Pressekonferenz zum Abschluss der Studie über Missbrauch im Bistum Essen: Franz-Josef Overbeck, Bischof von Essen (3.v.r.).
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Das gefährliche Bild vom «guten Pfarrer»: Gemeinden haben über Missbrauchstaten geschwiegen

Verantwortliche im deutschen Bistum Essen haben lange Zeit die Augen vor Missbrauch verschlossen. Das zeigt eine aktuelle Studie. Vorwürfe verschwiegen und Taten geleugnet haben aber auch viele Menschen in den Pfarreien vor Ort.

Anita Hirschbeck

Der junge Priester ist beliebt in der Pfarrei. Er geht neue Wege in der Jugendarbeit, hat Charisma, stösst Projekte an. Doch dann gibt es Anschuldigungen, der Geistliche fasse Kinder an. Das Wort Missbrauch steht im Raum. Die Gemeindemitglieder reagieren schockiert – und verteidigen den Pfarrer. Sie wollen die Vorwürfe nicht glauben, auch nicht, als immer mehr Hinweise bekannt werden. «Unser Pfarrer ist ein guter Pfarrer», spielen sie die Taten herunter oder leugnen diese ganz.

Gläubige reagieren reflexhaft

So reagierten viele Gemeinden fast reflexhaft, sobald Missbrauchsvorwürfe gegen Priester aufkamen, sagt die Sozialwissenschaftlerin Helga Dill vom Münchner Institut IPP. Gemeinsam mit dem Berliner Institut Dissens veröffentlichte es am Dienstag eine Aufarbeitungsstudie zu sexueller Gewalt im deutschen Bistum Essen seit seiner Gründung 1958.

Die Kirche hat Missbrauchbetroffene lange allein gelassen.
Die Kirche hat Missbrauchbetroffene lange allein gelassen.

Die Forschenden blicken vor allem auf die Strukturen, die Missbrauch ermöglichten, gerade in den Gemeinden. Denn hier – und daneben in Heimen – fanden die meisten der Taten im Ruhrbistum statt. Eher selten vergingen sich Priester in Schulen oder Krankenhäusern an Minderjährigen.

423 Fälle und 201 Beschuldigte

Neueste Zahlen, die das Bistum selbst jetzt vorlegte, belegen für die 65 Jahre seit der Bistumsgründung 1958 insgesamt 423 Fälle und Verdachtsfälle sexualisierter Gewalt sowie 201 Beschuldigte, darunter 129 Geistliche und 19 Ordensfrauen.

Bis ins Jahr 2010 reagiert das Bistum Essen der Untersuchung zufolge unzureichend oder gar nicht auf Verdachtsfälle. Wegen dieser mangelnden Verantwortungsübernahme und der Versetzung von Tätern sei die sexualisierte Gewalt nicht gestoppt worden. Bis 2010 seien auch keine Bemühungen des Bistums festzustellen, Betroffene zu unterstützen oder ausfindig zu machen.

Hartes Durchgreifen ab 2010

Dann aber sei ein hartes Durchgreifen gegenüber den mittlerweile betagten Tätern zu erkennen, worin die Forschenden den Ausdruck eines institutionellen Schuldgefühls sehen. Und in den Gemeinden?

Unheimliche Schattengestalt mit Kruzifix in einer Kirche.
Unheimliche Schattengestalt mit Kruzifix in einer Kirche.

«Wir sehen, dass durch diese Taten erhebliches menschliches Leid auch auf der Gemeindeebene ausgelöst wurde», sagt Studienleiterin Dill. So habe es hartnäckiges Schweigen gegeben, aber auch Schuldgefühle. Betroffene, die über ihre Fälle gesprochen haben, seien ausgegrenzt worden, zum Teil auch ihre Familien. Viel Solidarität hätten hingegen die beschuldigten Priester erfahren.

Weihe steht für Nähe zu Gott

«Dass der gute Pfarrer idealisiert wird, ist etwas Spezifisches der katholischen Glaubensorganisation», erklärt Dill. Weil katholische Priester geweiht würden, schienen sie für viele Gläubige besonders nah an Gott und unangreifbar zu sein.

Missbrauchsvorwürfe wirken in Gemeinden lange Zeit nach, so die Studie. Auch Jahre nach der Versetzung eines Pfarrers – so wurde häufig mit Beschuldigten nicht nur im Ruhrbistum verfahren – zeigen sich Spaltungen innerhalb einer Pfarrei. Auch zu Entfremdung von der Diözese sei es gekommen. Denn: Wollte die Bistumsverwaltung gegen einen Beschuldigten vorgehen, stellten sich Gemeindemitglieder oft schützend vor ihn – nach dem Motto «Die da oben wollen unseren Pfarrer fertig machen».

Diözesen informierten nicht

Ein weiteres Problem: Die Diözese habe lange ihre Informationspflicht vernachlässigt. Die Pfarreien wurden also im Unklaren darüber gelassen, warum ein Geistlicher versetzt wurde. So hätten Gerüchte und gegenseitige Schuldzuweisungen in den Gemeinden weiter schwelen können.

Die meisten Taten geschahen der Studie zufolge in den 1950er-, 1960er- und 1970er-Jahren, also während der Amtszeit des ersten Essener Bischofs Franz Hengsbach. Doch auch heute wollen viele Menschen in Pfarreien schnell das Thema wechseln, wenn es um Missbrauch geht, wie Generalvikar Klaus Pfeffer berichtet. Verantwortungsträger auf Bistumsebene beschäftigten sich mittlerweile stark mit Themen wie Prävention und Intervention. Dieses Wissen müsse auch stärker in die Gemeinden getragen werden.

Empfehlungen für die Zukunft

Das IPP hat dem Ruhrbistum eine Reihe an Empfehlungen für die Zukunft mit auf den Weg gegeben. Generalvikar Pfeffer fängt bei sich selbst an. Seit 31 Jahren sei er Priester des Bistums Essen. «Teil dieses Systems zu sein, heisst eben auch, es ist unglaublich schwer, sich davon zu befreien.» Mit früheren Verantwortungsträgern, die er persönlich kennt, wolle er nun über deren Umgang mit Missbrauchsfällen sprechen. Dass er das noch nicht getan habe, falle ihm jetzt auf. Pfeffer rief zu einer «radikalen Veränderung» auf, «die bei jedem von uns beginnen muss» – auf Bistumsebene und in den Gemeinden. (kna)


Pressekonferenz zum Abschluss der Studie über Missbrauch im Bistum Essen: Franz-Josef Overbeck, Bischof von Essen (3.v.r.). | © Andre Zelck/KNA
14. Februar 2023 | 17:41
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