Raben verteilen Weggli in Therwil während der Langen Nacht der Kirchen 2023.
Schweiz

Raben an der Tramstation: Gottes Wort geht weg wie warme Weggli

In der Baselbieter Gemeinde Therwil verteilten katholische und reformierte Geistliche während der Langen Nacht der Kirchen an der Tramstation als Raben verkleidet Weggli an die Passanten. Damit verweisen sie niederschwellig auf die Geschichte des Propheten Elias, dem die Raben auf Gottes Geheiss Brot in die Wüste bringen. 

Boris Burkhardt

«Wunderschönes Wochenende. Es ist Lange Nacht der Kirchen», wird Elke Kreiselmeyer nicht müde zu sagen, wenn sie einem Passanten nach dem anderen, die aus den Trams der Linien 10 und 17 aus Richtung Basel am Bahnhof Therwil aussteigen, die Tüte mit dem frischen Weggli und dem Zettel mit den Hashtags und dem QR-Code in die Hand gibt. Kreiselmeyer ist ganz in Schwarz gekleidet und trägt eine ebenso schwarze Opernmaske über den Augen, die mit Federn und einem langen Schnabel einen Raben andeutet.

«Elias und die Raben» ist Thema in Therwil

Manche der Passanten wehren freundlich aber bestimmt ab; manchen steht nach der ersten überraschten Zehntelsekunde ein spontanes Lächeln im Gesicht; und manche bleiben stehen und fragen, um was es geht oder wissen gleich, dass es heute ja die in der lokalen Presse angekündigte Aktion während der Langen Nacht der Kirchen gibt. 

Weggli für die Passanten und Passantinnen in Therwil (BL)
Weggli für die Passanten und Passantinnen in Therwil (BL)

«Elias und die Raben» ist das Thema, das die katholische und die reformierte Kirchgemeinde in Therwil im Baselbiet südlich von Basel gemeinsam für die Lange Nacht der Kirchen am 2. Juni ausgewählt haben. Kreiselmeyer ist gemeinsam mit ihrem Mann Ralf Gemeindeleiterin der katholischen Kirchgemeinde Therwil-Biel-Benken St. Stephan.

Die Bibel ist voller toller Geschichten

Ab 16.30 Uhr haben die beiden mit vier weiteren Hauptamtlichen der beiden Kirchgemeinden bewusst den Feierabendverkehr ausgewählt, um die Therwiler mit dem kleinen Geschenk ganz niederschwellig zu erreichen: So wie Gott dem Propheten Elias laut 1. Kön 17,1-6 die Raben schickte, um ihn mit Brot vor dem Verhungern zu bewahren, wollen sie den Menschen das Wort Gottes mit einem Stück Brötchen überreichen. Sie alle tragen die Rabenmasken, die das katholische Gemeindemitglied Eva-Maria Moog ehrenamtlich gefertigt hat.

Die Raben-Masken hat Eva-Maria Moog gefertigt und der Fichthof hat 500 Weggli gebacken.
Die Raben-Masken hat Eva-Maria Moog gefertigt und der Fichthof hat 500 Weggli gebacken.

«Die Bibel ist voll von tollen Geschichten; aber diese steht besonders für die ‹Caring Comunity›, die wir ins Bewusstsein rufen wollen», erklärt die reformierte Pfarrerin Cristina Policante die Wahl. Zusammen mit der katholischen Katechetin Silvia Sahli steht sie am nördlichen Ende der Tramhaltestelle vor der Postfiliale.

Das Modell der «Caring Comunity»

Bei der «Caring Comunity» handle es sich um ein wissenschaftliches Modell und eine gesellschaftliche Haltung, erklärt Policante weiter, «die als Reaktion auf die zunehmende Individualisierung unserer Gesellschaft die solidarische Gesellschaft, in der Menschen füreinander da sind, stärken will». Die «Caring Community» sei kein rein kirchliches Konzept; es gebe an verschiedenen Orten bereits konkrete Netzwerke aus der säkularen Gesellschaft heraus. «Die Geschichte von Elia ist bereits mehrere Tausende Jahre alt und erzählt doch Relevantes für uns heute», findet Policante.

Besonders Sahli wird von vielen Menschen erkannt; sie ist in Therwil aufgewachsen. Der Katholik Bruno Joos findet es «gut, dass die Kirche auf die Leute zugeht». «Ich habe von meiner Wohnung im Hochhaus nebenan gesehen, wie sie sich vorbereitet haben», lässt er wissen. Mit seiner Frau war er schon vergangenes Jahr bei der Langen Nacht der Kirchen in Therwil dabei, als es theologische Gespräche an der Feuerschale gab.

Fichtenhof in Therwil hat 500 Weggli gebacken

Auch Silvia Hägeli läuft den Sahli und Policante in die Arme: Sie gehört zum Fichtenhof in Therwil, der die 500 Weggli für die Aktion gebacken hat – der Name auf der Tüte sorgt hat bei einigen Passanten ein freudvollen Wiedererkennungswert. Der reformierte Hans Berweger entschuldigt sich, dass er sonntags immer etwas vorhabe, versichert aber: «Ich gehöre dazu!»

Auch der Tramfahrer bekommt ein Weggli.
Auch der Tramfahrer bekommt ein Weggli.

