Eine Nonne mit schwarzem Habit und Schleier.
International

Missbrauch im Bistum Essen: Nonnen als Sex-Täterinnen

Nonnen als Missbrauchstäterinnen gelten als blinder Fleck in der Kirche und in der Forschung. Dabei haben in der Vergangenheit Ordensschwestern oft Kinder und Jugendliche missbraucht und Pädo-Priestern zugeführt, sagt die Münchner Soziologin Helga Dill. Netzwerke zwischen Nonnen und Priestern funktionierten wie Sex-Kartelle.

Annalena Müller

Die Essener Missbrauchsstudie erwähnt 20 Ordensfrauen als Missbrauchstäterinnen. Was können Sie dazu sagen?

Helga Dill*: Das bezieht sich in der Regel auf den Kontext Heim. Dort waren gerade in den 1950er- und 1960er-Jahren Ordensschwestern tätig, da viele Heimen in katholischer Trägerschaft waren. Vielfach verfügten diese Frauen über keine pädagogische Ausbildung. Das ist keine Entschuldigung dafür, dass sie gewalttätig wurden, aber man muss es zumindest mitbedenken. 

«Es geht um körperliche, psychische und sexualisierte Gewalt.»

Zu welchen Formen von Gewalt kam es in diesen Heimen?

Dill: Es gab alle drei Gewaltformen, oftmals in Kombination. Also körperliche, psychische und sexualisierte Gewalt.

Die Soziologin Helga Dill stellt die Ergebnisse der Studie über das Bistum Essen vor.
Die Soziologin Helga Dill stellt die Ergebnisse der Studie über das Bistum Essen vor.

Sexualisierte Gewalt durch Nonnen… Das überrascht jetzt etwas!

Dill: Wir haben für den Bericht die Essener Heime nicht untersucht. Daher kann ich dazu recht wenig Konkretes sagen. Aber vor vier Jahren haben wir in Bayern eine Studie zu ehemaligen Heimkindern gemacht. Und aus dieser Studie wissen wir, dass ein gutes Drittel ehemaliger Heimkinder angibt, sexualisierte Gewalt erlebt zu haben. Das dürfte nicht nur für Bayern gelten.

Heisst das: Details zum Bistum Essen können Sie nicht nennen, aber Sie nehmen an, dass es im Bistum Essen nicht gross anders war als in Bayern?

Dill: Genau.

Ganz allgemein: Warum werden Nonnen gewalttätig?

Dill: Nicht nur Nonnen wurden gewalttätig. Sexualisierte Gewalt in Heimen wurde auch durch andere Kinder und durch Aussenstehende ausgeübt. Aber über die Hälfte der Betroffenen haben angegeben, dass sie sexualisierte Gewalt ausschliesslich durch das Heimpersonal erlebt haben. Und in den Heimen in katholischer Trägerschaft waren das eben vor allem Nonnen.

Rosenkranz auf einem zerstörten Kinderfoto.
Rosenkranz auf einem zerstörten Kinderfoto.

Das Thema Frauen als Sexualtäterinnen kommt erst langsam in den Blick der Öffentlichkeit. Sind Ordensfrauen als Missbrauchstäterinnen ein Randphänomen?

Dill: Die Forschung hat bislang kaum Daten zu Frauen als Täterinnen gesammelt. Es gibt einige Studien zu Frauen im familiären Kontext oder im sozialen Nahraum. Überhaupt nicht erforscht ist bislang die Rolle der Ordensschwestern, die als Täterinnen für Minderjährige zuständig waren. Da wurde bisher einfach nicht nachgefragt.

Weil man Frauen, zumal Nonnen, als Täterinnen nicht auf dem Schirm hatte?

Dill: Genau.

Der Dominikaner Marie-Dominique Philippe mit Papst Johannes Paul II.
Der Dominikaner Marie-Dominique Philippe mit Papst Johannes Paul II.

In Frankreich wurde gerade eine Studie über die Machenschaften von Jean Vanier und den Brüdern Philippe veröffentlicht. Dort wird am Rande erwähnt, dass auch deren Schwester, Priorin Cécile, aktiv war. Sie hat ihre Mitschwestern sexuell missbraucht und sie zum Teil auch ihrem Bruder Thomas Philippe zugeführt. Sind Ihnen vergleichbare Fälle begegnet?

Dill: Ich habe mich in meiner Forschung vor allem mit sexualisierter Gewalt gegen Minderjährige befasst. Von daher kann ich zum Thema Missbrauch unter Erwachsenen nichts beitragen. Aber dass eine Ordensschwester einem Priester Missbrauchsopfer zuführt, überrascht mich gar nicht.

«Nonnen haben Kinder systematisch pädokriminellen Pfarrern zugeführt.»

Sind Ihnen solche Fälle auch in Deutschland begegnet?

