Naturromantik und Demokratiekritik: die Anastasia-Bewegung ist in der Schweiz angekommen

Seit der Pandemie formieren sich auch in der Schweiz immer mehr Menschen, die dem Staat, den Medien oder der Wissenschaft misstrauen und auf alternative Sicht- und Lebensweisen setzen. Die Anastasia-Bewegung holt viele mit ihrer Ökoromantik ab. Doch ihre Ideologie hat massiven Rechtsdrall. Trotzdem wächst die Anastasiabegeisterung auch in der Schweiz.

Natalie Fritz

Am 17. Februar dieses Jahres hätte im basellandschaftlichen Ormalingen in einem Pfadihaus ein dreitägiges Seminar zur «Kraft der Ahnen» stattfinden sollen. Doch dann wurde die Pfadi-Stiftung, die das Haus vermietet, durch Anwohnerinnen und Gemeinde sowie die Presse über die Nähe der Referentin zur Anastasia-Bewegung informiert und löste daraufhin den Mietvertrag auf.

Doch wo genau liegt das Problem bei dieser Anastasia-Bewegung, dass die Pfadi ihr das Bleiberecht entzog? Und um was für eine Art Gruppierung handelt es sich denn überhaupt?

Die mystische Anastasia und ihr Chronist

Anastasia ist eine wunderschöne und unglaublich kluge Frau, die in den Wäldern Sibiriens lebt. Sie ist weissblond, blauäugig (!) und entstammt einem uralten Naturvolk, das vor der Technologisierung der Welt in einem Paradies gelebt hat. In Sibirien trifft der bis dahin unbekannte russische Geschäftsmann Wladimir Nikolaevič Megre auf sie. Er ist derart von Anastasia fasziniert, dass er ihre Lehren niederschreibt. Der Beginn einer unglaublichen Erfolgsgeschichte.

Anastasia. Screenshot der offiziellen Website von «Die klingenden Zedern Russlands».
Anastasia. Screenshot der offiziellen Website von «Die klingenden Zedern Russlands».

Zwischen 1996 und 2010 erscheinen zehn Bände von Megres Romanserie «Die klingenden Zedern Russlands» über die fiktive Anastasia. Bis heute hat Megre laut eigenen Angaben 10 Millionen Bücher verkauft, die Reihe sei in 20 Sprachen übersetzt worden. Auf Deutsch erscheinen die Bücher seit 1999. Mittlerweile gibt in den sozialen Medien unzählige Gruppen, die die Weisheiten Anastasias verkünden und sich gegenseitig Tipps geben.

Wladimir Megre, 12.10.2013.
Wladimir Megre, 12.10.2013.

In der Buchreihe erklärt Anastasia ihrem «Chronisten» Megre die Welt wie sie war, ist und sein könnte. Wieso sie das kann? Megre erklärt im 5. Band der Serie, dass Jesus ein Mensch gewesen sei, und zwar «der ältere Bruder von Anastasia». Anastasia wird in der Reihe immer mehr zur Erlöserfigur stilisiert, kann etwa mit ihren Gedanken die Welt verändern und ohne Worte mit Tieren und Menschen kommunizieren. Dabei bleibt sie aber ein normaler Mensch. Schlussfolgerung: Wer Anastasias Lehren befolgt, ist irgendwann in der Lage, zu können, was sie kann.

Rückzug von der Welt inklusive Privatunterrichts

Doch genau diese Lehren sind heikel und nicht stringent. Der belarussische Theologe und Religionswissenschaftler Vladimir Martinovich hat sich vertieft mit den Anastasia-Büchern auseinandergesetzt. In einem Aufsatz hält er fest, dass Anastasias Lehre eine krude Kombination populärer esoterischer Theorien und parawissenschaftlicher Ideen sei, die Megre lediglich neu arrangiert und emotional aufgeladen habe.

Screenshot der offiziellen Website von «Die klingenden Zedern Russlands».
Screenshot der offiziellen Website von «Die klingenden Zedern Russlands».

Einerseits gibt Anastasia in den Büchern ganz konkret Anleitung zu einem naturverbundenen Leben, andererseits geht damit eine gefährliche Weltsicht einher. So soll sich jede Familie einen Familienlandsitz bauen, der genau ein Hektar beträgt. Welche Büsche und Bäume dort gepflanzt, welche landwirtschaftlichen Produkte angebaut und welche Tiere gehalten werden sollen, das gibt Anastasia in den Büchern genau vor.

