comunity

Dann wurde ich Teil einer russischsprachigen Online-Community von Menschen, die einander anonym dabei unterstützten, darüber hinwegzukommen. Wir lasen ein paar Bücher darüber, wie man Homosexualität überwinden könne. Wir tauschten uns aus, wie es uns bei unserem Überlebenskampf ging.

Dann beschloss ich, einen Therapeuten aufzusuchen. Er sagte mir, er werde mich nicht richtigstellen können. Aber vielleicht könne ich entdecken, dass ich bisexuell sei – und mit einem Mädchen zusammenleben. Und dann wäre es meine Entscheidung, wie ich leben möchte. Das würde mir helfen, gemäss meinem religiösen Glauben zu leben.

Versuche mit Frauen

Also fing ich Beziehungen mit Mädchen an. Schliesslich wurde meine dritte Freundin meine Ehefrau. Sie wusste, dass ich schwul war, dass ich diese Neigung hatte, wie ich es damals nannte. Aber wir beschlossen, dass Gott uns die Gnade geben würde, dies zu bekämpfen. Ich war 19, als ich heiratete. Wäre da nicht meine wunderschöne Tochter, würde ich sagen: Es war ein Fehler, denn das war nicht die beste Art, meine Jugend zu verbringen.

Frau und Mann, Hand in Hand
Frau und Mann, Hand in Hand

Damals lebte ich unter einer enormen Spannung. Ich wollte keinesfalls kollabieren, keineswegs fallen. Doch wenn dein einziger Gedanke ist, das Fallen zu verhindern, fällst du natürlich. Denn das ist kein positives Ziel, nach dem du dein Leben ausrichten kannst.

Tiefpunkt Trennung

Mein Leben mit meiner Frau war schwierig, schliesslich trennten wir uns. Das war ihre Entscheidung. Und ich war niedergeschmettert, befand mich an einem sehr tiefen Punkt. Ich wusste nicht mehr, wie weiter und warum weitermachen. Ich wusste, ich würde es nicht wieder mit einer Frau versuchen. Aber ich konnte mich immer noch nicht als schwulen Menschen akzeptieren.

«Freunde stellten die richtigen Fragen.»

Ich hatte ein paar gute Freunde, die mit mir zu reden begannen. Sie waren nicht homosexuell, sondern gute Christen, die wussten, wie sie mir helfen konnten. Sie stellten die richtigen Fragen. Sie brachten mich auf die einfache Tatsache, dass ich immer die Antwort gewusst hatte, aber nie die Frage gestellt hatte. Ich dachte also, Gott wolle nicht, dass ich schwul sei. Aber ich fragte Gott nie, ob er wollte, dass ich schwul sei oder nicht. Ich kam zum Schluss, dass ich Gott erlauben sollte, mich so leben zu lassen, wie ich bin. Damals war ich 26.

Nach einem Jahr Reflexion beschloss ich, mein Leben zu ändern. Ich zog nach Polen, wo ich viele Freunde hatte – etwa in der katholisch-charismatischen Bewegung. Und die Sprache beherrschte. Auch die Aufenthaltsbewilligung zu erhalten, war dank meinen Verbindungen leicht. In Polen konnte ich mich neu erfinden.

Misza Czerniak in der Paulus Akademie Zürich
Misza Czerniak in der Paulus Akademie Zürich

Kontaktaufnahme zu LGBT-Christen

In Polen begann ich, andere LGBT-Christen zu treffen. Ich schloss mich der polnischen Gruppe «Glauben und Regenbogen» an. Das ist eine gute ökumenische Gruppe aus mehrheitlich katholischen Menschen, aber auch einigen orthodoxen und protestantischen.

Viele Leute dort bringen Verletzungen aus ihren früheren christlichen Gemeinschaften mit. So wurde ich Teil der Bewegung, wurde Mitglied. Über diese polnische Gruppe kam ich zum European Forum.

Offenen orthodoxen Priester gefunden

Gleichzeitig war ich Mitglied einer orthodoxen Gemeinschaft in Warschau, die mein Coming-out akzeptierte und mich vor Angriffen von aussen schützte. Für den Priester war das schwierig, weil wir von aussen angegriffen wurden. Er bat mich, für ein paar Monate nicht zur Kommunion zu gehen. Die Unterstützung durch ihn war ein Privileg und ein Geschenk. Dank dieser Unterstützung kann ich öffentlich unter meinem Namen auftreten.

Misza Czerniak mit Regenbogen-Bändel
Misza Czerniak mit Regenbogen-Bändel

Neuer Co-Präsident der queeren Christen Europas

Seit 2013 ist Misza Czerniak im «European Forum of LGBT Christian Groups» in verschiedenen Rollen aktiv. Bis vor kurzem war er Kassier, am Samstag, 28. Mai, ist er in der Paulus-Akademie Zürich zum Co-Präsidenten gewählt worden. Czerniak ist einer der Engagiertesten unter den Orthodoxen im European Forum. Am Jahrestreffen des European Forum auf einem Schiff in der Nordsee 2014 kam es zum ersten Treffen christlich-orthodoxer Angehöriger der LGBT-Gemeinschaft in Europa. 2015 organisierte Misza Czerniak am Treffen in Finnland einen Workshop für orthodoxe LGBT-Personen. Daraus entstand das Buch «For I am wonderfully made«. Für das Konzil der Orthodoxen Kirche auf Kreta 2016 bereitete die Gruppe einen Offenen Brief vor. Darin beschrieben sie die Schwierigkeiten von LGBT-Menschen in der orthodoxen Kirche – und deren Unterdrückung durch Fundamentalisten. Er sei der einzige orthodoxe Christ gewesen, der den Brief unterschrieben habe, sagt Misza Czerniak. Alle anderen hätten darauf verzichtet – aus Furcht vor schwerwiegenden Konsequenzen. Czerniak wurde online massiv angegriffen. (rp)


Misza Czerniak kann jetzt zu seiner Homosexualität stehen. | © Regula Pfeifer
21. Juni 2022 | 05:00
Lesezeit: ca. 5 Min.
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