Der ehemalige Bundestagspräsident Norbert Lammert.
Schweiz

Norbert Lammert: Der Übermut der katholischen Kirche regt mich auf

Sein scharfer Intellekt und seine Kommentare waren im Parlament berühmt und berüchtigt. Am Montag kommt der langjährige deutsche Bundestagspräsident Norbert Lammert in die Schweiz. Ein Gespräch über den Begriff «Zeitenwende», warum die Kirche kein Parlament ist – und Fussball.

Raphael Rauch

Was verbindet Sie mit der Schweiz?

Norbert Lammert*: Ich war knapp 40 Jahre im Parlament – und etwa 25 Jahre aktives Mitglied der Fussballmannschaft des Deutschen Bundestages. Es gab und gibt noch immer eine jährliche Europameisterschaft mit den Kollegen aus der Schweiz, Österreich und Finnland. Das erste Turnier, an dem ich teilgenommen habe, war in der Schweiz. Und alle vier Jahre ging’s zur Parlamentarier-EM in die Schweiz – in dieses wunderschöne Land mit seinen famosen Fussballern.

Norbert Lammert bei einem Fussballspiel in der Schweiz.
Norbert Lammert bei einem Fussballspiel in der Schweiz.

Konnten Sie «Das Wunder von Bern» wiederholen?

Lammert: Nein, ich hatte einen legendären Ruf in der deutschen Mannschaft: Ich galt als einer der schnellsten, der aber verlässlich keine Tore schoss. Tatsächlich spielte ich auf einer Position, auf die mich meine eigene Fraktion politisch nie gesetzt hätte: nämlich Rechtsaussen.

Norbert Lammert (Mitte) als Torwart des FC Bundestag vor einem Fussballspiel. 
Norbert Lammert (Mitte) als Torwart des FC Bundestag vor einem Fussballspiel. 

Die Konrad-Adenauer-Stiftung hat 2019 ein Büro in Genf eröffnet. Warum?

Lammert: Uns sind nicht nur die bilateralen Partnerschaften wichtig, sondern auch die multilateralen. Deswegen haben wir vor Jahren ein Büro in New York eröffnet – am Sitz der UNO. Nach dem Fall der Mauer hat die Konrad-Adenauer-Stiftung ihr Büro in Wien geschlossen, dafür aber viele Büros in Osteuropa eröffnet. Inzwischen sind wir auch wieder in Wien vor Ort – wegen Österreich, aber besonders wegen der OECD, der Internationalen Atomenergie-Organisation und den vielen anderen UN-Organisationen. Und aus demselben Grund gibt’s uns nun in Genf: weil der Multilateralismus wichtiger denn je ist.

Papst Franziskus spricht mit Kindern aus der Ukraine während der Audienz am 24. August 2022 im Vatikan.
Papst Franziskus spricht mit Kindern aus der Ukraine während der Audienz am 24. August 2022 im Vatikan.

Sie werden am Montag in Genf über die Folgen des Ukraine-Kriegs auf den Multilateralismus und die Weltordnung sprechen. Erleben wir eine Zeitenwende?

Lammert: Zunächst einmal geht’s bei meinem Genf-Besuch nicht nur um den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine. Ich werde verschiedene Partner treffen, mit denen wir in Genf eng zusammenarbeiten. Dann zur «Zeitenwende»: Ich persönlich finde den Begriff nicht so richtig überzeugend.

Ende und Aufbruch, Tod und Leben in einem Bild: Ein Foto im "Russian Warcrimes House" in Davos.
Ende und Aufbruch, Tod und Leben in einem Bild: Ein Foto im "Russian Warcrimes House" in Davos.

Warum nicht?

Lammert: Der Begriff wird hoffnungslos inflationär verwendet. Richtig ist, dass die jüngere Entwicklung von den allermeisten als Zäsur empfunden wird. Aber was wird heute unter «Zeitenwende» subsumiert? Die demonstrative, auch gewaltsame Verschiebung von existierenden Grenzen in Europa, die Nichtanerkennung der Souveränität existierender Staaten und deren Freiheit, selber darüber zu befinden, ob und welchem Bündnissystem sie angehören wollen: Das alles hat keineswegs am 24. Februar 2022 begonnen, sondern spätestens 2014 bei der Annexion der Krim oder schon 2008 in Georgien.

«Wunschdenken war an die Stelle von Realität getreten.»

Sie waren Präsident des Deutschen Bundestages, als Russland die Krim annektierte. Hätten Sie als Parlamentspräsident damals stärker Ihre Stimme erheben müssen? Hätte das Parlament die Bundesregierung zu einer Kurskorrektur im Umgang mit Moskau zwingen müssen?

Lammert: Aus heutiger Sicht wird diese Frage an alle politischen Institutionen gestellt und alle müssen sich diese Frage auch gefallen lassen: Regierungen, Parlamente, Parteien. Und in unterschiedlichem Ausmass lässt sich für beinahe alle sagen, dass Wunschdenken an die Stelle von Realität getreten war.

