Josef Karber, Pfarrer von Liebfrauen in Zürich
Schweiz

Prix Courage-Kandidat: «Kirche darf keine Grenzen kennen!»

Der Zürcher Pfarrer Josef Karber (59) ist für den Prix Courage des «Beobachters» nominiert, der am 1. November verliehen wird. Er hat eine kranke Armenierin ohne Aufenthaltsbewilligung in der Notwohnung seiner Pfarrei beherbergt und ist dafür von einem Gericht verurteilt worden. Der Priester wundert sich über die Nominierung. Denn Karber erwartet von allen Christen, «so zu handeln» – ziviler Ungehorsam inbegriffen.

Barbara Ludwig

Sie haben eine krebskranke Frau ohne Aufenthaltsbewilligung von 2011 bis 2018 in einer Notwohnung Ihrer Pfarrei beherbergt. Dafür hat Sie der «Beobachter» für den Prix Courage nominiert. Erstaunt Sie das?

Josef Karber: Ja, das erstaunt mich. Denn ich habe gar nichts Besonderes getan – nur das, was mir mein Gewissen und die Botschaft des Evangeliums sagen. Das erwarte ich von jedem Seelsorger.

«Ich habe gar nichts Besonderes getan.»

Bestimmt gibt es andere, die den Preis wirklich verdient haben. Ich aber habe nichts anderes getan, als mein Versprechen einzuhalten, das ich bei der Priesterweihe getätigt habe: Ich habe versprochen, Arme, Kranke und Ausgestossene zu umsorgen und Heimatlosen Heimat zu geben.

Liegt das Erstaunliche darin, dass mit der Nominierung sozusagen eine Handlung für aussergewöhnlich bezeichnet wird, die für Sie selbstverständlich ist?

Karber: Ich bin erstaunt, weil ich von allen Christinnen und Christen erwarte, so zu handeln. Wir Christen müssen darüber diskutieren, ob wir Heimat sein können und wollen für Menschen, die einen Neuanfang wagen, die anderswo keine Chance haben. Es geht darum, die Grenzen zu öffnen. Christen kennen keine Grenzen, sollten keine Grenzen kennen. (mit lauter Stimme) Kirche darf keine Grenzen kennen! Kirche ist Heimat für alle!

Was bedeutet für Sie persönlich die Nominierung?

Karber: Gar nichts. Sie würde mir nur etwas bedeuten, wenn dadurch die Öffentlichkeit auf die Idee käme, ihre Denkweise zu verändern.

«Sie musste von ihren eigenen Verwandten Gewalt erleiden.»

Vor Gericht sagten Sie, wenn Sie der Frau nicht geholfen hätten, wäre sie heute tot. Wieso?

Karber: Eine kontinuierliche medizinische Behandlung der Frau wäre ohne die Unterbringung in der Notwohnung nicht möglich gewesen. Das hätte für sie den sicheren Tod bedeutet. Sie brauchte Ruhe und einen Raum, in dem sie ihr Schicksal verarbeiteten konnte. Die Frau hatte einen Mann, der es nicht gut mit ihr meinte. Sie musste von ihren eigenen Verwandten Gewalt erleiden. Nebst den politischen Wirren war das für sie der Grund, ihre Heimat zu verlassen.

Der Richter am Bezirksgericht Zürich befand, Sie hätten der Frau auch legal helfen können, etwa durch Unterstützung beim Stellen eines Asylgesuches. War das für Sie eine Option?

Karber: Als ich mich entschieden habe, dieser Frau ein Zimmer in unserer Notwohnung zu geben, habe ich mich nicht um ihren Status gekümmert. Wichtig war für mich in diesem Moment: Ein Mensch ist in sehr grosser Not – da muss man helfen, da fragt man nicht nach dem Aufenthaltsstatus!

Später haben Sie jedoch erfahren, dass sich die Frau illegal in der Schweiz aufhielt.

Karber: Ja. Aber ich habe sie nicht versteckt. Und auch sie selbst hat sich nicht versteckt, ist jeden Tag raus gegangen. Sie kam sicher drei Mal pro Woche in unser Pfarrhaus, auf ganz normalem Weg. Ihre Festnahme hat denn auch auf einer Brücke über die Limmat stattgefunden.

«Was nützen tolle Sprüche von der Kanzel, wenn sie keine Umsetzung finden?»

Hätten Sie dem Staat die illegale Anwesenheit der Frau melden müssen, sobald Sie darüber informiert waren?

Karber: Man sagte mir, ich hätte es melden sollen. Ich weiss nicht, was dann geschehen wäre. Auf der einen Seite gibt es das Gesetz mit den vielen Paragraphen, die sich mit dem Aufenthalt von Ausländern beschäftigen. Und auf der anderen Seite ist ein Mensch in grosser Not. Hier kommt dann die Frage Jesu: «Hast du für meine Schwestern und Brüder, die in Not sind, alles getan?» Die Frage hat eine Umkehrung: «Oder hast du es unterlassen?»

«Ich sah einen Menschen in Not, in dem mir Christus begegnet.»

Ich sah einen Menschen in Not, in dem mir Christus begegnet. Da kann ich nicht anders als zu helfen – da darf ich nicht anders. Was nützen die tollen Sprüche, die man jeden Sonntag von der Kanzel loslässt, wenn sie keine Umsetzung finden?

