Im Bild «Sale ends today» vergleicht Banksy Klageweiber mit Konsumenten.
Theologie konkret

Regula Grünenfelder: «Die Schweiz ist mit ihren wirtschaftlichen Interessen Teil dieses Krieges»

Die «Nord Stream 2 AG» hat ihre Zentrale in Zug. 80 Prozent des russischen Rohstoffhandels werden über die Schweiz abgewickelt. Die Theologin Regula Grünenfelder sagt: «Die Schweiz ist mit ihren wirtschaftlichen Interessen Teil dieses Krieges

Raphael Rauch

Sie kritisieren auf Facebook die Schweizer «Neutralitäts-Strategie». Warum?

Regula Grünenfelder*: 80 Prozent des russischen Rohstoffhandels laufen über die Schweiz. Die Schweiz hat möglicherweise als einziges Land die wirtschaftlichen Mittel, diesen Krieg zu stoppen. Ich bin erschüttert und entsetzt über den Auftritt von Bundespräsident Ignazio Cassis und die Äusserungen von Bundesrat Ueli Maurer. Das ist nicht die Wahrheit. Maurer kann nicht von Neutralität sprechen, ohne die wirtschaftlichen Interessen zu benennen, die zu offensichtlich sind.

Regula Grünenfelder
Regula Grünenfelder

Und jetzt?

Grünenfelder: Die Schweiz ist mit ihren wirtschaftlichen Interessen Teil dieses Krieges. Wie gut, dass die Menschen ihre Betroffenheit äussern und sich einmischen: Mahnwachen halten, zusammen beten, Briefe an den Bundesrat schreiben, mit Parlamentarierinnen und Parlamentariern Kontakt aufnehmen. Demokratie heisst gerade nicht, die Stimme abzugeben und dann ruhig zu sein.

«Protest hilft unserer Regierung auf die Sprünge.»

Bringt Protest etwas?

Grünenfelder: Im Bosnien-Krieg sind in der Schweiz Tausende von Menschen auf die Strasse gegangen. Das nützt auch heute, hilft unserer Regierung auf die Sprünge und ist ein wichtiges Signal an die Menschen in der Ukraine und in Russland, die sich nach Frieden sehnen.

Solidarität mit der Ukraine in Zürich.
Solidarität mit der Ukraine in Zürich.

Was können wir noch tun?

Grünenfelder: Wir sind an diesem Krieg unmittelbar beteiligt als Konsumentin und als Konsument. Mit jedem Lichtschalter, den ich abschalte, mit jedem Pulli, den ich mehr anziehe, tue ich etwas für die Zukunft, in der ich leben will. Wir befinden uns im spätkapitalistischen System, das sich verselbständigt hat. Das Naheliegendste ist also: Das Auto stehen lassen, die Heizung um ein Grad zurückdrehen, Bio-Rüebli aus der Schweiz kaufen statt Spargeln, die jetzt absurderweise in Migros und Coop verkauft werden. Wenn wir unser Handeln in den sozialen Medien teilen, verbreitert sich das Bewusstsein, dass uns wirtschaftliche Abhängigkeiten nicht grenzenlos knechten dürfen. Dass wir nicht alles zulassen dürfen, was kurzfristig Entlastung und Gewinn verspricht, hat sich am Vorabend der Klimakatastrophe inzwischen herumgesprochen.

«Im Bosnien-Krieg haben erst die Berichte von Massenvergewaltigungen den Bann gebrochen.»

Es gibt eine enorme Diskrepanz zwischen Betroffenheit vor dem Fernseher und konkreter Verhaltensänderung. Warum?

Grünenfelder: Es braucht etwas, was den Bann bricht. Die Medien haben ihre Kriegsberichtserstattung von der hellenistischen Kriegsrhetorik geerbt: So viel Distanz zum Schmerz, dass es noch auszuhalten ist, aber doch genug Nähe, dass es für die Erschütterung reicht. In diesem spezifischen Abstand zum Geschehen ist der Mensch wie gebannt und nicht in Kontakt mit den eigenen Möglichkeiten. Im Bosnien-Krieg haben erst die Berichte von Massenvergewaltigungen den Bann gebrochen. Erst nach diesen Berichten sind Frauen und Männer auf die Strasse gegangen gegen den Krieg.

Friedensappell an der Plaza del Carmen in Madrid.
Friedensappell an der Plaza del Carmen in Madrid.

Welchen Beitrag kann die feministische Theologie für die Friedensarbeit leisten?

Grünenfelder: Feministische Theologie ist Friedensarbeit. Es geht darum, Leid zu lindern und den Mut zu haben, anders zu denken und zu handeln. Konflikte enden nicht, wenn Machthaber aus sicherer Position mit ihren Eigeninteressen schachern. Im Tschetschenienkrieg sind die Soldatenmütter Russlands und Tschetscheniens auf dem politischen Parkett ignoriert worden. Genauso geht es afrikanischen Fraueninitiativen, die voller Entsetzen zusehen, wie Warlords an Verhandlungstischen internationale Bedeutung erlangen und Gewinn daraus ziehen, Kriege anzuheizen und zu verlängern. Auch wenn die internationale Gemeinschaft zu Treffen einlädt, müssen diese Frauen bisher draussen bleiben.

