Joël Pralong
Schweiz

Priester Joël Pralong: «Homosexuelle sind keine Bedrohung der Familien»

In seinem vierten Buch über Homosexualität ärgert sich der katholische Priester Joël Pralong über die Moral der Kirche. Sie sei nicht in der Lage, homosensiblen Menschen zuzuhören und mit ihnen zu arbeiten. Unter dem provokativen Titel «Homos, Trans – Gott segnet sie» stellt er sich der Debatte.

Maurice Page, cath.ch

Warum dieses vierte Buch über Homosexualität?

Joël Pralong: Ich beschäftige mich seit 2012 mit diesem Thema, nachdem ich in einem früheren Buch festgestellt hatte, dass ein Viertel der Selbstmorde von Jugendlichen mit Homosexualität in Verbindung stehen. Mein erstes Buch im Jahr 2013 war zwar noch recht zaghaft, brachte aber eine gewisse Resonanz, vor allem weil es ein Priester geschrieben hatte.

«Mein Ziel ist es, Homosexualität von Sünde zu trennen.»

Was ist Ihre Absicht mit diesem neuen Werk?

Pralong: Mein Ziel ist es, Homosexualität von Sünde zu trennen. In diesem Sinne ziehe ich es vor, den Begriff Homo-Sensibilität zu verwenden. Um die Person in den Mittelpunkt zu stellen, wie es Papst Franziskus ausdrücklich fordert. Wenn die einzige Frage die Sexualität ist und die einzige Antwort die Enthaltsamkeit, dann glaube ich, dass wir unser Ziel verfehlen, jeden Menschen bedingungslos aufzunehmen und mit ihm auf den Weg zu Christus zu gehen.

«Ist es die Aufgabe der Kirche zu kontrollieren, was unter der Bettdecke der Menschen passiert?»

Wenn wir uns mit Heterosexuellen treffen, interessieren wir uns für die Menschen und nicht für ihre Sexualität. Warum gehen wir bei Homosexuellen sofort auf ihre Sexualität ein, indem wir uns vergewissern, dass sie keusch sind? Ist es die Aufgabe der Kirche zu kontrollieren, was unter der Bettdecke der Menschen vor sich geht? Es besteht die Gefahr, dass Homosexuelle als «Untermenschen» angesehen werden, die nicht in der Lage sind zu lieben, wie mir einige Jugendliche gesagt haben.

Ein katholischer Priester segnet ein homosexuelles Paar.
Ein katholischer Priester segnet ein homosexuelles Paar.

Die Veröffentlichung von «Fiducia supplicans» Ende 2023 erlaubt nun die Segnung von Homosexuellen.

Pralong: Sie war ein Anstoss für dieses Werk. Ich erhalte viele Bezeugungen und wurde in rund 20 Diözesen in der Schweiz, in Frankreich und in Brasilien eingeladen, um darüber zu sprechen. Ich bin alarmiert darüber, dass junge Menschen, die sich der Kirche anvertrauen, abgewiesen werden mit Antworten wie «Du bist auf dem Weg zur Hölle» oder «Du hast bei uns nichts zu suchen, wenn du nicht keusch bist». Man kann das Leben nicht mit dem Gesetz beantworten! Gott hat nicht auf die Kirche gewartet, um Menschen zu segnen, «Er, der seine Sonne aufgehen lässt über Böse und Gute und Regen fallen lässt über Gerechte und Ungerechte» (Mt 5,45). Segnen bedeutet, anzuerkennen, dass wir alle Kinder Gottes sind und niemand alleiniger Besitzer von Gottes Wohltaten ist.

Das Dokument unterscheidet zwischen dem Segnen von Personen und dem Segnen der Verbindung.

Pralong: Das ist eine kleine kirchliche «Apotheke». Man segnet zwei Personen, die den Herrn bitten, sie zu begleiten, wenn diese Beziehung für sie ausgleichend und menschlicher machend ist. Man kann diese konstruktive Beziehung nicht fortwährend als permanenten Zustand der Todsünde bezeichnen. Indem sie diese Möglichkeit des Segnens anbietet, entscheidet sich die Kirche dafür, Gottes Bote zu sein, der den Menschen «Gutes sagt» und die Beziehungen, die sie eingegangen sind, begleitet.

Joël Pralong
Joël Pralong

«Ich identifiziere mich mit keiner Lobby.»

Haben Sie keine Angst davor, von der Homosexuellen-Lobby vereinnahmt zu werden?

Pralong: Ich identifiziere mich mit keiner Lobby, sondern unterstütze Menschen, die meiner Meinung nach lieben und geliebt werden wollen. In den Diözesen, in denen ich eingeladen werde, spreche ich immer im Rahmen der Familienpastoral. In Anwesenheit eines bischöflichen Delegierten.

