Missbrauch in Frankreich: erst 40 Opfer entschädigt

Vor knapp einem Jahr ist das Ausmass des sexuellen Missbrauchs in der katholischen Kirche Frankreichs bekannt geworden. Von mehr als 200’000 Opfern war die Rede. Erst 60 Fälle sind inzwischen bearbeitet worden. «Völlig unterdimensioniert» seien die zuständigen Stellen, monieren Opfergruppen.

Vor kurzem berichteten französische Medien über die Entschädigung kirchlicher Missbrauchsopfer: 60 Fälle seien bearbeitet worden.

Bernard* zeigte sich in der Tageszeitung «La Nouvelle République» zufrieden. Nach einer «herzlichen Begleitung» und einem erfolgreichen Antrag innerhalb von vier Monaten wurden ihm 11’000 Euro angeboten. Dieser verwende er «für ein persönliches Projekt». Sie ermöglichten ihm, «ein Zeichen zu setzen», sagte er gegenüber der Agentur AFP.

Allerdings ist mit den 60 Fällen erst ein Bruchteil der Fälle von Opfern sexueller Gewalt bearbeitet worden. In der katholischen Kirche Frankreich soll es von 1950 bis 2021 rund 216’000 solcher Fälle gegeben haben. So hatte es die unabhängige Kommission für sexuellen Missbrauch in der Kirche (Ciase) in ihrem Bericht geschätzt.

Zwei Kommissionen an der Arbeit

Die Kommission wird vom ehemaligen Vizepräsidenten des Staatsrats, Jean-Marc Sauvé, geleitet. Die untersuchten Missbrauchstaten hatten Priester, Diakone, Ordensleute oder mit der Kirche verbundene Personen verübt.

Jean-Marc Sauvé, Vorsitzende der Unabhängigen Untersuchungskommission zu sexuellem Missbrauch in der Kirche (Ciase)
Jean-Marc Sauvé, Vorsitzende der Unabhängigen Untersuchungskommission zu sexuellem Missbrauch in der Kirche (Ciase)

Kurz nach der Publikation des Ciase-Berichts gründeten die französischen Bischöfe im November 2021 eine unabhängige nationale Instanz für Anerkennung und Wiedergutmachung (Inirr) für Opfer von Priestern oder Laien in der Kirche, ausgenommen Kongregationen.

Die Konferenz der französischen Ordensleute (450 Kongregationen) ihrerseits rief eine Kommission für Anerkennung und Wiedergutmachung (CRR) ins Leben. Die Instanz soll zwischen Opfern und Ordensinstituten vermitteln und letzteren mögliche finanzielle Wiedergutmachungen festschreiben.

1500 Fälle eröffnet – 40 entschädigt

Seit der Umsetzung dieser Begleit- und Entschädigungsmassnahmen haben rund 40 Opfer tatsächlich eine Entschädigung erhalten. Etwa zwanzig weitere warten auf eine Zahlung, die im Prinzip vereinbart wurde. Insgesamt sind 1500 Fälle anhängig oder werden bearbeitet. Und zwar durch die beiden Wiedergutmachungskommissionen.

«Sie haben sich für die Qualität des Zuhörens entschieden, was gut ist und Zeit braucht», sagt Véronique Garnier von der Opferorganisation «Collectif Foi et résilience» dazu. Sie bedauert jedoch «schade, dass es nicht eine einzige Instanz für alle gibt».

«Unterdimensionierte Einrichtung».

Olivier Savignac vom «Collectif Parler et revivre» jedoch kritisiert die Entschädigungskommissionen als «völlig unterdimensioniert». Er spricht von «zu wenig menschlichen Ressourcen», einer eingeschränkten telefonische Erreichbarkeit und «keiner Werbung».

Jean-Pierre Sautreau, Leiter des «Collectif85» – das Opfer aus dem Departement Vendée in Westfrankreich – vertritt, ist mit den Bewertungsrastern, die für die Erstellung der Tabelle verwendet wurden, absolut «nicht einverstanden».

