Mariä Himmelfahrt Deckengemälde
Schweiz

Mit Leib und Seele: Mariä Himmelfahrt als Krone des Anti-Modernismus

Die leibliche Aufnahme Mariens ist das jüngste Dogma. Die Verkündigung des Glaubenssatzes durch Pius XII. war Höhe- und End-Punkt der sogenannten «Pianischen Epoche». Einer Epoche des kirchlichen Anti-Modernismus, welche mit Pius IX. begann und erst mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil endete.

Annalena Müller

Papst Pius IX. (1846-1878) öffnete mit der Dogmatisierung der Unbefleckten Empfängnis eine Klammer. Knapp 100 Jahre später schloss Pius XII. (1939-1958) diese mit der Dogmatisierung der Leiblichen Aufnahme Mariens. Dabei berief sich Pius XII. als bisher einziger Pontifex auf die päpstliche Unfehlbarkeit.

Pius IX. und Pius XII.

Pius XII. verband einiges mit seinem älteren Namensvetter, Pius IX. Beide charakterisierte eine tiefe Marien-Frömmigkeit. Beide glaubten an die päpstliche Unfehlbarkeit und beide formulierten ein Marien-Dogma.

Im Foto festgehalten: Papst Pius XII. verkündet 1950 Kraft seiner Unfehlbarkeit ("ex cathedra") das Dogma der Leiblichen Aufnahme Mariens in den Himmel.
Im Foto festgehalten: Papst Pius XII. verkündet 1950 Kraft seiner Unfehlbarkeit ("ex cathedra") das Dogma der Leiblichen Aufnahme Mariens in den Himmel.

Und noch etwas verband die beiden Päpste: Die grossen politischen und gesellschaftlichen Umbrüche ihrer Zeit prägten sie.

Im Falle von Pius IX. war es Europas Aufbruch in die Moderne. Für Pius XII. war es die Erfahrung des Zweiten Weltkrieges und der Shoah, für welche der Papst zeitlebens keine passenden Worte fand. Beide Männer reagierten auf die Herausforderungen ihrer Zeit mit vehementem Anti-Modernismus.

Dogma für Marianischen Schutz

Von Pius IX. ist überliefert, dass er im Gegenzug für die Dogmatisierung der Unbefleckten Empfängnis auf Marias aktives Eingreifen hoffte. Ganz konkret hoffte er auf den Schutz der Gottesmutter für den Vatikanstaat.

Pius IX. verhindert bis heute den Gang der Kirche in die Moderne.
Pius IX. verhindert bis heute den Gang der Kirche in die Moderne.

Maria hat sich nicht an ihren Teil der Abmachung gehalten. Während des Pontifikats von Pius IX. gingen die Gebiete des Vatikanstaats im neuen italienischen Nationalstaat auf.

Von Pius XII. ist kein solcher Kuhhandel überliefert. Aber auch er war mit der Welt überfordert. Im Jahr des Kriegsausbruchs zum Papst gewählt, musste er mit ansehen, wie die totalitären Ideologien des Kommunismus und Faschismus das Christentum zu ersetzen suchten.

Unnötig, aber theologisch unproblematisch

Vor der Gewalt der Welt verstummte Pius XII. Und konzentrierte sich auf die Muttergottes. Ihr weihte er 1942 die gesamte Menschheit. Und 1946, ein Jahr nach Kriegsende, begann er mit den Vorbereitungen für die Dogmatisierung ihrer leiblichen Aufnahme.

Während die Welt 1942 zerbrach, weihte Pius XII. (1939-1958) sie der Gottesmutter. Zur Shoah schwieg er.
Während die Welt 1942 zerbrach, weihte Pius XII. (1939-1958) sie der Gottesmutter. Zur Shoah schwieg er.

Theologisch war das Unterfangen wenig problematisch. Da Mariä Himmelfahrt in der traditio weniger umstritten war als die Unbefleckte Empfängnis, sprach wenig gegen eine Dogmatisierung. Kritiker hielten sie allerdings für unnötig.