In Ihrem Buch werden Homosexuelle und Transgender miteinander in Verbindung gebracht. Besteht da nicht ein Wesensunterschied?

Pralong: Man muss zwischen Homosexuellen und Transpersonen unterscheiden. Ich bin absolut gegen die Gender-Ideologie, die besagt, dass ein Mensch sein Geschlecht aufgrund seiner Empfindungen auswählt. Aber ich empfange die Person, die sich in ihrer Haut als Junge oder Mädchen unwohl fühlt, um ihr zuzuhören und zu helfen, die beste Lösung zu finden, damit sie ihren Weg zum Glück finden kann.

Joël Pralong äussert sich zu seinem Buch – in einem Video des Buchverlags

Manchmal kann diese Suche auch zerstörerisch sein.

Pralong: Ja, manchmal stelle ich fest, dass man zu leichtfertig über eine Geschlechtsumwandlung spricht, da heutzutage alles möglich ist. Das hilft einem Teenager nicht, der sich plötzlich solche Fragen stellt. Dies erfordert eine ernsthafte Anamnese der Situation. Man kann nicht allein aufgrund seiner Subjektivität entscheiden. Unter den Personen, die ihr Geschlecht geändert haben oder zum anderen Geschlecht «überwechseln» wollten, bereuen es einige später, wie Umfragen ergeben haben.

«Man muss sich die Art und Weise ansehen, wie Christus die Menschen begleitet».

Kann man einen Transmann als verkappten Schwulen betrachten?

Pralong: Das hat nichts damit zu tun! Transidentität bezieht sich auf die Frage der Geschlechtsidentität und nicht auf die sexuelle Orientierung. Es ist wichtig, dass wir uns in der Kirche die Zeit nehmen, auf die Erkenntnisse der Humanwissenschaften zu hören, damit es nicht zu einseitigen Antworten kommt! Auch wenn die Kirche die Gender-Ideologie ablehnt, bleibt sie offen für die universitäre Forschung zu «Gender Studies», um das Leiden von Menschen zu hören, deren Körper nicht mit ihrer Geschlechtsidentität übereinstimmt.

Drei Gender-Optionen beim öffentlichen Toilettengang
Drei Gender-Optionen beim öffentlichen Toilettengang

Wenn man diese Ansätze zulässt oder sogar unterstützt, läuft man dann nicht Gefahr, die Ausnahme zur Regel zu machen?

Pralong: Moralische Orientierungspunkte müssen beibehalten werden, dürfen aber nicht der Ausgrenzung dienen. Die Morallehre stellt allgemeine Normen auf, um das Leben der Menschen zu erhellen, ohne sie jedoch zu vereinnahmen. Die Person ist grösser als die Regel, und es gibt Situationen, die zwar ausbalanciert wirken, aber nicht der Regel oder dem moralischen Ideal entsprechen. Man muss sich die Art und Weise ansehen, wie Christus die Menschen begleitet.

«Die Norm bleiben Mann und Frau, der Kern der Familie.»

Kann oder sollte man Homosexualität zu einer sozialen Norm machen?

Pralong: Die Norm bleiben Mann und Frau, der Kern der Familie. Aber es gibt Homosexuelle. Und sie sind weder eine Ablehnung noch eine Bedrohung für die Familien. Man muss nur akzeptieren, dass sie anders sind als andere, aber genauso fähig zu lieben.

Laut dem Katechismus ist die psychische Entstehung von Homosexualität ungeklärt.

Pralong: Grundsätzlich beschäftige ich mich nicht mit Ursachen, sondern mit Tatsachen. Dies, um den Menschen zu helfen, ihre Situation im gegenwärtigen Moment zu leben. Zu wissen, wie es zur Homosexualität kam, mag für manche wichtig sein, aber es wird ihre Orientierung nicht ändern. Ich lehne im Übrigen alle spirituellen Versuche ab, Homosexualität zu «heilen», darunter die berühmten «Konversionstherapien».

Der Katechismus der Katholischen Kirche, das kürzere Kompendium und "Youcat"
Der Katechismus der Katholischen Kirche, das kürzere Kompendium und "Youcat"

Sie stellen die Formulierung des Katechismus der Katholischen Kirche in Frage, in der von «von Natur aus ungeordneten Handlungen» die Rede ist.

Pralong: Diese Formulierung ist sozusagen ein subtiles «Copy-paste» aus einigen völlig aus dem Zusammenhang gerissenen biblischen Texten! Homosexualität wird heute als Persönlichkeit und nicht als Perversion verstanden. Die Bibel spricht von sogenannt widernatürlichen Handlungen, wie etwa einem Ehebruch, die Gottes Plan zu Beginn der Schöpfung widersprächen. Das ist schlichtweg eine absichtliche Weigerung Gott anzuerkennen! Paulus spricht in Römer 1 von Rebellion gegen Gott, die zu einer Unordnung der Natur führt. Und diese sogenannt widernatürlichen Handlungen stehen auf der gleichen Liste wie andere schlechte Neigungen, von denen die meisten nicht sexueller Natur sind (Röm 1,23-32). Homosexualität, so wie wir sie heute verstehen, hat nichts mit irgendeiner Rebellion gegen Gott zu tun.