Euro-Noten
Euro-Noten

Die Entschädigungen konkret

Das Inirr berichtete, dass von 1004 seit Jahresbeginn eingegangenen Anträgen 60 Entscheidungen getroffen wurden. Bei 45 davon sei eine Entschädigung ausgesprochen worden – zwischen 8000 und 60’000 Euro, dem Höchstbetrag.

«Von einer Stichprobe von 38 Entscheidungen erhielten neun die Summe von 60’000 Euro, 21 Beträge zwischen 15’000 und 30’000 Euro und acht eine Summe von weniger als 15’000 Euro», berichtet die Präsidentin des Inirr, Marie Derain de Vaucresson, der Tageszeitung «La Croix».

Seitens der CRR wird versichert, dass von 400 Fällen, die in ihren Zuständigkeitsbereich fallen, «mindestens 15 Opfer von den religiösen Kongregationen bezahlt wurden». Vier davon erhielten den Höchstbetrag von 50’000 bis 60’000 Euro. Durchschnittlich habe die CRR 32’000 Euro Wiedergutmachung gesprochen.

Noch nicht alles ausbezahlt

Noch nicht alle dieser Entschädigungen sind aber tatsächlich ausgezahlt worden. Der Selam-Fonds (Fonds de Solidarité et de lutte contre les agressions sexuelles sur mineurs), der mit 20 Millionen Euro ausgestattet ist und von den Diözesen gespeist wird, hat 25 der 40 von der Inirr beschlossenen Entschädigungen ausgezahlt. Die religiösen Kongregationen zahlten 15 von 22 Entschädigungen, die über die CRR gewährt wurden.

Kritisierte geloben Besserung

Das Inirr versprach auf einer Pressekonferenz am 30. September 2022 eine «deutliche Beschleunigung» der Betreuung. Es habe seine Teams «verstärkt».

Gilles Vermot-Desroches, Präsident des Sélam-Fonds, plädiert für eine Eingewöhnungsphase: «Die Fundamente dieses Hauses der Anerkennung sind gelegt. Jetzt werden wir etwas aufbauen, das sichtbarer ist und wahrscheinlich viel schneller gehen wird. So können wir den Opfern jetzt besser zuhören», sagte er gegenüber Franceinfo.

«Man musste etwas erfinden, diese Art von Organisation gab es nicht», betont Marie Derain de Vaucresson gegenüber der Tageszeitung «La Croix». «Man darf bei der Betreuung nicht pfuschen», wird von Seiten der CRR argumentiert.

Mahnwache von Missbrauchsopfern während Anti-Missbrauchsgipfel in Rom, 2019
Mahnwache von Missbrauchsopfern während Anti-Missbrauchsgipfel in Rom, 2019

Opferkollektive machen Druck

Ein Dutzend Opferkollektive werden sich am 8. Oktober in Anwesenheit von Jean-Marc Sauvé in Paris treffen, um «Druck zu machen», wie Olivier Savignac es ausdrückt.

Der Sauvé-Bericht hat in Frankreich erste konkrete Auswirkungen gezeitigt. Im Vatikan jedoch nicht. Die Sauvé-Kommission wurde letzten Dezember nicht vom Papst in Rom empfangen, wie ursprünglich geplant, so «La Nouvelle république».

Die Luft ist raus

Im November 2021 hatten zudem acht Mitglieder der Académie catholique – eines inoffiziellen Gremiums katholischer Intellektueller – die Ciase scharf kritisiert. Sie bezeichneten es als undenkbar, dass eine Instanz «ohne kirchliche Autorität» der Kirche Reformen vorschreibe, die diese umzusetzen habe.

Enttäuschung ist auch unter Gläubigen spürbar: Ein Jahr später «ist die Luft raus». In der grossen Mehrheit der Pfarreien spreche man heute nicht mehr vom Ciase-Bericht, bedauert Martin* vom Kollektiv «Agir pour notre Eglise» (cath.ch/ Adaption: rp).

*Vornamen erfunden wegen anonymer Aussagen


Ein Bub versteckt sich. | © ambermb/Pixabay/ambermb, Pixabay Licence
3. Oktober 2022 | 16:56
Lesezeit: ca. 3 Min.
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