Norbert Lammert (links) mit Angela Merkel und Kardinal Reinhard Marx.
Norbert Lammert (links) mit Angela Merkel und Kardinal Reinhard Marx.

Wer trägt die Hauptschuld? Schröder oder Merkel?

Lammert: Für die Beantwortung dieser Frage bin ich kein unbefangener Gesprächspartner. Ich empfehle dringend, solche Fragen den Historikerinnen und Historikern zu überlassen, die sich darüber interessanterweise oft auch nicht einigen können.

«Die Attraktivität des Populismus besteht darin, auf komplizierte Fragen möglichst einfache Antworten zu geben.»

Die AfD kündigt einen heissen Herbst an. Gefährden Inflation und steigende Energiepreise die Demokratie?

Lammert: Ich sehe eine Reihe von Entwicklungen mit Besorgnis oder Betrübnis. Sorge um den Bestand der deutschen Demokratie mache ich mir aber nicht. Trotzdem müssen wir wachsam sein. In Europa erleben wir einen Megatrend des Populismus. In freien Wahlen bringt dieser Menschen in höchste Staatsämter, deren Attraktivität offenkundig darin besteht, auf komplizierte Fragen möglichst einfache Antworten zu geben.

Der russische Präsident Wladimir Putin bei Papst Franziskus, 10. Juni 2015.
Der russische Präsident Wladimir Putin bei Papst Franziskus, 10. Juni 2015.

Papst Franziskus wird immer wieder als möglicher Vermittler zwischen Moskau und Kiew genannt. Könnte der Papst geopolitisch etwas ausrichten – oder geht es hier eher um humanitäre Hilfe?

Lammert: Solange die Kriegsparteien selbst Papst Franziskus nicht als Schlichter oder Friedensstifter anrufen, hat er überhaupt keine operativen Möglichkeiten. Selbst für den Fall, dass er dazu gebeten würde, bleibt die Frage offen, ob überhaupt und mit welchem Erfolg er dazu beitragen kann. Aber ich finde es beachtlich, dass er bereit ist, eine Rolle wahrzunehmen, wenn man sie ihm denn anbieten würde.

Video-Konferenz in Rom im März 2022: Papst Franziskus und Kardinal Kurt Koch mit dem Moskauer Patriarchen Kyrill und Metropolit Hilarion.
Video-Konferenz in Rom im März 2022: Papst Franziskus und Kardinal Kurt Koch mit dem Moskauer Patriarchen Kyrill und Metropolit Hilarion.

Für Mitte September war geplant, dass Papst Franziskus den Moskauer Patriarchen Kyrill in Kasachstan trifft. Kyrill ist ein enger Verbündeter Putins. Inzwischen hat Moskau das Treffen abgesagt. Kann man einen Putin-Freund treffen, ohne falsche Bilder zu produzieren und sich von diesem vereinnahmen zu lassen?

Lammert: Der Papst wird sich dieses Risikos bewusst sein. Er hat vielleicht für sich eine Priorisierung vorgenommen zwischen den «falschen Bildern», wie Sie sagen, und der Hoffnung, in einem persönlichen Dialog Einfluss auf einen für Russland wichtigen und einflussreichen Kirchenführer zu nehmen.

«Die Kirche ist kein Parlament? Das ist so banal wie die umgekehrte Aussage, dass ein Parlament keine Kirche sei.»

Kommen wir zum Synodalen Weg. Papst Franziskus sagt immer wieder, die katholische Kirche sei kein Parlament. Als ehemaliger Parlamentspräsident finden Sie Parlamente gar nicht so schlecht. Was fangen Sie mit Franziskus’ Aussage an?

Lammert: Die Aussage, dass die Kirche kein Parlament sei, ist richtig. Und gleichzeitig ist sie so banal wie die umgekehrte Aussage, dass ein Parlament keine Kirche sei. Natürlich handelt es sich um jeweils bedeutende Institutionen mit unterschiedlichen Aufgaben und Geschäftsbedingungen.

Papst Franziskus begrüsst den DBK-Vorsitzenden Georg Bätzing, Juni 2021.
Papst Franziskus begrüsst den DBK-Vorsitzenden Georg Bätzing, Juni 2021.

Wie also ist Franziskus’ Satz zu verstehen?

Lammert: Wenn gemeint ist, dass innerhalb einer Religionsgemeinschaft, die als Kirche verfasst ist, eine breite Partizipation von Kirchenmitgliedern gar nicht möglich sei, würde ich dem widersprechen. Wenn damit gemeint ist, dass die Willensbildung und die Verbindlichkeit von Orientierungen nicht in gleicher Weise von allgemeinen Mehrheitsentscheidungen abhängig gemacht werden kann, die uns für politische Entscheidungen selbstverständlich erscheinen, dann stimme ich dem selbstverständlich zu.

«Es nicht unbedeutend ist, wenn in Deutschland der Anteil der christlichen Bevölkerung sinkt.»