Unordentlich bedeutet nicht notwendigerweise schlecht?

Pralong: Heute wird Homosexualität nicht mehr aus diesem Blickwinkel betrachtet, sondern aus dem Blickwinkel einer Person, die sich nicht dafür entschieden hat, homosexuell zu sein. Man kann ihr nicht die Etikette «von Natur aus schlecht» anheften. Als Vergleich: Das Zimmer eines Teenagers ist oft unordentlich, aber das bedeutet nicht, dass er ein schlechter oder schuldiger Mensch ist. Homosexualität als «Gräuel» (Levitikus 20,13) zu bezeichnen, ist eine missbräuchliche und inakzeptable Verkürzung. Die Bibel ist keine Waffe, um Menschen in den Selbstmord zu treiben. Bei einem meiner Besuche im Wallis traf ich einen jungen Mann, der sich gerade geoutet hatte und von seiner Mutter zur Antwort bekam: «Was? Und ich habe einen kleinen Schwulen in meinem Bauch getragen!» Dieser junge Mann ist von zu Hause abgehauen.

«Die eigene Homosexualität zu entdecken, bleibt eine Prüfung.»

Im Katechismus steht, Homosexualität sei eine Prüfung. Für andere ist sie im Gegenteil ein Geschenk Gottes.

Pralong: Die eigene Homosexualität zu entdecken, bleibt eine Prüfung, man darf sich da nichts vormachen. Ein junger Mensch hat manchmal grosse Angst, anderen davon zu erzählen, weil er Ablehnung befürchtet. In diesem Sinne fällt es mir schwer, die Reden der Schwulenlobbys zu hören, ich halte mich da raus. Trotz des gesellschaftlichen Wandels und der Gesetze gegen Homophobie bin ich mir nicht so sicher, ob sich die Mentalität wirklich geändert hat. Wer am ehesten in der Lage ist, dies zu ändern, sind die Menschen, die einem Schwulen nahestehen, etwa seine Eltern. Sie haben keine Karikatur vor sich, sondern die Frucht ihrer Liebe. Es bleibt auch eine Prüfung für Menschen, die sich isolieren, ihre Neigung verdrängen oder ein Doppelleben führen.

Laut Katechismus sind «homosexuelle Menschen zur Keuschheit berufen».

Pralong: Keuschheit! Wir kommen immer wieder auf die gleiche Antwort zurück, die jede Diskussion eingrenzt und abriegelt. Man führt Menschen nicht zur Keuschheit, sondern zu Christus. Keuschheit darf weder eine Regel noch eine Drohung sein, sondern sie muss als eine Möglichkeit der Menschwerdung auf dem Weg der Liebe dargestellt werden, für die sich die Person in völliger Freiheit entscheidet oder nicht. Ich erinnere: Keuschheit ist mehr als sexuelle Enthaltsamkeit, sie ist eine Herzensangelegenheit, ein Blick auf den anderen, der ihn nicht ausschliesst.

Die Regenbogenbank steht seit der Pride in Luzern in der Peterskapelle
Die Regenbogenbank steht seit der Pride in Luzern in der Peterskapelle

Wenn ein junger Mensch sich mir anvertrauen kommt, ist er oft schon in einer Beziehung, und ich ermutige ihn immer, auf der Beziehungsebene keusch zu sein: «Sei vorsichtig, beherrsche deine Sinne, auch auf die Gefahr hin, enttäuscht zu werden. Lerne dich kennen, halte Abstand. Halte dein Herz rein.» Das ist etwas anderes, als ihm Enthaltsamkeit aufzuzwingen, ihm zu drohen und ihn in Schuldgefühlen gefangen zu halten.

Aber ich sage ihm nie: «Lass dich gehen, das ist in Ordnung, tu, was du fühlst». Gemeinsam versuchen wir zu verstehen, was es bedeutet, als Homosexueller zu lieben, und wir versuchen, Anhaltspunkte zu finden und Grenzen zu erkennen. Wir verwenden bei heterosexuellen Jugendlichen pädagogische Erkenntnisse über die Phasen der Liebe, Sexualität und Beziehungen. Bei Homosexuellen aber nichts ausser «Sei abstinent!». Das ist ein wenig mager.

Liebe ist nicht nur ein Gefühl, sondern auch eine Wahl und der Ausdruck eines Willens.