Nicht biblisch, aber mit langer Tradition

Der Glaube an die leibliche Aufnahme Mariens hat eine lange Tradition. Eine Besonderheit ist die Überlieferung der Geschichte. Denn sie basiert nicht auf der Bibel.

Marientod. Im Hintergrund tragen die Engel den Leib Mariens in den Himmel. Darstellung ca. 1520.
Marientod. Im Hintergrund tragen die Engel den Leib Mariens in den Himmel. Darstellung ca. 1520.

Überliefert ist sie in der sogenannten Transitus-Legende, einer Schrift aus dem 5. Jahrhundert. Der Legende zufolge erscheint Jesus in Begleitung von Engeln drei Tage nach Marias Tod an ihrem Grab. Die Engel tragen den Leichnam ins Paradies. Dort legen sie ihn am Baum des Lebens nieder, wo sich Leib und Seele wiedervereinigen.

Dogmatisierung lange kein Thema

Während mittelalterliche Theologen über Details des genauen Ablaufes diskutierten, war die Geschichte an sich unumstritten. Seit der Spätantike war Mariä Himmelfahrt fester Bestandteil des christlichen Festkalenders. Mit der Zeit etablierte sich der 15. August als Gedenktag.

Die beiden Mariendogmen sind Ausdruck des Anti-Modernismus der «Pianischen Epoche».

Trotz der Verankerung in Glauben und Liturgie, scheint eine Dogmatisierung vor dem 19. Jahrhundert kein Thema gewesen zu sein.

Mariendogmen als Ausdruck des Anti-Modernismus

Es ist kein Zufall, dass über Jahrhunderte keines und dann während der «Pianischen Epoche» (1846-1958) gleich zwei Marien-Dogmen verkündet wurden.

Denn die Marien-Fokussierung der beiden Piusse war Ausdruck des tiefen Anti-Modernismus, den das Papsttum und die Kirche dieser Ära prägte. Um die beiden Marien-Dogmen zu verstehen, muss man die Zeit verstehen, in der sie formuliert wurden.

Die bedrohliche Moderne

Das 19. Jahrhundert katapultierte die Welt in die Moderne. Wissenschaftliche, medizinische und technische Entdeckungen stellten altes Wissen in Frage. Auch und gerade das religiöse.

Werke, die von der Inquisition verurteilt wurden, wurden oftmals verbrannt.
Werke, die von der Inquisition verurteilt wurden, wurden oftmals verbrannt.

Besonders bedrohlich für die kirchliche Lehre war die neue kritisch-historische Methode. Mit dieser wollten Historiker und Theologen – es waren im 19. und frühen 20. Jahrhundert fast ausschliesslich Männer – die Evolution der Kirche und ihrer Lehren besser verstehen.

Ihre Motivation: theologische Entwicklung in ihrem gesellschaftlichen Kontext zu betrachten. Ihre zentrale – für uns heute selbstverständliche – Erkenntnis: Kirche und Theologie haben sich über Hunderte von Jahren entwickelt. Und sie unterlagen dabei Veränderungen.

Kampf gegen die Moderne

Die Kirche sah in dieser neuen Form der Auseinandersetzung eine Bedrohung. Rom befürchtete eine Relativierung der päpstlichen Macht. Denn diese war im Mittelalter weitaus geringer als im 19. Jahrhundert.

Zum anderen fürchteten die Kirchenoberen eine Relativierung der Glaubensgrundsätze – sowohl durch historische Kontextualisierung als auch durch die zahlreichen wissenschaftlichen Entdeckungen der Zeit.

Das verbindende Moment der «Pianischen Epoche» – von Pius IX. bis Pius XII. – war der Kampf gegen solche Relativierungen. Und zwischen 1846 und 1958 wurde dies zum Kampf gegen die Moderne.

Sehnsucht nach dem Mittelalter

Verschiedene Enzykliken der «Pianischen Päpste» bezeugen diesen Kampf. So verdammte Leo XIII. (1878-1903) die kritisch-historische Methode. Er stellte ihr die mittelalterliche Scholastik entgegen.