«Wir wollen den Menschen ein Zeichen mitgeben: Wir sind für Euch da», erklärt Policante, warum man sich dieses Jahr nicht für lange Gespräche in gemütlicher Atmosphäre entschieden habe: «Wir wollen die Menschen nicht vereinnahmen und den ganzen Raum einnehmen. Vielleicht ist die Aktion ja aber der Startpunkt für ein Gespräch zu einem späteren Zeitpunkt.»

Weggli finden reissenden Absatz

Am südlichen Ende der Tramstation reicht der reformierte Pfarrer Adrian Moor auch dem Chauffeur eine Tüte durchs Fenster. «Er war ganz fertig von der Wärme in der Fahrerkabine und sagte, er könne die Stärkung jetzt gut gebrauchen», berichtet Moor und lacht: «Ich habe ihm noch eine zweite Tüte gegeben.» Moor bildet mit seiner Kollegin Lea Meier das dritte Zweierteam. Sie ist «überrascht, wie schnell wir die Weggli unter die Menschen bringen».

Auch der zwölfjährige Jonas nimmt eine Tüte von Moor entgegen. Die beiden kennen sich vom Kindernachmittag im Wald. Jonas ist interessiert und fragt, ab welchem Alter er als Helfer am Kindernachmittag dabei sein kann. Die Geschichte von Elias und den Raben kennt er nicht. Aber er verspricht, sich den Link auf dem Zettel in der Tüte anzuschauen.

Elias – eine problematische Bibel-Geschichte

Der QR-Code leitet auf die Homepage der reformierten Kirchgemeinde Oberwil-Therwil-Ettingen weiter, auf der in kurzen Sätzen die Geschichte erzählt wird, begleitet von einem Gemälde des deutschen Priesters und Malers Sieger Köder, für das Kreiselmeyer eigens die Rechte beim Verlag erworben hat, wie sie stolz betont.

«Seit Corona ist Kirche wieder attraktiver»

Ist Elias wirklich eine geeignete Figur, um kirchenferne Menschen für die Bibel zu interessieren? Sein Mord an den 450 Baalspriestern im Auftrag Gottes gehört zu den aus heutiger Sicht problematischsten Bibelstellen und hat Anteil an dem Vorurteil, das Alte Testament kenne nur einen gewalttätigen und rachsüchtigen Gott.

«Kirche wird da wieder attraktiv, wo wir niemanden zu etwas zwingen»

Kreiselmeyer wehrt den Gedanken ab: «Seit 30 Jahren weiss keiner mehr etwas über die Bibel. Also gibt es auch keine Vorurteile mehr.» Regelmässig habe sie Eltern mit in der Vorbereitung auf die Erstkommunion sitzen, die vermutlich das letzte Mal bei ihrer eigenen Feier in der Kirche gewesen seien und denen sie von Grund auf einen Gottesdienst erklären müsse.

Einmal habe ihr ein Vater um die 35 im Armani-Anzug nach der Erstkommunion gesagt, das sei das Schönste, was er je erlebt habe. Solche Erlebnisse habe sie in den vergangenen Jahren sehr viele, vor allem seit Corona, sagt Kreiselmeyer: «Kirche wird da wieder attraktiv, wo wir niemanden zu etwas zwingen. Das ist unser Leitbild in St. Stephan.»

Menschen sind zu Tränen gerührt

Offensichtlich rührt Kreiselmeyer viele Menschen zu Freudentränen. Auch eine Frau in der Tram, der sie eine Tüte zuwirft, habe Tränen in den Augen gehabt und als Dank die Finger zu einem Herzen geformt, berichtet sie. «Die Maske hilft total, auf beiden Seiten Hemmungen abzubauen und sich zu begegnen», freut sich Kreiselmeyer.

Es wird auch viel gelacht in Therwil (BL)
Es wird auch viel gelacht in Therwil (BL)

Als gerade kein Tram im Bahnhof steht, erkennt sie auf der anderen Seite den jungen Lektor ihrer Gemeinde um die 20, dem sie ebenfalls eine Tüte zuwirft. Er fragt erfreut nach dem Grund für das Geschenk. Auf Kreiselmeyers Seite der Tramstation rufen dem Lektor zwei Gleichaltrige einen Gruss zu und heben ihre Tüten sichtbar in die Luft.   

Um 18 Uhr sind alle Weggli verschenkt

Das nächste Tram, das einfährt, macht deutlich früher langsam; der Chauffeur streckt die Hand aus dem Fenster: Er habe die Aktion auf dem Hinweg auf dem anderen Bahnsteig mitbekommen und nun gewartet, bis er wieder zurückgekommen sei. Lachend reicht ihm Moor eine Tüte.

Der Tramchauffeur hat Glück gehabt: Es ist eine der letzten Tüten. Um 18 Uhr, eine Stunde früher als geplant, ist die Aktion beendet; alle 500 Weggli sind verschenkt. Elke Kreiselmeyer ist voller Enthusiasmus: «Das war wirklich schön, viel besser als erwartet.»  


Raben verteilen Weggli in Therwil während der Langen Nacht der Kirchen 2023. | © Boris Burkhardt
3. Juni 2023 | 12:00
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