Chorherr Daniel Salzgeber
Schweiz

Missbrauch bei den Augustiner-Chorherren: Jetzt spricht Daniel Salzgeber

Ein Ordensmann missbraucht ein 17-jähriges Mädchen, ein anderer einen 12-jährigen Jungen: Zwei Missbrauchsfälle wühlen die Chorherren vom Grossen St. Bernhard auf. Was wusste der Bischof von Sitten, Jean-Marie Lovey (71)? Ein Gespräch mit Generalökonom Daniel Salzgeber (59).

Raphael Rauch

Fühlen Sie sich als Chorherr vom Grossen St. Bernhard zurzeit einem Generalverdacht ausgesetzt?

Daniel Salzgeber*: Ja, das ist so. Die Öffentlichkeit zeigt mit dem Finger auf uns. Aber ich kann es verstehen. Es ist schrecklich, was passiert ist. Es geht um zwei Fälle, die 35 bis 40 Jahre zurückliegen. Wir müssen alles tun, dass es den Opfern besser geht. Sie stehen an erster Stelle. Gleichzeitig können wir unsere zwei Mitbrüder deswegen nicht fallen lassen. Beide sind um die 80 Jahre alt. Wir können die nicht einfach vor die Tür setzen, sondern haben eine Verantwortung für sie. Wir stehen vor der Herausforderung, den Opfern gerecht zu werden – und gleichzeitig einen angemessenen Umgang mit den Tätern zu finden, die ja unsere Mitbrüder bleiben.

«Bis hin zur Laisierung ist alles denkbar.»

Was genau haben Sie gegen die Täter unternommen?

Salzgeber: Beide Fälle sind strafrechtlich verjährt. Trotzdem wurden sie zur Anzeige gebracht. Das kirchenrechtliche Verfahren läuft zurzeit in Rom. Die beiden Priester sind bis auf Weiteres suspendiert, sie dürfen keine priesterlichen Dienste mehr wahrnehmen. Bis hin zur Laisierung ist alles denkbar.

Hier sind die Augustiner-Chorherren zuhause.
Hier sind die Augustiner-Chorherren zuhause.

Im «Walliser Boten» gab es eine Karikatur, wo ein Bernhardiner nach Knochen gräbt. Dazu der Spruch: «Grabe nicht zu tief!» Hat die Karikatur Recht?

Salzgeber: Nein! Wir tun das Gegenteil: Wir rufen aktiv dazu auf, dass sich Betroffene melden sollen – und zwar bei den Fachstellen. Wir haben das Communiqué in allen Pfarreien verlesen, in denen wir tätig sind.

Warum haben Sie das Communiqué nicht auf der Website der Chorherren veröffentlicht?

Salzgeber: Die Website ist nicht aktuell. Der Mitbruder, der für die Website verantwortlich ist, hat einen Hirnschlag bekommen und ist in der Klinik.

Der Bischof von Sitten, Jean-Marie Lovey.
Der Bischof von Sitten, Jean-Marie Lovey.

Der Bischof von Sitten, Jean-Marie Lovey, gehört Ihrer Kongregation an. Er könnte das Communiqué auf der Website des Bistums veröffentlichen.

Salzgeber: Das ist Sache des Bistums.

Glauben Sie wirklich, dass Bischof Jean-Marie Lovey von den Vorfällen nichts wusste? Er war an der gleichen Schule als Seelsorger tätig, als der 12-jährige Junge missbraucht wurde. 

Salzgeber: Schauen wir nach Deutschland, Frankreich und Irland: Es gab unendlich viele Fälle von Vertuschung – Priester wurden versetzt, ohne dass etwas passierte. Auf der anderen Seite gibt es auch viele Fälle, die erst Jahrzehnte später ans Licht kamen, weil die Opfer vor lauter Scham und Angst geschwiegen haben. Manche Opfer haben sich sogar selbst die Schuld gegeben. Und die Täter hatten oft kein Täterbewusstsein, sodass nichts ans Licht kam. Es kann gut sein, dass niemand vom Missbrauch des 12-jährigen Jungen wusste. Der Mitbruder ist ja an der Schule geblieben und wurde nicht versetzt.