Haben Sie die illegale Anwesenheit nicht gemeldet, weil Sie unsicher darüber waren, ob die Frau dann auch weiter die richtige Hilfe bekommen hätte?

Karber: Ich habe damals überlegt, was mit der medizinischen Behandlung geschieht, wenn man die Frau den Behörden übergibt. Die Behandlung war mir wichtig. Der zivile Ungehorsam hat von mir gefordert, dass ich dieser Frau helfe, weil sie mit ihrer spezifischen Geschichte in unseren formulierten Gesetzen keinen Platz hat. Man hätte sie zurückgeschickt.

Zunächst hatte Sie die Staatsanwaltschaft wegen «Förderung des rechtswidrigen Aufenthalts» zu einer bedingten Geldstrafe und einer Busse verurteilt. Warum haben Sie den Strafbefehl nicht akzeptiert und sind vor Gericht gegangen?

Karber: Das Akzeptieren des Strafbefehls würde bedeuten, dass ich mit der aktuellen Gesetzeslage zufrieden bin. Ich aber halte die gesetzliche Bestimmung, gegen die ich verstossen habe, dem Menschen in Not gegenüber für unwürdig. Den Artikel 116 des Ausländer- und Integrationsgesetzes hätte ich gerne aus dem Gesetz entfernt. Aber nicht nur ich. Es gibt viele, die das wollen.

«Den Artikel 116 des Ausländergesetzes hätte ich gerne aus dem Gesetz entfernt.»

Das Bezirksgericht Zürich hat Sie dann aber doch schuldig gesprochen. Das war im Juni. Haben Sie unterdessen das Urteil weitergezogen?

Karber: Ich habe mit meinen Anwälten darüber gesprochen, ob ich das tun soll. Allerdings habe ich bis zum heutigen Tag das schriftliche Urteil noch nicht erhalten. Deshalb nein. Entscheiden kann ich erst, wenn ich das Urteil analysiert habe.

Es fragt sich natürlich, ob es etwas bringt, das Urteil anzufechten. Aber wenn ich will, dass man diese gesetzliche Bestimmung noch einmal genauer anschaut, muss ich es tun.

Es gibt Menschen, die Sie genau dazu ermuntern wollen. Wie viele Personen sind das?

Karber: Es sind sicher 50.

Was sind das für Leute? Können Sie Namen nennen?

Karber: Nein. Ich mache das grundsätzlich nicht. Ich bin Seelsorger. Alle Menschen, die mir etwas anvertrauen, dürfen sicher sein, dass das bei mir bleibt.

«Uns verbindet, dass wir gemeinsam die Botschaft Jesu leben.»

Es gibt andere Helfer, die für Schlagzeilen sorgen, weil sie von der Justiz belangt wurden. Etwa der freikirchliche Pastor Norbert Valley oder die Flüchtlingshelferin Anni Lanz. Was verbindet Sie mit diesen Menschen?

Karber: Persönlich bin ich diesen Menschen nie begegnet. Aber uns verbindet, dass wir gemeinsam die Botschaft Jesu leben: Menschen in Not beheimaten, Obdachlosen ein Dach über dem Kopf geben.

«Im Pfarrhaus wurde er angenommen fast wie ein Sohn.»

Gibt es ein Schlüsselerlebnis, das Sie dazu motiviert, sich für Migranten einzusetzen?

Karber: Es gibt ein Erlebnis, das schon sehr viele Jahre zurückliegt. Da war ich noch nicht Priester. Da kam ein Junge, elf oder zwölf Jahre alt, in die Schweiz. Zunächst wurde er nur hin- und hergeschoben, fand dann aber Aufnahme in einem Pfarrhaus. Dort wurde er angenommen fast wie ein Sohn. Seine Ausbildung wurde finanziert. Heute ist er ein grossartiger Musiker. Aber das ist er nur, weil es da liebende Menschen gab, die ihn unterstützt haben. So soll es sein.

Sie schildern dieses Erlebnis sehr distanziert, als ob Sie nur davon gehört hätten. Sind Sie dem Knaben nicht selbst begegnet?

Karber: Natürlich habe ich ihn gekannt. Seinen weiteren Weg konnte ich mitverfolgen.


Josef Karber, Pfarrer von Liebfrauen in Zürich | © Barbara Ludwig
28. Oktober 2019 | 12:06
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Josef Karber

Josef Karber, geboren am 26. Februar 1960 in Bayern, ist seit zwölf Jahren Pfarrer von Liebfrauen, der katholischen Hauptpfarrkirche der Stadt Zürich. Karber hat zunächst eine kaufmännische Ausbildung absolviert und dann das Abitur auf dem zweiten Bildungsweg erworben. Er hat in Paderborn, Eichstätt und München katholische Theologie studiert. Seit 1997 lebt der Theologe in der Schweiz. Zunächst wirkte er als Kaplan und Pastoralassistent in Buchs im St. Galler Rheintal. Am 9. Juli 2000 wurde Karber vom damaligen St. Galler Bischof Ivo Fürer zum Priester geweiht. Seine erste Pfarrstelle befand sich im Toggenburg. Dort war er von 2001 bis 2007 Pfarrer von Wildhaus, Stein und Alt St. Johann. 2007 wechselte er nach Zürich (Bistum Chur), wo er Pfarrer von Liebfrauen wurde. (bal)