Chanukka-Leuchter
Theologie konkret

Rabbiner in Kiew: «Chanukka bedeutet: Das Licht ist stärker als die Dunkelheit»

Heute Abend beginnt Chanukka. Jüdinnen und Juden in der Ukraine verbinden das Lichterfest mit der Sehnsucht nach Frieden. Kerzen sind in Zeiten des Krieges ein rares Gut. Nicht alle könnten dieses Jahr Chanukka-Kerzen anzünden, sagt der Rabbiner von Kiew, Jonathan Markovitch: «Wir tragen Chanukka-Kerzen in unseren Herzen.»

Raphael Rauch

Was bedeutet Ihnen Chanukka in Zeiten des Krieges?

Rabbiner Jonathan Markovitch*: In diesem Jahr bedeutet uns Chanukka mehr als sonst. Wir leben mitten im Krieg. Chanukka erinnert an den Sieg des jüdischen Volkes. Wir Jüdinnen und Juden in der Ukraine möchten in Freiheit leben und beten für einen Sieg der Ukraine.

Rabbiner Jonathan Markovitch
Rabbiner Jonathan Markovitch

Wie werden Sie Chanukka feiern?

Markovitch: Wir werden Chanukka wie immer mit Kerzen feiern. Das Licht steht für Hoffnung und dafür, dass wir uns gegenseitig helfen. Es geht nicht nur um uns Jüdinnen und Juden, sondern um die ganze Nation. Die ganze Ukraine bildet einen grossen Chanukkaleuchter als Zeichen der Hoffnung. 

Eine jüdische Familie feiert Chanukka.
Eine jüdische Familie feiert Chanukka.

Chanukka erinnert an den Sieg der Jüdinnen und Juden und an die Einweihung des zweiten Tempels. Was wäre, metaphorisch gesprochen, für die Ukraine heute ein zweiter Tempel?

Markovitch: Ich möchte nicht über den ersten oder den zweiten Tempel sprechen. In der Ukraine leben wir mitten im Krieg. Unsere Häuser, unsere Synagogen stehen unter Beschuss. Aber wir sind sehr stark. Wir werden nicht zulassen, dass wir zerstört werden. Wir waren in der Vergangenheit stark – und sind es in der Gegenwart und in der Zukunft.

Die Hoffnung auf das himmlische Jerusalem – gemalt von Marc Chagall in der Knesset von Jerusalem.
Die Hoffnung auf das himmlische Jerusalem – gemalt von Marc Chagall in der Knesset von Jerusalem.

Was macht Ihnen Hoffnung?

Markovitch: Unser Glaube an Gott, unser Glaube an die heilige Schrift. Wir sind ein starkes Volk. Wir haben schon viele Krisen durchgestanden und wissen daher: Wir werden gewinnen. Wenn Gott an unserer Seite steht, können wir nicht verlieren.

Rabbiner Jonathan Markovitch
Rabbiner Jonathan Markovitch

Sie sind Enkel von Holocaust-Überlebenden. Macht Ihnen die Überlebensgeschichte Ihrer Familie Hoffnung?

Markovitch: Selbstverständlich! Chanukka steht für den Sieg des jüdischen Volkes über ein riesiges Reich. Das war möglich, weil wir vereint waren und auf Gott vertraut haben. Auch heute stehen die Menschen in der Ukraine zusammen. Wir sind ein Volk und werden unseren Feind besiegen.

Im Krieg gibt’s Mangelware. Ist Chanukka eine logistische Herausforderung?

Markovitch: Wir haben mit Lieferengpässen zu kämpfen. Kerzen sind sehr, sehr teuer. Und auch die Lebensmittelpreise sind sehr hoch. Wir haben oft keinen Strom, kein Wasser. Nicht alle können Kerzen zuhause anzünden. Aber wir tragen Chanukka-Kerzen in unseren Herzen, in unserer Seele. Und wir haben Kerzen in unseren Synagogen. Ich lade alle ein, mit uns zusammen Kerzen anzuzünden – in den Synagogen oder mitten auf den Strassen.

