Stadtführung mit Projektleiterin Aglaila Wespe (rechts) vor dem Berner Rathaus
Schweiz

Mit dem Blick von Migrantinnen durch die Stadt Bern

Bern, 19.8.18 (kath.ch) Bei einem Stadtrundgang des Christlichen Friedensdienstes (CFD) lässt sich die Hauptstadt aus einer neuen Perspektive kennenlernen: Aus der Sicht von Migrantinnen. Interessierte Besucher erfahren, in welchen Bereichen der Stadt Bern diese mitentscheiden dürfen und wo sie als Pionierinnen an Veränderungen bereits mitgewirkt haben.

Vera Rüttimann

Etwas angespannt, aber voller Vorfreude auf ihre Gäste wartet eine Gruppe von Frauen am Brunnen vor dem Rathaus in Bern. An diesem Morgen hat eine Stadtführung Première, die den Titel «Entdeckungsreise zu Orten der Partizipation» trägt.

Die Inhalte der Führungen wurden von einer Gruppe von 15 Migrantinnen aus zehn verschiedenen Ländern, die sich bei der feministischen Friedensorganisation cfd engagieren, ausgearbeitet.

Aglaia Wespe, Programmverantwortliche Migrationspolitik beim CFD, begrüsst die rund 60 Gäste der ausgebuchten ersten Tour mit den Worten: «Mit unserem Rundgang möchten wir Ihnen eine neue Perspektive eröffnen und die wichtige Rolle von Migrantinnen in Bern aufzeigen.»  Diese Stadtführung, die finanziell auch von der katholischen Kirche Region Bern unterstützt wird, soll «Vorurteile abbauen und eine inklusive Gesellschaft fördern, an der alle Menschen teilhaben».

Ungenützte Chance

Miluska Praxmarer übernimmt die Führung zur ersten Station, dem Brunnenhaus. Es befindet sich in einer schattigen Senke hinter dem Rathaus. Es riecht streng nach Urin. Ein Ort, an den sich kaum jemand, der in der Marktgassse shoppt, verirrt.

«Wir Migrantinnen fühlen uns oft unsichtbar.»

Aber es ist ein symbolischer Ort, auch für die Gestalter dieser Tour. Miluska Praxmarer sagt: «Wir Migrantinnen fühlen uns oft wie dieser Ort. Für die Öffentlichkeit  sind wir unsichtbar.»

So gehe es vielen Migrantinnen und Migranten auch beim Thema politische Mitbestimmung in der Schweiz. Die Zuschauer erleben ein von zwei Migrantinnen aufgeführtes Rollenspiel. Es fallen Sätze wie: «Willst du dich nicht politisch äussern?» – «Ich habe keinen Pass. Wie soll das gehen?» – «Du kannst politisch teilnehmen, mit einer Motion.» – «Was ist eine Motion?»

Rund 60 Prozent des Stadtberner Stimmvolks, erfahren die Gäste, haben im Juni 2015 der Partizipationsmotion zugestimmt. Seit November 2016 können in der Stadt Bern 200 Ausländer einen politischen Vorstoss einreichen. Leider, so Miluska Praxmarer, wurde von diesem Recht von Migranten bislang kaum Gebrauch gemacht.

Soziale und kulturelle Heimat

Die nächste Station auf der Tour ist das «Progr», das «Zentrum für Kulturproduktion» in der Nähe der Französischen Kirche. Aglaia Wespe sagt am Eingang: «Viele kennen diesen Ort von Ausstellungen oder vom Public-Viewing zur Fussball-WM. Nur wenige wissen, welche Bedeutung das ‹Progr› für Migranten hat.»

Dieses Gebäude sei ein lebendiger Ort, an dem wichtige Veranstaltungen zu bedeutenden Themen in Kirche, Gesellschaft und Kultur stattfinden. Verschiedene Projekte fördern den Austausch mit Menschen unterschiedlicher Herkunft und Status. Aglaia Wespe stellt «Kreativ Asyl» vor, das geflüchteten Künstern und Künstlerinnen Atelierplätze, Arbeitsmaterial und Vernetzung bietet.

Eine dieser Künstlerinnen ist eine 42-Jährige Syrerin, die vor zwei Jahren in die Schweiz geflüchtet ist und anonym bleiben möchte. Bassema Alhalabi spielt in einer Rolle das Leben dieser Künstlerin vor den Gästen der Führung nach. Sie erzählt ihnen, wie sie in ihrer Heimat als Filmemacherin arbeitete, flüchten musste und schliesslich in einem Asylheim in der Schweiz litt. Sie erzählt auch von ihrem Glück, hier unter geschützten Bedingungen endlich wieder kreativ arbeiten zu können.

Unsichtbare Grenzen am Bahnhof Bern

Nun übernimmt Carolina Hutmacher die Tourführung. Gebürtig aus Ecuador und seit einigen Jahren in der Schweiz lebend, kennt sie die Hauptstadt gut. Die 33-Jährige biegt mit ihren Gästen in Richtung Bahnhof ein. Der Lift führt sie zum Parkhaus. «Zukunft Bahnhof Bern» ist auf grossen Lettern zu einer Ausstellung zu lesen, die über den Umbau des Bahnhofs informiert.

Bevor die Gruppe eintritt, fragt Carolina Hutmacher die Gäste: «Welche Personen halten sich am Bahnhof Bern auf? Und: Wer ist hier überhaupt erwünscht und wer nicht?» Die Securitas, erfahren sie, dürfe laut dem 2008 erlassenen Bahnhofsreglement gewisse Personen vom Gelände verweisen. Auf dem Terrain der SBB gelte Bettelverbot. Carolina Hutmacher weiss: «Dunkelhäutige Menschen werden durch dieses Reglement häufig stigmatisiert.»