Die CDU zitiert gerne das Böckenförde-Diktum: «Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann.» Hat dieses Diktum auch dann Bestand, wenn die Mehrheit der Deutschen nicht mehr Mitglied einer Kirche ist?

Lammert: Zunächst einmal hat die Anzahl von Katholiken, Protestanten, Muslimen oder Juden mit dem Böckenforde-Diktum nichts zu tun. Es geht um Prämissen für rechtsstaatlich verfasste Demokratien. Richtig ist aber auch, dass es nicht unbedeutend ist, wenn in Deutschland der Anteil der christlichen Bevölkerung sinkt. Ich erwarte schon, dass das Folgen für eine ganze Reihe von Themen hat.

Nie wieder Krieg: alte und neue Gedächtniskirche Berlin
Nie wieder Krieg: alte und neue Gedächtniskirche Berlin

An welche Themen denken Sie?

Lammert: Der deutsche Staat treibt Kirchensteuern ein – als bezahlte Dienstleistung für die Kirchen. Es macht einen Unterschied, ob die Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger diesen Kirchen angehört oder nicht. Wenn es um die historisch gewachsenen Staatsleistungen geht, also um die Kompensation für die Säkularisierung nach den Napoleonischen Kriegen, dann spielt es eine Rolle, in welchem statistischen, aber auch in welchem geistigen Kontext eine solche Diskussion stattfindet. Und natürlich geht es früher oder später auch um den obligatorischen Religionsunterricht an den Schulen.

«Die Bischofskonferenz kann keine allgemein verbindlichen Beschlüsse für alle Bistümer treffen.»

Was regt Sie am meisten an der katholischen Kirche auf?

Lammert: Der schiere Übermut, sich einem unvermeidlichen Veränderungsbedarf mit häufig wenig überzeugenden Argumenten in den Weg zu stellen. Und an der katholischen Kirche in Deutschland ärgert mich regelmässig, dass zwar die Bischofskonferenz keine allgemein verbindlichen Beschlüsse für alle Bistümer treffen kann, aber das, was manche Bischöfe selbst in Interviews als notwendige Veränderungen formulieren, sie in der eigenen Diözese oft nicht umsetzen.

Benedikt XVI. und Norbert Lammert im Jahr 2011.
Benedikt XVI. und Norbert Lammert im Jahr 2011.

Die Konrad-Adenauer-Stiftung hat eine «Experteninitiative Religionspolitik». Was hat es damit auf sich?

Lammert: Es gibt sicher keine andere politische Stiftung, die historisch und vom Selbstverständnis her eine ähnliche Nähe zu Religions- und Kirchenfragen hat wie wir. Deswegen ist klar, warum wir uns gerade mit diesem Thema beschäftigen. Umgekehrt könnte man sagen: Es ist eher erklärungsbedürftig, warum es nicht schon länger eine solche Initiative gegeben hat. Mittlerweile leben wir in einer multireligiösen Gesellschaft. Zu den Gründungsmitgliedern unserer Experteninitiative Religionspolitik gehören nicht nur prominente Vertreterinnen und Vertreter aus dem katholischen und evangelischen Lager, sowohl Laien wie Kleriker, sondern auch aus dem muslimischen und jüdischen Bereich.

«Ich bin dem Cusanuswerk für viele Anregungen, Orientierungen und Impulse dankbar.»

Sie waren Stipendiat der katholischen Begabtenförderung Cusanuswerk. Was haben Sie hier fürs Leben mitgenommen?

Lammert: So genau weiss man ja nie, an welcher Stelle man was mitgenommen hat: vom Elternhaus, von der Schule, von der Hochschule, von der Studienförderung. Ich habe mich zu Beginn meines Studiums bewusst für das Cusanuswerk und nicht für die Konrad-Adenauer-Stiftung entschieden. Denn neben meinem schon damals sehr ausgeprägten politischen Interesse wollte ich die eigene Auseinandersetzung mit kirchlichen und religiösen Fragen intensivieren. Und das hat mir ganz gutgetan. Jedenfalls bin ich dem Cusanuswerk für viele Anregungen, Orientierungen und Impulse dankbar.

* Der CDU-Politiker Norbert Lammert (73) war von 2005 bis 2017 Präsident des Deutschen Bundestages. Seit 2018 ist er Vorsitzender der Konrad-Adenauer-Stiftung, die auch ein Auslandsbüro in Genf hat

Über die Auswirkungen des Ukrainekriegs auf den Multilateralismus und die globale Ordnung diskutiert Norbert Lammert am Montag, 5. September, um 18 Uhr im «Geneva Center for Security Policy» in Genf – zusammen mit Christoph Heusgen, Vorsitzender der Münchner Sicherheitskonferenz, und Thomas Greminger, Direktor des Geneva Center for Security Policy (GCSP) und ehemaliger Generalsekretär der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE).


Der ehemalige Bundestagspräsident Norbert Lammert. | © KNA
2. September 2022 | 10:36
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