Die Heimatkirche von Rutilio Grande in El Paisnal. Das Bild zeigt den 1977 ermordeten Priester.
Schweiz

Oscar Romero sagte über Rutilio Grande: «Er hat mir die Augen geöffnet»

Jesus war für Rutilio Grande ein Revolutionär – mit Konsequenzen für die politische Gegenwart. Heute wird der Jesuit selig gesprochen. Als Märtyrer hat er zur Bekehrung Oscar Romeros beigetragen.

Stephan Leimgruber*

Am 12. März 1977 wurde der Jesuitenpater Rutilio Grande auf offener Strasse in Aguilares (El Salvador) niedergestreckt – im Alter von 49 Jahren. Er war ein Vertreter der eben aufkommenden Befreiungstheologie mit ihrer Spitze gegen die Grossgrundbesitzenden und ein Freund von Bischof Oscar Romero. Pater Grande war in Begleitung von Manuel Solorzano (70), einem Bauer, und Nelson Lemos (15), einem Ministranten. Beide wurden ebenfalls getötet. Die drei waren auf dem Weg zum Gottesdienst und wurden aus dem Hinterhalt von Soldaten der Nationalgarde erschossen. 

Option für die Armen

Man hüllte die drei Leichen in Leintücher und legte sie vor dem Altar der Pfarrkirche nieder. Zu später Stunde traf der neu ernannte Erzbischof Oscar Romero ein und zeigte sich erschüttert über die Tat. Diese drei Märtyrer werden heute selig gesprochen – zusammen mit dem aus Italien stammenden Franziskaner Cosmas Spessotto OFM (1923–1980), der ebenfalls in El Salvador das Martyrium erlitt.

Erzbischof Oscar Romero bei einer Predigt.
Erzbischof Oscar Romero bei einer Predigt.

Hintergrund war die Nachkonzilszeit mit den grossen Synoden der Lateinamerikanischen Bischofskonferenz, die versuchten, die Konzilsbeschlüsse in ihren jeweiligen Kontext zu übersetzen und im Land zu inkulturieren. Angesichts der bitteren Armut der Leute entschlossen sich die Konferenzen für eine dezidierte Option der Kirche für die Armen und auch für eine Option der Kirche für die Jugend. 

Auftraggeber waren die Grossgrundbesitzer

In der Theologie des Volkes galt die traditionelle Frömmigkeit als Ausgangspunkt für die Entfaltung der Gedanken, doch Grande vertauschte den Rosenkranz der Leute mit der Bibel, die fortan vermehrt studiert, meditiert und ins Heute übersetzt werden sollte. In Basisgruppen wurde und wird die Bibel gelesen und direkt auf die soziopolitische Situation übertragen.

Bild von Oscar Romero an Seligsprechung am 23. Mai 2015 in San Salvador.
Bild von Oscar Romero an Seligsprechung am 23. Mai 2015 in San Salvador.

Vorangegangen war dem Kugelhagel eine Protestdemonstration am 13. Februar 1977 mit 6’000 Teilnehmenden, bei der Rutilio Grande sehr mutig predigte mit den Worten: «Es ist gefährlich, in unserer Mitte Christ zu sein. Es ist gefährlich, wahrhaft katholisch zu sein.» In diesem Zusammenhang prangerte er die Ungerechtigkeiten im Lande an und stellte sich vor, Jesus käme wieder. Dann würde Jesus, mutmasste er, auch wieder festgenommen und in den Kerker geworfen werden. Jesus war in seinen Augen ein Revolutionär. Diese Predigt dürfte das Todesurteil über Rutilio Grande besiegelt haben. Auftraggeber waren die Grossgrundbesitzer.

Romero wurde 1980 ermordet

Rutilio Grande trug als Märtyrer zur Bekehrung Romeros bei. Am Tag nach der Ermordung Grandes feierte Erzbischof Oscar Romero Eucharistie, die er unter das Thema stellte: «Es gibt keine grössere Liebe, als wer sein Leben hingibt für seine Freunde» (Joh 15,13). Im Angesicht der drei verstorbenen Christen wurde Romero zutiefst erschüttert. Er rückte von seiner einst kritischen Stellungnahme gegenüber Grande ab und solidarisierte sich mit ihm.

Aus einem eher ängstlichen Bischof wurde ein prophetischer Kämpfer für die Armen. Im Rückblick sagte Romero zu seinem Erlebnis mit den drei Verstorbenen: «Wenn sie ihn für das umgebracht haben, was er getan hat, dann muss ich denselben Weg gehen. Rutilio hat mir die Augen geöffnet.» Romero wurde 1980 ermordet auf seinem Weg zu den Bauern, mit denen er das Leben teilte. 2018 fand seine Heiligsprechung statt.

* Stephan Leimgruber (73) ist emeritierter Professor für Religionspädagogik der Ludwig-Maximilians-Universität München. Er ist Priester des Bistums Basel.


Die Heimatkirche von Rutilio Grande in El Paisnal. Das Bild zeigt den 1977 ermordeten Priester. | © KNA
22. Januar 2022 | 06:20
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