Pralong: Man kann von einem schwulen Jungen nicht verlangen, dass er sogenannt natürlicherweise ein Mädchen liebt. Denn den Impuls, der aus seinem Herzen aufsteigt, hat er nicht ausgewählt. Das ist nicht nur eine leidenschaftliche, sondern auch eine spirituelle Angelegenheit. Man kann sich für die Ehe entscheiden, was einige Homosexuelle auch getan haben, aber nach ein paar Jahren explodiert alles. Ich kenne Menschen, die über 70 Jahre alt sind, die sich in dieser Situation befinden und sehr unglücklich sind.

Liebesschlösser
Liebesschlösser

Die letzte Erklärung aus Rom zu moralischen Fragen, «Dignitas infinita», die nach dem Verfassen des Buches veröffentlicht wurde, betont den Unterschied und die Andersartigkeit der Sexualität. Was antworten Sie darauf? 

Pralong: Einige Autoren, insbesondere der «berühmte» Tony Anatrella – ein psychoanalytischer Priester, der heute wegen sexuellen Missbrauchs angeklagt ist -, wollten beweisen, dass es in einer homosexuellen Beziehung keine Andersartigkeit gibt. Seit ich jedoch Erfahrungen mit diesen Situationen gemacht habe, stelle ich fest, dass es durchaus heterosexuelle Paare gibt, in denen das Anderssein nicht existiert.

«Steht in der Beziehung nicht das Gleiche auf dem Spiel?»

Wenn man das zweite Kapitel des Buches Genesis liest, in dem es um die Erschaffung von Mann und Frau geht, befindet man sich in einem angemessenen Gleichgewicht der Andersartigkeit. Ich frage mich, ob man nicht aus derselben Quelle schöpfen könnte, um eine Reflexion über die Andersartigkeit zwischen zwei Personen desselben Geschlechts aufzubauen. Steht in der Beziehung nicht das Gleiche auf dem Spiel? Ist das Risiko, den anderen zu «verschlingen», nicht das gleiche?

Homosexualität steht den Menschen nicht auf der Stirn geschrieben. Wenn das der Fall wäre, wären viele schockiert: «Dieser ausgeglichene, engagierte Mensch mit so viel Verantwortung ist homosexuell!». Ein Blick in den Vatikan genügt.

«Viele Priester sind homosexuell orientiert, und wo ist das Problem?»

Im katholischen Klerus gibt es einen hohen Anteil an Homosexuellen. Sie waren Leiter eines Priesterseminars. Wie sehen Sie diese Situation?

Pralong: Die eigene Menschlichkeit so anzunehmen, wie sie ist, würde Unterdrückung und Beziehungsblockaden vermeiden. Wenn man den Priester an einem Idealbild festhält, führt das zu Unbehagen. Viele Priester sind homo-orientiert, und wo liegt das Problem?

Zuerst die Wahrheit über sich selbst, über das eigene Menschsein, zu erfahren, bevor man sie anderen mitteilt, ist eine Herausforderung. Es geht einfach darum, gut mit sich selbst zu sein, indem man eine frei gewählte Keuschheit und Enthaltsamkeit für den Herrn und den Dienst an den anderen lebt.

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Ich glaube, dass die Berufung zum Priestertum nicht von der Sexualität abhängt, sondern von der Wahl Gottes, die in einer echten und greifbaren menschlichen und spirituellen Reife verkörpert ist. Ein Heterosexueller ist nicht weniger triebgesteuert als ein Homosexueller. Viele leiden darunter, und das ist schade.

Welchen Rat würden Sie der Kirche geben?

Pralong: Die Kirche sollte keine Gelegenheit verpassen, um zu begleiten. Sie sollte einen Kurs für Homosexuelle anbieten, der sich mit der Frage befasst: «Was bedeutet es, zu lieben, wenn man schwul ist?» Es tut mir leid junge Menschen zu sehen, die von der Kirche abgelehnt werden und in einigen «Schwulenghettos» viel besser aufgenommen werden. (cath.ch/Adaption Regula Pfeifer)

Das Buch ist online käuflich.

Autor, Seelsorger und Redner

Joël Pralong ist ausgebildeter Psychiatriepfleger, katholischer Priester und Autor zahlreicher Bücher über Spiritualität und persönliche Entwicklung. Er war unter anderem Leiter eines Priesterseminars und ist nun Kaplan der Basilika Notre-Dame de Valère in Sitten und Redner bei Einkehrtagen und Sitzungen. Er befindet sich regelmässig in der Einsiedelei von Longeborgne oberhalb von Sitten-Bramois VS, wo cath.ch ihn getroffen hat. (cath.ch/rp)


Joël Pralong | © Maurice Page, cath.ch
16. Mai 2024 | 15:32
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