«Erst dachte ich, der Bahnhof Bern ist offen für Migranten aus aller Welt.»

Unbeliebt sind auch jene Bahnkunden, die hier nichts konsumieren wollen. Die Estin Ingrid Arro Hähnle, die seit 2005 in der Schweiz lebt, sagt im Innern des Ausstellungspavillons: «Erst dachte ich, der Bahnhof Bern ist offen für Migranten aus aller Welt. Doch nach einer gewissen Zeit bemerkte ich: Dieser Eindruck täuscht.»

Besuch bei einer Pionierin

Der Lift bringt die Teilnehmer weiter auf die Ebene der Grossen Schanze, von wo aus die nächste Station, die Universität Bern, zu sehen ist. Dort machen sie Halt beim Tumarkinweg. Tumarkin? Nur den wenigsten, erklärt Carolina Hutmacher, sei dieser Name ein Begriff.

Die Russin Anna Tumarkin, der die Stadt Bern 1990 diesen kurzen Weg an der Nordseite des Unigebäudes gewidmet hat, war die erste Professorin Europas, welche die vollen Rechte besass, Doktoranden und Habilitanden zu prüfen und im Senat Einsitz zu nehmen. 1908 erhielt sie von der Universität Bern den Titel einer Extraordinaria. Sie gehörte zu den Pionierinnen im Kampf für das Frauenstudium.

«Ich fühlte mich an der Uni als Migrantin oft ausgegrenzt.»

All dies erfahren die Tourenteilnehmer von Zaynap Gashaeva, einer im Jahr 2010 in die Schweiz geflohenen Menschenrechts-Aktivistin aus Tschetschenien, die in einem Rollenspiel die Anna Tumarkin spielt.

Während die Gruppe anschliessend die Skulptur von Albert Einstein, eine weitere Station auf der Tour, passiert, sagt Carolina Hutmacher: «Dieser Ort hat mich zum Nachdenken an meine eigenen Uni-Jahre in Freiburg gebracht. Ich fühlte mich dort als Migrantin oft ausgegrenzt.»

Mit ihrer eigenen Stimme

Die Gruppe begibt sich nun zum Sitz des CFD Bern am Falkenhöheweg 8, der sich in einer hübschen Jugendstilvilla befindet. Während in einem grossen Raum ein Apéro bereit steht, werden die Gäste über die Geschichte der feministischen Friedensorganisation informiert, die dieses Jahr 80 Jahre alt wird. An den Wänden hängen viele Zeitungsartikel. Sie berichten über eine Organisation, deren grosses Ziel der gleichberechtige Zugang für Frauen zur Bildung ist.

Beim Apéro herrscht ein grosses Palaver. Die anwesenden Gäste ziehen eine positive Bilanz über die Stadtführung. So auch die in Boll lebende Elisabeth Wäckerlin.

Die engagierte Christin, die sich in ihrer Kirchgemeinde in der Flüchtlingsarbeit engagiert, war neugierig darauf, wie die Migrantinnen diese Stadtführung gestalten. Sie resümiert: «Es hat mich sehr beeindruckt, wie engagiert und genau die Frauen zu den einzelnen Stationen recherchiert haben.» Bei jeder Station habe sie viel Neues entdecken können.

Ein anderes Bild vermitteln

Froh über diese positive Stimme ist auch Theodora Leite-Stampfli. Die gebürtige Brasilianerin, die  beim CFD arbeitet und sich in der römisch-katholischen Dreifaltigkeitskirche in Bern engagiert, sagt: «Mit dieser Stadtführung wollen wir ein anderes Bild von Migrantinnen vermitteln.»

Darüber freut sich auch Christine Zybach. Die Katholikin aus Interlaken ist hierhergekommen, «weil mich einfach mal die Sicht der Migranten der Stadt Bern interessiert hat.» Die Seniorin, die sich ebenfalls in der Flüchtlingsarbeit engagiert, sagt: «Ich finde es toll, dass Migrantinnen durch diese spezielle Stadtführung die Chance erhalten, sich mit ihrer eigenen Stimme zu äussern.»

Weitere Informationen zu den Stadtrundgängen: www.cfd-ch.org

Hinweis: Der CFD feiert am 1. September sein 80-jähriges Bestehen mit einem Tag der offenen Tür.

Stadtführung mit Projektleiterin Aglaila Wespe (rechts) vor dem Berner Rathaus | © Vera Rüttimann
19. August 2018 | 14:04
Lesezeit: ca. 5 Min.
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Der Christliche Friedensdienst

Der CFD entstand 1938 aus dem Engagement von Gertrud Kurz (1890-1972) für jüdische Flüchtlinge. Die sich daraus entwickelnde Organisation wurde 1947 in Christlichen Friedensdienst umbenannt. Seit 1972 ist der CFD ein Verein.

Die Auseinandersetzung mit feministischen Ansätzen und die Vernetzung in der Frauen- und Friedensbewegung führte 1981 zur Gründung der Frauenstelle für Friedensarbeit. 1997 gab die Mitgliederversammlung dem CFD ein feministisches Leitbild.

Heute engagiert sich der Verein laut eigenen Angaben «für eine Welt, in der Frauen und Männer sowie Menschen verschiedener Herkunft gleichberechtigt Zugang haben zu Lebensgrundlagen, zu Rechten und Mitbestimmung, zu Entwicklungs- und Entfaltungsmöglichkeiten.» Grundlagen seien der Gender-Ansatz, das Empowerment von Frauen und eine feministische Friedenspolitik. (sys)