Martin Pusch (r.), Marion Westpfahl (m.) und Ulrich Wastl (l.) stellen ihr Gutachten zum Missbrauch im Erzbistum München und Freising vor, Januar 2022
Zitat

Münchner Gutachter: «Ein insoweit untauglicher Versuch»

Das am Donnerstag in München vorgestellte Missbrauchsgutachten befasst sich ausführlich mit der Zeit von Kardinal Joseph Ratzinger als dortiger Erzbischof (1977-1982). Anbei die «gutachterliche Gesamtbewertung» des späteren Papstes Benedikt XVI. in einer gekürzten Fassung.

«Nach Meinung der Gutachter kann es, nicht zuletzt im Interesse einer möglichst fundierten Aufarbeitung von Missbrauchs-(-verdachts-)fällen, als nicht hoch genug eingeschätzt werden, dass Papst em. Benedikt XVI. seine nach Auffassung der Gutachter zunächst praktizierte Weigerungshaltung aufgegeben und sich entschlossen hat, zu den ihm übermittelten Sachverhalten Stellung zu nehmen und die in diesem Zusammenhang seitens der Gutachter gestellten ergänzenden Fragen zu beantworten.

«…wie die weltkirchlich prägende Haltung war und ist.»

Ohne jeden Zweifel hat er damit einen unmittelbaren und aus Sicht der Gutachter in höchstem Masse authentischen Einblick gegeben, wie die weltkirchlich prägende Haltung des vormals höchsten kirchlichen Verantwortungsträgers gegenüber Fällen sexuellen Missbrauchs und ihrer persönlichen Verantwortlichkeit im Umgang mit diesen war und auch heute noch ist.

Zwar haben diese Erläuterungen Benedikts XVI. in einem Fall dazu geführt, dass die Gutachter ihre vorläufige Bewertung des Sachverhalts und die erhobenen Vorwürfe nicht aufrecht erhalten haben. In den verbleibenden Fällen ist jedoch eine Bereitschaft Benedikts XVI., das eigene Handeln und die eigene Rolle selbstkritisch zu reflektieren und (zumindest Mit-)Verantwortung für Unzulänglichkeiten in den Reaktionen sowohl gegenüber den Beschuldigten als auch den Geschädigten zu übernehmen, für die Gutachter nicht erkennbar.

«Stereotype werden bemüht.»

Vielmehr werden von ihm auch heute noch vor allem die Stereotype angeblich fehlender Sachverhaltskenntnis und des vermeintlichen Zeitgeistes bemüht und das Agieren der aus seiner Sicht damaligen Verantwortlichen als nach seinerzeitigen Massstäben angemessen qualifiziert.

«Behauptete Unkenntnis widerspricht der Praxis.»

Dass Unkenntnis selbst dann noch behauptet wird, wenn dies, wie insbesondere im Fall 40, mit den im Rahmen der Akteneinsicht zur Verfügung gestellten Unterlagen aus Sicht der Gutachter nur schwerlich in Einklang zu bringen ist, ist für die Gutachter gleichermassen erstaunlich und aufschlussreich. […] Hinzu tritt, dass die konsequent behauptete Unkenntnis derjenigen Praxis widerspricht, die seitens der Gutachter sowohl bei den Vorgängern als auch den Nachfolgern Kardinal Ratzingers im Amt des Erzbischofs von München und Freising festgestellt werden konnte. Diese waren über Missbrauchs-(-verdachts-)fälle jedenfalls in einem deutlich weitergehenden Umfang unterrichtet worden als dies Papst em. Benedikt XVI. nun von sich behauptet.