Technische Errungenschaften wie fliessendes Wasser oder Strom sind verpönt. Kinder werden zuhause oder in speziellen Schulen unterrichtet. So kann man laut Anastasia dem schlechten Einfluss von Politik, Kirche und Presse entgehen. Das Gesellschaftssystem demokratischer Staaten sei nämlich dekadent und manipulativ.

Screenshot Modell Familienlandsitz.
Screenshot Modell Familienlandsitz.

In der Schweiz sind während der Pandemie unter anderem in Rikon und in Uznach Privatschulen entstanden, die der Anastasia- und anderen völkischen und staatsskeptischen Bewegungen nahestehen. Trotz kritischer Medienberichte haben die zuständigen Behörden bislang die provisorisch erteilten Bewilligungen nicht zurückgezogen.

Familienlandsitz – grün getarnte Blut und Boden-Ideologie?

Die Familienlandsitze sind «das Paradies auf Erden», zugleich spiritueller Rückzugsort und Ausweg aus einer politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Notlage. Der ökologische Grundgedanke einer ressourcensparenden Selbstversorgung kann aber die darunter lauernde, antidemokratische Blut und Boden-Ideologie nur spärlich verdecken. Und da wird Anastasias naturmystische Lehre fruchtbar für rechte Verschwörungstheoretiker und Reichsbürger-nahe Kreise: der Traum von einem autonomen Leben ohne systematische Unterdrückung durch den Staat und fernab von kritischer Presse und Wissenschaft wird im Familienlandsitz konkret.

Screenshot Website Verein Familienlandsitze Schweiz.
Screenshot Website Verein Familienlandsitze Schweiz.

In der Schweiz existiert seit 2015 der Verein Familienlandsitze Schweiz. Wie viele Familienlandsitze es tatsächlich in der Schweiz gibt, ist für Nichteingeweihte nicht ersichtlich.

In Russland existieren je nach Quelle zwischen 230 und 7000 Familienlandsitze. 2016 hatte Wladimir Putin ein Gesetz erlassen, das es Russinnen und Russen erlaubte, in schwach besiedelten Gebieten Russlands für wenig oder gar kein Geld Land zu erhalten und zu bebauen. Eine Win-Win-Situation: Für die Siedler Land, für Putin ruhiggestellte Wählerinnen und -wähler, die in ihm einen Bewahrer Russlands sehen und zudem gratis eine gewisse Infrastruktur in ländlichem Gebiet aufbauen.

Einweihungsfest neuer Familienlandsitz auf einem grösseren Siedlungsgebiet in Korenskyie Rodniki, 15.9.2012.
Einweihungsfest neuer Familienlandsitz auf einem grösseren Siedlungsgebiet in Korenskyie Rodniki, 15.9.2012.

Rechte Verflechtungen

Die Bewegung rund um Anastasia ist heterogen. Für viele gründet die Anastasia-Begeisterung in der Faszination eines naturnahen Lebens im Einklang mit der Natur, dabei überlesen sie aber geflissentlich die rassistischen, antisemitischen und sexistische Passagen der Romane und verschliessen ihre Augen auch vor den problematischen personellen Verflechtungen. Laut Matthias Pöhlmann, Beauftragter für Sekten- und Weltanschauungsfragen der evangelisch-lutherischen Kirche in Bayern, wird die Anastasia-Begeisterung auch in dezidiert neopaganen und braun-esoterischen Kreisen im deutschsprachigen Raum verbreitet.

Aufklärung über Wlada Ruggle. Twitter-Post der Aktivist*innengruppe «die Betonmalerinnen», Screenshot.
Aufklärung über Wlada Ruggle. Twitter-Post der Aktivist*innengruppe «die Betonmalerinnen», Screenshot.

Viele Anhängerinnen und Anhänger von Anastasia bewegen sich im zudem im rechtsnationalen Reichsbürger-Milieu, das etwa den Holocaust als Erfindung der Medien darstellt.

Der Verein Familienlandsitze Schweiz hat zur Halbjahres-Versammlung im kommenden Juni Wlada Ruggle eingeladen. Die gebürtige Russin hat laut dem Recherche-Kollektiv Die Betonmaler*innen enge Verbindungen zur rechten Szene in Deutschland und der Schweiz. Sie war zudem besagte Referentin aus dem abgesagten Ormalinger Seminar…

Nationalsozialistische Genetik und böse Juden

Dass die Anastasia-Reihe beim rechten Publikum punktet, ist insofern nicht verwunderlich, als dass Megres Bücher tatsächlich viele antisemitische und rassistische Passagen beinhaltet. So verbreitet Anastasia etwa die rassistisch-sexistische und längst verworfene Theorie der Telegonie als Wahrheit. Der erste Mann einer Frau drückt ihr quasi seinen Stempel auf, die späteren Kinder werden ihm in Körper und Geist entsprechen. Auch dann, wenn es nicht die seinen sind. Ähnliches wurde von Genetikern während des Nationalsozialismus verbreitet, um unter anderem die Rassenlehre zu legitimieren.