«Elend wird gelindert, wenn Frauen Zugang zu Ressourcen erhalten.»

Wäre die Welt friedlicher, wenn mehr Frauen an der Macht wären?

Grünenfelder: Elend wird gelindert, wenn Frauen Zugang zu Ressourcen erhalten. Ich meine hier nicht die Ausnahmefrauen, die es natürlich im Bundesrat und in der Wirtschaft selbstverständlich braucht. Ich meine auch nicht, dass Frauen die besseren Menschen sind. Sondern: Menschen, die für andere Menschen sorgen, dass sie unversehrt leben können, zu essen und ein Dach über dem Kopf haben, müssen eine Stimme bekommen. Nochmals: Die Schweiz ist Teil dieses Krieges, und wenn die Neutralität ernst gemeint ist, dann muss es eine Anstrengung Wert sein, endlich die Erkenntnisse der Friedensforschung aufzugreifen.

«Warten auf die Herrengespräche nach dem Krieg ist nichts, was wir unterstützen sollten.»

Was kommt Ihnen in der aktuellen Diskussion zu kurz?

Grünenfelder: Wie wichtig es ist, die Machtverhältnisse zu reflektieren und die Menschen zu stärken, die Teil der notwendigen Veränderungen sind. Die Kurdinnen und Kurden in Nordsyrien haben nur so lange interessiert, als sie im Politschacher nützlich waren im Kampf gegen den IS. Und jetzt sind Asad und Erdogan dabei, unwidersprochen eine ganze Kultur zu vernichten. Im Tschetschenienkrieg haben die Eingeschlossenen in Grozny an den Radios gehangen und sehnlichst darauf gewartet, dass sich westliche Regierungen zur furchtbaren Invasion Jelzins äussern. Sie haben vergeblich gehofft. Mit bitteren Folgen bis heute. Immer noch herrscht dort Gewalt und aus einem unaufgeregten Islam ist islamistischer Fundamentalismus geworden. Warten auf die Herrengespräche nach dem Krieg ist nichts, was wir unterstützen sollten.

Welche Alternative zum Warten schlagen Sie vor?

Grünenfelder: Mir geht eine Zeile von Mathias Claudius nicht aus dem Kopf. Er hat 1778 gedichtet, obwohl er damals selbst nicht direkt von Krieg betroffen war: «S’ ist Krieg und ich begehre, nicht schuld daran zu sein.» Er hat getan, was er konnte und sein Kriegslied geschrieben. Wir können alle unseren Beitrag leisten. Kirche und Theologie haben dazu noch bedenklich viel Potenzial.

Ein Tweet von Papst Franziskus zitiert die Enzyklika «Fratelli tutti». Konkret: «Jeder Krieg hinterlässt die Welt schlechter, als er sie vorgefunden hat. Krieg ist ein Versagen der Politik und der Menschheit, eine beschämende Kapitulation, eine Niederlage gegenüber den Mächten des Bösen.»

Grünenfelder: Das stimmt. Und jetzt? Es ist eine Zustandsbeschreibung, die in der patriarchalen Ordnung verbleibt und damit nichts bewirkt. Ein Signal wäre: Der Papst und die Patriarchen der Ostkirche sagen: Wir bekennen, dass wir angesichts der Nöte der Menschen kaltherzig die falschen Fragen bewirtschaften, damit viel Leid verursachen und das Leid nicht mindern. Wir steigen aus diesem unheiligen Machtgehabe aus. Und als konkretes, wirksames Zeichen heissen wir ab sofort Frauen mit gleicher Würde und gleichen Rechten willkommen. Wir hören auf mit den Nebenschauplätzen.

Tete-à-tete: Der russische Staatspräsident Wladimir Putin und der russisch-orthodoxe Patriarch Kyrill I.
Tete-à-tete: Der russische Staatspräsident Wladimir Putin und der russisch-orthodoxe Patriarch Kyrill I.

Dieses Signal wird nicht kommen.

Grünenfelder: Das Patriarchat hat Männer gelehrt, sich als unsichtbaren Mittelpunkt des Universums selber zu verschleiern. Feministisches Handeln bedeutet, von sich selber auszugehen, im eigenen Begehren kenntlich zu sein, damit auch Widersprüche zuzulassen und zu reflektieren, um über sich hinauszugehen. Kirchen und Theologie sind noch nicht im Postpatriarchat angekommen und können, solange sich das nicht ändert, kaum zu einer fürsorglichen Welt beitragen.

* Regula Grünenfelder (56) ist feministische Theologin. Sie wurde mit einer neutestamentlichen Arbeit promoviert, die Kriegsrhetorik untersucht und Postulate formuliert, die das Weiterschreiben der Gewalt in Texten unterbrechen: «Frauen an den Krisenherden: eine rhetorisch-politische Deutung des Bellum Judaicum».


Im Bild «Sale ends today» vergleicht Banksy Klageweiber mit Konsumenten. | © Alice Küng
27. Februar 2022 | 05:01
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