Jesus (Alexander Klaws) hat Brot für das Abendmahl gekauft. Links ein Kunde (Reiner Calmund) mit Currywurst.
Schweiz

Professorin über «Die Passion»: «Bin überrascht, wie religiös Pop-Songs sind»

Der TV-Sender RTL hat mit Pop-Songs die Passionsgeschichte erzählt. Laut der Exegetin Hildegard Scherer (46) ging es weniger um den politischen Jesus als um zwischenmenschliche Beziehungen: «Auch die Themen Hoffnung, Liebe, Hingabe, der Kampf für das Gute können Systeme verändern.»

Raphael Rauch

War die RTL-«Passion» Kitsch oder Kirche in der Welt von heute?

Hildegard Scherer*: Wer lieber Renaissance-Musik mag, hat die Pop-Songs vielleicht kitschig gefunden. Die Inszenierung hat bewusst auf Emotionen gesetzt und auch im Vorfeld mit der «grössten Geschichte aller Zeiten» geworben. Ich selbst fand die Fernsehsendung vielschichtig und keine Märchenerzählung. Mich hat «Die Passion» als eine, aber nicht die einzig mögliche moderne Interpretation der Passionsgeschichte angesprochen.

Hildegard Scherer
Hildegard Scherer

Was hat Sie besonders angesprochen?

Scherer: RTL ist es gelungen, die biblische Erzählung emotional erfahrbar zu machen. Die Lieder helfen, die Passion auf konkrete Lebenserfahrungen runterzubrechen. Es geht um universale Themen: Liebe, Trauer, Freundschaft, Scheitern, Verrat, Hoffnung. Mich hat überrascht, wie gut Pop-Songs zur Passionsgeschichte passen und wie religiös Pop-Songs sind, die ich im Radio bislang anders wahrgenommen habe.

Jesus und seine Jüngerinnen und Jünger
Jesus und seine Jüngerinnen und Jünger

«Hinterm Horizont geht’s weiter: Plötzlich sind wir mitten beim Thema Transzendenz.»

Zum Beispiel?

Scherer: Am Anfang fährt Jesus mit seinen Jüngerinnen und Jüngern Bus. Sie singen «Ein Hoch auf uns». Es geht um Lebensfreude – und um «einen Tag Unendlichkeit». Zum Abendmahl erklingt Udo Lindenbergs «Hinterm Horizont geht’s weiter». Plötzlich sind wir mitten beim Thema Transzendenz: «Ein neuer Tag.» Die Hoffnung steht im Raum: Gibt es da etwas jenseits der menschlichen Grenzen?

Jesus (Alexander Klaws) hat Brot für das Abendmahl gekauft. Links ein Kunde (Reiner Calmund) mit Currywurst.
Jesus (Alexander Klaws) hat Brot für das Abendmahl gekauft. Links ein Kunde (Reiner Calmund) mit Currywurst.

Der biblische Jesus war ein Systemsprenger, ein Revolutionär. RTL zeigt hingegen einen konventionellen, gut gekleideten, bürgerlichen Jesus. Mutet uns «Die Passion» zu wenig zu?

Scherer: Die Zumutung geschieht nicht in der Show, sondern darin, was wir daraus machen. Thomas Gottschalk hat die Quintessenz des Christentums auf den Punkt gebracht: «Liebe deinen Nächsten wie dich selbst.» Wenn ich das tatsächlich lebe, dann ist das eine Zumutung, die mir viel abverlangt.

Aber was ist aus Jesus, dem politischen Revolutionär geworden?

Scherer: RTL zeigt uns Jesus nicht als Aussteiger. Jesus, der aus dem Betrieb des Vaters aussteigt, herumwandert, besitzlos ist und radikal auf die Gottesherrschaft setzt – diesen Jesus bekommen wir nicht zu sehen. Aber dieser Jesus wurde ja schon in vielen Filmen erzählt – er sieht dann bärtig, ungekämmt und struppig aus. Ich finde es konsequent, dass RTL auf die zwischenmenschlichen Beziehungen setzt. Da fehlt vielleicht der grosse Knall – aber die Haltung, die gezeigt wird, hat trotzdem systemsprengendes Potential. Auch die Themen Hoffnung, Liebe, Hingabe, der Kampf für das Gute können Systeme verändern.

Wo weicht «Die Passion» am stärksten vom biblischen Text ab?

Scherer: Maria, die Mutter Jesu, spielt bei «Die Passion» eine grosse Rolle. In der Bibel kommt sie aber fast nicht vor. Szenen wie Jesus bei den Hohepriestern werden ausgelassen. Dafür gibt es bei «Die Passion» eine intensive Begegnung von Jesus und Judas. Spannend ist auch, dass bei RTL Pontius Pilatus irgendwann Thomas Gottschalk als Erzähler Konkurrenz macht. Pontius Pilatus verlässt seine Rolle und beschreibt plötzlich die Gewalt der Kreuzigung. Das fand ich eine starke Szene: Die unvorstellbare Gewalt der Kreuzigung wird nicht visuell gezeigt, sondern mündlich beschrieben – und wirkt vielleicht gerade deswegen sehr eindringlich.

Jesus (Alexander Klaws, M.) und seine Jünger beim Abendmahl.
Jesus (Alexander Klaws, M.) und seine Jünger beim Abendmahl.

Es waren auch Menschen zu sehen, die ein grosses Kreuz durch Essen tragen und von persönlichen Krisen und Glaubenserlebnissen erzählen. Wie fanden Sie das?

Scherer: Ich fand die Zeugnisse der Menschen sehr mutig. Sie haben sehr persönlich über ihre Glaubenserfahrungen gesprochen. Das hat in einer wertschätzenden Atmosphäre stattgefunden.

Die Jesus-Figur spricht von Pessach – und trotzdem geht’s nicht koscher zu: Es gibt Currywurst, Wurst und Schinken. Stören Sie solche Details?

Scherer: Mir ist nur die Currywurst aufgefallen – typisch Ruhrgebiet. Das passte zur Inszenierung hier am Ort. Es ging ja darum, Jesus möglichst als «einen von uns» zu zeigen, mit dem sich viele identifizieren können. Die Frage bleibt allerdings: Wie müsste das inszeniert werden, dass auch Jüdinnen und Juden sagen würden, «das ist einer von uns»?

«Halt dich an mir fest: Das TV-Publikum kann entscheiden, wie es mit dieser Einladung umgeht.»

«Die Passion» endet mit der Auferstehung: Jesus steht ganz in weiss gekleidet auf einem Hochhaus. Hat Sie das Schlussbild überzeugt?

Scherer: Es ist schwierig, einen Auferstandenen zu zeigen – schliesslich geht es darum, etwas auszudrücken, was man gar nicht darstellen kann. Interessant ist, dass sich die Botschaft des Auferstandenen nicht an den biblischen Ostertexten orientiert, sondern ganz auf den Liedtext setzt: «Halt dich an mir fest.» Das TV-Publikum kann entscheiden, wie es mit dieser Einladung umgeht.

* Hildegard Scherer (46) ist Professorin für Neues Testament an der Universität Duisburg-Essen. Sie war bis Ende März an der Theologischen Hochschule Chur tätig.


Jesus (Alexander Klaws) hat Brot für das Abendmahl gekauft. Links ein Kunde (Reiner Calmund) mit Currywurst. | © RTL
14. April 2022 | 08:26
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