«Eine spezielle Fürsorgepflicht den Priestern gegenüber…»

Folgt man jedoch seinen Einlassungen, so entsteht aus Sicht der Gutachter vor allem in Fällen einer bereits früher oder anderenorts erfolgten einschlägigen Verurteilung der Eindruck, dass dieses Faktum durchaus bekannt war, aber man auf der Leitungsebene regelrecht die Augen davor verschlossen hat, was der Verurteilung zugrunde gelegen hat. Die Gutachter halten diese Darstellung für wenig realitätsnah. Diese erscheint den Gutachtern umso weniger plausibel als dem Diözesanbischof nicht zuletzt aufgrund der anderweitig betonten sakramentalen Grundlegung und Eigenart des Verhältnisses zu den ihm in besonderer Weise anvertrauten Priestern eine spezielle Fürsorgepflicht diesen gegenüber obliegt. […]

Erhebliche Vorbehalte bestehen auf Seiten der Gutachter auch, soweit die Berufung auf einen angeblichen »Zeitgeist« oder auf ein »damaliges Wissen« das die Geschädigtenperspektive gänzlich negierende Verhalten auch des damaligen Erzbischofs Kardinal Ratzinger rechtfertigen soll. An dieser Stelle soll weder nochmals vertieft auf Verursachungsbeiträge der Kirche für diesen geschädigtenfeindlichen Zeitgeist eingegangen werden noch darauf, dass der Zeitgeist kirchlicherseits sich sonst keiner vergleichbaren »Wertschätzung« erfreut. […]

«Eine Kultur des Wegsehens und Verharmlosens wurde perpetuiert.»

Ende der 1970er / Anfang der 1980er Jahre setzte, wie dargestellt, bereits das aufkommende Bewusstsein um die weitreichenden Folgen von Sexualstraftaten, insbesondere für Kinder und Jugendliche, ein. Im Ergebnis handelte es sich daher auch zur damaligen Zeit um ein Thema, das die Öffentlichkeit durchaus beschäftigte. Die kirchlichen Verantwortungsträger, insbesondere auch der damalige Erzbischof Kardinal Ratzinger, haben diese Entwicklung entweder nicht zur Kenntnis genommen oder vor dieser möglicherweise aus Gründen, über die hier bewusst nicht spekuliert werden soll, sogar bewusst die Augen verschlossen. Vor diesem Hintergrund und unter Berücksichtigung des Umstandes, dass – wie in zumindest einem Fall dokumentiertermassen geschehen – Missbrauchstäter jedenfalls in erheblichem Umfang Wiederholungstäter sind, trägt damit die damalige Diözesanleitung und insbesondere auch der damalige Erzbischof Kardinal Ratzinger mit dieser passiven Haltung nach Meinung der Gutachter eine zumindest moralische Mitverantwortung für das Risiko, dass es zu weiteren Missbrauchshandlungen und davon Geschädigten kommt; dies nicht zuletzt auch dadurch, dass eine Kultur des Wegsehens und Verharmlosens perpetuiert wurde.

Entgegen einer anderweitig und auch von Papst em. Benedikt XVI. vertretenen Auffassung kann den damaligen Erzbischof Kardinal Ratzinger nicht entlasten, dass während seiner Amtszeit (vermeintlich) klare Regelungen im Umgang mit Fällen sexuellen Missbrauchs Minderjähriger fehlten. […]

Hinzu tritt im Übrigen, dass von demjenigen, der mit umfassender Leitungsmacht über die gesamte Erzdiözese ausgestattet ist, auch erwartet werden darf und muss, sich erforderlichenfalls die notwendigen Kenntnisse zu beschaffen oder im Rahmen der ihm als Erzbischof zukommenden gesetzgeberischen Gewalt für die notwendige Klarheit zu sorgen. Dass dahingehende Anstrengungen unternommen wurden, jedoch erfolglos geblieben sind, wird auch von Papst em. Benedikt XVI. gerade nicht behauptet. Im Fall unterstellter Unkenntnis dieser Regularien hätten die allgemeinen kirchenstrafrechtlichen Bestimmungen (des CIC/1917) Anwendung gefunden, deren Geltung auch während der Amtszeit des damaligen Erzbischofs Kardinal Ratzinger nicht ernsthaft in Abrede gestellt werden kann, obgleich seitens Papst em. Benedikt XVI. ein insoweit untauglicher Versuch unternommen wird.» (kna)

Martin Pusch (r.), Marion Westpfahl (m.) und Ulrich Wastl (l.) stellen ihr Gutachten zum Missbrauch im Erzbistum München und Freising vor, Januar 2022 | © KNA
20. Januar 2022 | 16:22
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