Dill: Es gab in Deutschland kürzlich verschiedene Skandale. Im Kontext der ehemaligen Heimkinder kam heraus, dass Nonnen Kinder systematisch pädokriminellen Pfarrern zugeführt haben. 

Die Kirche hat Missbrauchbetroffene lange allein gelassen.
Die Kirche hat Missbrauchbetroffene lange allein gelassen.

Können Sie ein Beispiel nennen?

Dill: Zum Beispiel die Niederbronner Schwestern aus Speyer: Die Ordensschwestern haben in den 1950er- und 1960er-Jahren nach Aussagen Betroffener missbrauchenden Priestern Zugang zu Kindern gegeben. Juristisch liess sich das aber nicht mehr nachweisen.

«Die Nonnen haben sie zum Missbrauch ausgeliefert.»

Wie lief das ab? Muss man sich das als eine Art Sexkartell vorstellen?

Dill: Exakt. Da kamen höhergestellte Kleriker ins Heim und suchten sich die Kinder aus, die sie wollten. Und die Nonnen haben sie ihnen dann zum Missbrauch ausgeliefert.

Warum haben die Frauen das gemacht – zumal wenn sie wussten, was die Kinder erwartete? 

Dill: Da kann man viele Hypothesen bilden… Uns fehlen da bisher schlicht die Daten. Aber ich denke, dass hier verschiedene Faktoren zusammenkamen. Zum einen gibt’s eine Hierarchiekette zwischen Klerikern und Ordensschwestern. Und auch der Umstand, dass viele dieser Frauen selbst Missbrauch erlebt haben. Aber gerade bei den Heimkinderstudien ist mir immer wieder die völlig empathielose Haltung der Schwestern gegenüber den Kindern aufgefallen. Die Kinder waren ihnen vielleicht schlicht egal.

Unheimliche Schattengestalt mit Kruzifix in einer Kirche.
Unheimliche Schattengestalt mit Kruzifix in einer Kirche.

Das ist das Gegenteil von Barmherzigkeit und Nächstenliebe. Woher kommt diese Härte?

Dill: Die Schwestern hatten oftmals eine sehr negative Einstellung zu den Heimkindern. Nach dem Motto: «Aus denen wird eh nichts, da ist es ja egal.» Auch zeigt sich in den Fällen aus den 1950er- und 1960er-Jahren oftmals noch das menschenverachtende Bild des Nationalsozialismus. Man muss bedenken, dass es hier recht nahtlose Übergänge gab. Menschen, die schon während der NS-Zeit in Heimen tätig waren, waren es auch oftmals in der jungen Bundesrepublik.

Handelt es sich hier also um ein spezifisch deutsches Phänomen?

Dill: Nein. Die Vorstellung «unwerten Lebens» gab es auch anderswo. In Deutschland lässt sie sich einfach durch die NS-Zeit klarer greifen.

Kirchliche Kommunikation als "Blackbox".
Kirchliche Kommunikation als "Blackbox".

Im Essener Bericht identifizieren Sie das kirchliche Machtvakuum als zentralen Faktor, der es erlaubt hat, dass Missbrauch innerhalb der Kirche unentdeckt bleibt. Was meinen Sie damit?

Dill: Zum einen entstand ein Machtvakuum, wenn ein Täter in ein anderes Bistum versetzt wurde. Dann hat sich der entsendende Bischof nicht mehr zuständig gefühlt und der neue oft auch nicht. Zum anderen haben wir innerhalb der Bistümer Diskussionen über die Frage, wer eigentlich verantwortlich ist, festgestellt. Es war oft nicht klar, wer zuständig ist, wenn ein Mensch abdriftet. 

«Man hat sich die Vagheit der Zuständigkeiten zunutze gemacht.»

Ist das systemisch oder war das von Seiten der Verantwortlichen gewollt?

Dill: Das war sicherlich auch ein bisschen gewollt. Man hat sich die Vagheit der Zuständigkeiten zunutze gemacht, um nicht handeln zu müssen. Das war bequemer so.

Workshop am Quellentag der Junia-Initiative.
Workshop am Quellentag der Junia-Initiative.

Mit den Einblicken, die Sie durch den Missbrauchsbericht gewonnen haben: Bewegt sich in der Kirche aktuell etwas? 

Dill: In manchen Bistümern wird sicherlich versucht, zu verstehen, was da passiert ist. Und es wird auch versucht, aus dieser Erkenntnis die gesamte Struktur zu hinterfragen. Aber das Potential für Veränderung ist lange noch nicht ausgeschöpft.

* Helga Dill ist Soziologin und Geschäftsführerin des Instituts für Praxisforschung und Projektberatung in München. Sie hat verschiedene Studien zu sexuellem Kindesmissbrauch durchgeführt und war an der Missbrauchsstudie des Bistums Essen federführend beteiligt.


Eine Nonne mit schwarzem Habit und Schleier. | © KNA
17. Februar 2023 | 15:18
Lesezeit: ca. 4 Min.
Teilen Sie diesen Artikel!