An Chanukka gibt's Sufganiot – Krapfen.
An Chanukka gibt's Sufganiot – Krapfen.

Isst man in der Ukraine an Chanukka Sufganiot, also Krapfen, oder Latkes, Kartoffelpuffer?

Markovitch: Wir werden dieses Jahr Latkes essen. Sufganiot können wir uns nicht leisten. Die Krapfen in Öl zu baden, kostet viel Energie. Und Energie ist in Kriegszeiten sehr, sehr knapp.

Was bedeutet das Lichterfest Chanukka in einer Zeit, wo es öfter dunkel ist – weil Putin den Energiehahn blockiert?

Markovitch: Es mag dunkel sein – dafür brennen die Lichter in unseren Herzen und in unserer Seele. Chanukka ist ein Fest der Hoffnung. Nicht nur für uns Jüdinnen und Juden und nicht nur für die Menschen in der Ukraine, sondern für alle Menschen auf der Welt. Wir erleben in der Ukraine gerade einen Alptraum. Aber Tragödien gibt es auch in anderen Ländern. Chanukka bedeutet: Das Licht ist stärker als die Dunkelheit.

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj

Präsident Wolodymyr Selenskyj gilt als starker Leader. Sind Sie stolz, dass er Jude ist?

Markovitch: Ich bin stolz auf Selenskyj, so wie ich stolz auf alle Menschen in der Ukraine bin. Als Rabbiner äussere ich mich nicht zu politischen Fragen.

* Der Ukrainer Jonathan Markovitch (55) ist Rabbiner in Kiew und engagiert sich in der Chabad-Bewegung, einer neochassidischen Strömung im Judentum.

Was bedeutet Chanukka?

Kerzen, Kreisel, Reibekuchen und ein «Diener»: Sie gehören untrennbar zum jüdischen Lichterfest Chanukka. Das Fest beginnt an diesem Sonntagabend und endet am 26. Dezember, also am christlichen zweiten Weihnachtstag.

Von Sonnenuntergang bis Mitternacht, solange Kerzen brennen, wird gesungen und gespielt. Beliebt ist das Trendl- oder Dreidelspiel mit einem vierseitigen Kreisel, der vier hebräische Schriftzeichen trägt. Sie ergeben den Spruch: «Ein grosses Wunder geschah hier.» Überdies werden Kinder beschenkt, und es gibt besondere Speisen wie Latkes, eine Art Reibekuchen, und Sufganiot, in Öl gebackenes Spritzgebäck.

Chanukka-Kreisel (Dreidel)
Chanukka-Kreisel (Dreidel)

Chanukka erinnert an die Wiedereinweihung des zweiten jüdischen Tempels 164 vor Christus in Jerusalem durch Judas Makkabäus. Zuvor war das Gotteshaus von syrisch-hellenistischen Eroberern durch «Götzendienst» und griechische Götterstatuen und Symbole entweiht worden. Das Fest erinnert somit auch an den Sieg des jüdischen Volkes über die griechischen Besatzer.

Rund zwei Jahre hatten die Makkabäer gegen die Besatzer gekämpft. Als sie dann den Tempel wieder in Besitz nehmen konnten und die Menora, den traditionellen Leuchter, anzünden wollten, fanden sie lediglich geweihtes Öl für einen Tag vor. Nach einer Legende des Talmud brannte die Menora jedoch acht Tage lang.

In Erinnerung an dieses Wunder wird in Häusern und Synagogen während des Lichterfestes jeden Abend eine neue Kerze am neunarmigen Chanukka-Leuchter entzündet. Die neunte Kerze heisst «Schamasch» (Diener) und wird zum Anzünden der anderen Lichter verwendet. (kna)


Chanukka-Leuchter | © pixabay.com CC0
18. Dezember 2022 | 05:00
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