Leo XIII. erklärte die Neuscholastik zur verbindlichen Methode der Theologie.
Leo XIII. erklärte die Neuscholastik zur verbindlichen Methode der Theologie.

Diese allein sollte die lehrmässige Grundlage bilden. Als Vorbild diente dabei das Werk des grössten Scholastikers: Thomas von Aquin (†1274). 1879 erklärte Leo XIII. die Neuscholastik in der Enzyklika «Aeterni Patris» sogar zur verbindlichen Methode in der Theologie.

Anti-Modernismus

Pius X. (1903-1914) ging 1907 noch einen Schritt weiter. In der Enzyklika «Pascendi dominici gregis» verdammte er gleich den gesamten Modernismus als «Sammelbecken aller Häresien».

Pius X. verdammte die gesamt Moderne als «Sammelbecken aller Häresien».
Pius X. verdammte die gesamt Moderne als «Sammelbecken aller Häresien».

Pius XII., der ebenfalls ein vehementer Anti-Modernist war, drückte diese Grundhaltung in zwei Enzykliken aus. 1943 postulierte er die Kirche in «Mystici corporis» als den mystischen Leib Christi und transzendente Wirklichkeit. Und in «Humani generis» (1950) trat er allen philosophischen Ansichten entgegen, die am Fundament der katholischen Glaubensdoktrin rüttelten.

Zeit des «Ghetto-Katholizismus»

Kirchenhistoriker und -historikerinnen bezeichnen die «Pianische Epoche» oft als Zeit des «Ghetto-Katholizismus». «Ghetto» im Sinne einer selbstgewählten Isolierung vor der modernen Welt. Einer Welt, die der Kirche die Deutungshoheit geraubt hatte.

Papst Pius XII. während einer Rundfunkansprache im Jahr 1941 im Vatikan.
Papst Pius XII. während einer Rundfunkansprache im Jahr 1941 im Vatikan.

Die beiden Marien-Dogmen, die am Anfang und am Ende dieser Epoche verkündet wurden, waren ein Ausdruck dieser Gesinnung.

Denn neben Kuhhandel und besonderer Marien-Frömmigkeit, sollten die Dogmen Katholiken und Katholikinnen auf genau definierte Glaubenssätze festlegen. Egal, was Wissenschaft und Philosophie über die Möglichkeiten von Empfängnis oder leiblicher Himmelsaufnahme sagten. Und sie sollten zeigen, dass der Papst, nicht die Wissenschaft hier das letzte Wort hatte.

Der Ausgang aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit

Einen ersten Schritt aus dem «Ghetto» und der damit verbundenen Unmündigkeit der Gläubigen wagte die Kirche mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil (1962-1965). Das Konzil war eine Annäherung an die Moderne.

Papst Johannes XXIII. beim Zweiten Vatikanischen Konzil - eine vorsichtige Annäherung an die Moderne.
Papst Johannes XXIII. beim Zweiten Vatikanischen Konzil - eine vorsichtige Annäherung an die Moderne.

Bis zu einem bestimmten Grad toleriert die Kirche seither sogar relativierende Ansätze aus den Reihen der eigenen Theologen und Theologinnen. Zumindest solange diese nicht versuchen, ein Dogma zu falsifizieren. Für Denker wie Hans Küng (päpstliche Unfehlbarkeit) oder Denkerinnen wie Uta Ranke-Heinemann (Jungfrauengeburt) ist in der Kirche bis heute kein Platz.

Aber immerhin: Dogmen hat die Kirche seit der Leiblichen Aufnahme Mariens keine mehr formuliert. Und auch auf die Unfehlbarkeit hat sich seither kein Papst mehr berufen.

Vor dem Hintergrund der «Pianischen Epoche» sind beides wohl Zugeständnisse an die Moderne. Oder zumindest ein stilles Anerkennen der Kirche, dass sie den Kampf gegen diese verloren hat.


Mariä Himmelfahrt Deckengemälde | © pixabay.com, CC0
21. Mai 2023 | 05:00
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