Gebäude auf einem Familienlandsitz, Korenskyie Rodniki, 10.9.2011.
Gebäude auf einem Familienlandsitz, Korenskyie Rodniki, 10.9.2011.

Ausserdem rechtfertigt Megres Anastasia die Juden-Pogrome, indem sie die Verfolgungen als Strafe für das betrügerische Volk der Juden umdeutet. Ausserdem seien die Juden – das ist nichts Neues in verschwörungstheoretischen Kreisen – Drahtzieher des Weltgeschehens, hätten alle systemrelevanten Bereiche wie Wirtschaft, Politik oder Presse unter ihrer Kontrolle.

Anastasia teilt die Welt klar in Gut und Böse ein. Alle, die nicht der Lehre anhängen, sind suspekt. Der Ausstieg aus der Normgesellschaft geht auch mit einer gewissen Abwehr- und aktiven Verteidigungshaltung einher, was die Anastasia-Bewegung auch potenziell gefährlich macht. In gewissen Bundesländern in Österreich und in Deutschland steht die Anastasia-Bewegung wegen Verbreitung von antisemitischem und völkischem Gedankengut unter Beobachtung.

Anastasia-Jünger und Demokratie-Skeptikerinnen im Zürcher Volkshaus

Am Pfingstwochenende soll im Zürcher Volkshaus ein Kongress mit dem Titel «Vision des Guten und das Manifest der neuen Erde» stattfinden. Es handelt sich um eine Veranstaltung, die laut der linken Aktivistinnen-Gruppe #ReclaimVolkshaus nicht einfach harmlosen Esoterikern und Schamaninnen eine Bühne biete, sondern vor allem völkisch-rassistischen, antisemitischen und antidemokratischen Vordenkern wie Daniele Ganser oder Ricardo Leppe.

Veranstaltungshinweis «Die Vision des Guten» im Zürcher Volkshaus, 27. und 28.5.2023, Screenshot.
Veranstaltungshinweis «Die Vision des Guten» im Zürcher Volkshaus, 27. und 28.5.2023, Screenshot.

Letzterer ist Anastasia-Anhänger und erreicht mit seinen demokratiefeindlichen, antisemitischen Aussagen auf Telegram über 40’000 rechtsorientierte Verschwörungstheoretiker und Staatsskeptikerinnen. #ReclaimVolkshaus hat eine Petition lanciert, die den Volkshaus-Stiftungsrat dazu aufruft, die Veranstaltung abzusagen. Ansonsten drohen die Aktivistinnen und Aktivisten mit einer Mobilisierung.

Der Kongress ist weiterhin in der Agenda gelistet, aber wie die NZZ vom 16. Mai berichtet, wurde Ricardo Leppe nach Absprache mit den Veranstaltern wieder ausgeladen. Zuvor habe sich die Betriebskommission des Volkshauses mit den Fachstellen Infosekta und Relinfo ausgetauscht. Ob der Volkshaus-Stiftungsrat nach dieser Episode sein Leitbild anpasst und in Zukunft in gewissen Fällen die Meinungsfreiheit einschränkt, nicht allen Weltsichten eine Bühne bietet, wird sich zeigen.


Anastasia-Anhängerinnen und -Anhänger feiern Sommersonnenwende (Ivan Kupala Tag) im Bezirk Belogorod, 18.6.2011. | © Wikimedia Commons/Vladimir Lobachev, CC BY-SA 3.0
20. Mai 2023 | 05:00
Lesezeit: ca. 5 Min.
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Lesenswert zum Thema Anastasia

Pöhlmann, Matthias, 2018, «Die Anastasia-Bewegung verbreitet antisemitisches Gedankengut: Ahnenwissen und Zedernprodukte», Herder Korrespondenz 7/2018, S. 36–39.

Martinovich, Vladimir, 2014, «Die Anastasia-Bewegung. Eine utopische Gemeinschaft aus Russland», Berliner Dialog, Schein und Sein, Bd. 31, S. 8–17.