Thomas Widmer, Politikwissenschaftler an der Universität Zürich
Schweiz

Parlamentswahlen sind nicht der Moment für heikle religiöse Diskussionen

Der Wahlkampf für die eidgenössischen Wahlen ist nicht der Zeitpunkt für heikle religiöse Themen, sagt der Zürcher Politikwissenschaftler Thomas Widmer. Denn die Kandidaten wollten die potentiell gläubigen Wählerinnen und Wähler keinesfalls vergraulen. Dennoch sollten sich Kirchenvertreter öffentlich äussern, auch wenn ihre Meinung irritieren könnte.

Georges Scherrer

Die Diskussion über die Muslime in der Schweiz könnte andeuten, dass das Thema Religion in der Politik an Bedeutung zugenommen hat. Der Zürcher Forscher Thomas Widmer sieht das anders. Er spricht von einer gesellschaftlichen Diversifizierung und einer Vielfalt unterschiedlicher Religionszugehörigkeiten. Zudem gebe es eine stetig wachsende Gruppe von Konfessionslosen.

Religiöse Grundwerte stellen in gewissen politischen Fragen durchaus noch relevante Referenzpunkte dar. Der Wissenschaftler nennt hierzu Themen wie Abtreibung, Ehe für gleichgeschlechtliche Paare oder die Sterbehilfe. Bei anderen politischen Fragen könnten sich die Religionsgemeinschaften deutlich weniger einbringen.

Während des diesjährigen Wahlkampfes dürften jedoch heikle religiöse Themen eher aussen vor gelassen werden: «Die Kandidaten und Kandidatinnen haben kein Interesse daran, sich mit den Kirchen schlecht zu stellen», sagt der Politologe. Sie würden sich vielmehr in der Regel bemühen, eine «freundlich positive Grundhaltung» gegenüber den Kirchen und ihren Mitgliedern einzunehmen. Denn diese seien potenzielle Wähler und Wählerinnen.

Die Bundesratsparteien im Überblick

Das gelte auch für die CVP, die sich zwar in einer gewissen Phase für progressiv-urbane Kreise geöffnet habe, jedoch in letzter Zeit unter dem Präsidium von Gerhard Pfister eher wieder konservativere Werte betone. Ob diese neuerliche Umorientierung die verlorenen Wähler in den CVP-Stammlanden zurückbringen werde, bezweifelt Widmer jedoch.

Ebenfalls hätten die weniger religiös geprägten Parteien, wie die FDP und die SVP, kein Interesse daran, sich im Wahlkampf im religiösen oder kirchlichen Bereich aufs Glatteis zu wagen. «Die Abschaffung der Kirchensteuer, welche Teile der beiden Parteien in den vergangenen Jahren verschiedentlich anstrebten, wird im kommenden Wahlkampf kaum ein Thema sein», sagt darum der Politikwissenschaftler.

Bei der SP sei die Solidarität ein wichtiges Thema. Diese liesse sich durchaus aus der christlichen Nächstenliebe ableiten. Auch aufgrund ihrer Tradition seien religiöse Bezugspunkte in dieser Partei jedoch nicht dominant.

Kritische Stimmen beleben die Diskussion

Umstritten bleibt gemäss Widmer die Frage, inwiefern sich Exponentinnen und Exponenten der Kirchen in politische Diskussionen einbringen sollen. Diese Debatte werde auch kontrovers innerhalb der Landeskirchen geführt. Auf katholischer Seite kritisierten etwa kirchlich-konservative Kreise die Nähe der Landeskirchen zu staatlichen Institutionen und plädierten für eine strikte Trennung von Kirche und Staat.

Andere religiöse Kreise würden sich für eine starke Rolle der Kirchen in der politischen Debatte aussprechen: «Die Kirchen müssen sich einbringen und ihre Positionen in der Politik vertreten.»

Erhebungen am Institut für Politikwissenschaft der Universität Zürich unter der Leitung von Widmer hätten jedoch ergeben, dass die Bevölkerung die Rolle der Landeskirchen nicht unbedingt darin sehe, dass sie sich an politischen Diskussionen beteilige. Die Bevölkerung wünscht sich von den Landeskirchen vielmehr, dass sie sich ihrem «Kerngeschäft» widmen und namentlich für Angebote wie Gottesdienste und Seelsorge besorgt sind.

Widmer ist aber der Auffassung, dass sich die Kirchen und Religionsgemeinschaften durchaus öffentlich äussern sollen, auch wenn ihre Stimmen fallweise als störend oder gar irritierend empfunden würden. Mit ihren Stellungnahmen würden sie zur Vielfalt der politischen Diskussionen beitragen.

Migranten fügen sich in bestehende Parteien ein

In der Schweiz leben heute über 400’000 Muslime. Welchen Einfluss hat diese Gemeinschaft auf die eidgenössischen Wahlen? «Die organisierten muslimischen Glaubensgemeinschaften beschränken sich auf eine relativ kleine Gruppe der Musliminnen und Muslime in der Schweiz», sagt Widmer. Er geht davon aus, dass diese Organisationen über eine zu kleine Reichweite verfügen und zu wenig tragfähig seien, um massgeblichen Einfluss auf den Ausgang der Wahlen auszuüben.

Jedoch weist er auch darauf hin, dass Personen mit muslimischem Hintergrund in der Schweizer Politik durchaus eine Rolle spielen könnten, aber nicht primär wegen ihrer Religion. Derzeit sind sie in der Bundesversammlung aber nicht vertreten, wenn man von der Basler SP-Nationalrätin Sibel Arslan absieht, die Alevitin ist.

Wahlverhalten in den Kantonen unterscheidet sich

Der Zürcher Politikwissenschaftler unterscheidet zudem zwischen individuellen und strukturellen Faktoren, die den Wahlentscheid prägten. Bei letzterem spiele die sozio-demografische Zusammensetzung sowie die traditionelle und aktuelle Bedeutung der Parteien in einem Kanton hinein. Von Kanton zu Kanton gebe es nach wie vor grosse Differenzen. Widmer veranschaulicht diese anhand eines Vergleichs.

Im Wallis spiele die CVP eine ganz andere Rolle als in Zürich. «Im Bergkanton hat die Partei eine starke Tradition, in Zürich ist sie schwach etabliert.» Das verändere auch die Ausgangslage für die Bürgerinnen und Bürger. Die Walliser CVP verfüge über zahlreiche prominente Persönlichkeiten, die im Kanton stark verankert sind; in Zürich habe die CVP hingegen einen deutlich schwereren Stand. Dass im Kanton Wallis der Wähleranteil der CVP höher liege als im Kanton Zürich, habe auch mit dieser strukturellen Ausgangslage zu tun und sei nicht nur darauf zurückzuführen, dass im Kanton Wallis der Anteil der Katholikinnen und Katholiken höher ist.

Eidgenössische Walen sind regionale Wahlen

Auch wenn am 20. Oktober 2019 das nationale Parlament neu bestellt werde, so seien es dennoch regionale Wahlen, die in den Kantonen entschieden werden. Deswegen spielen nicht nur die bundesweiten Thementrends wie Klimawandel und Gleichstellung eine Rolle, sondern auch die je nach Kanton unterschiedlichen strukturellen Faktoren, so Widmer.

Thomas Widmer, Politikwissenschaftler an der Universität Zürich | © Georges Scherrer
20. September 2019 | 10:07
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