Hospiz auf dem Grossen St. Bernhard im Wallis.
Hospiz auf dem Grossen St. Bernhard im Wallis.

Sie hatten letzte Woche eine Kapitelsitzung. Haben daran auch die zwei Täter teilgenommen?

Salzgeber: Nein, es ist ein Delegiertenkapitel. Mitglieder werden stellvertretend entsandt. Und manche sind kraft Amtes dabei, zum Beispiel ich als Generalökonom.

Wie war die Stimmung im Kapitel?

Salzgeber: Der Propst wird am Mittwoch die anderen Mitbrüder informieren und danach sicher auch Ihnen ein Interview geben.

Daniel Salzgeber unterrichtet am Collegium Spiritus Sanctus in Brig.
Daniel Salzgeber unterrichtet am Collegium Spiritus Sanctus in Brig.

Wie ist der Orden seit Bekanntwerden der Fälle intern damit umgegangen?

Salzgeber: Wir treffen uns jeden ersten Mittwoch im Monat im Tal, in Martigny. Es kommen, wenn möglich, alle Mitglieder. Bei einer Sitzung vor zwei Monaten war die Freiburger Kirchenrechtlerin Astrid Kaptijn zu Gast. Sie hat von der französischen Missbrauchsstudie berichtet. Und dass vielen Tätern ein Täterbewusstsein fehlt. Das ist bei uns nicht der Fall: Die Mitbrüder sehen ein, dass sie die Tat begangen haben.

Astrid Kaptijn
Astrid Kaptijn

Wie genau kamen die Fälle ans Licht?

Salzgeber: Zunächst einmal zur Chronologie: Wir wussten vom zweiten Fall vor dem ersten Fall. Doch das Opfer wollte nicht, dass wir den Fall kommunizieren.

Auf dem Weg zum Hospiz auf dem Alpenpass Grosser Sankt Bernhard
Auf dem Weg zum Hospiz auf dem Alpenpass Grosser Sankt Bernhard

Der Reihe nach: Im November wurde bekannt, dass ein Chorherr Grossvater und Vater ist.

Salzgeber: Genau, da war von Missbrauch noch nicht die Rede. Zunächst ging es darum: Der Mitbruder hat, um seinen Seelenfrieden zu finden, ein Geheimnis erzählt, das offenbar nur eine kleine Gruppe von Mitbrüdern kannte. Er hatte ein Kind gezeugt und ist letztes Jahr auch Grossvater geworden. Weil er Alimente zahlen musste, musste er den früheren Propst und den früheren Generalökonom einweihen. Der Orden hat dann die Alimente bezahlt.

Der frühere Propst war der Onkel des heutigen Bischofs von Sitten, Jean-Marie Lovey.

Salzgeber: Ob er seinen Neffen über das Geheimnis im Kloster informiert hat, weiss ich nicht.

«Ich wusste bis vor kurzem nichts davon.»

Auch in einem Kloster wird getratscht. Hat sich die verbotene Liebe nicht rumgesprochen?

Salzgeber: Wer was genau wusste, kann ich nicht sagen. Ich kann nur sagen: Ich wusste bis vor kurzem nichts davon.

Sie sind Generalökonom. Sind Ihnen die Zahlungen der Alimente in der Buchhaltung nicht aufgefallen?

Salzgeber: Nein. Das Gesetz regelt, wie lange Alimente gezahlt werden müssen. Ich bin seit acht Jahren Generalökonom. Mir sind keine entsprechenden Buchungen bekannt.

Workshop am Quellentag der Junia-Initiative.
Workshop am Quellentag der Junia-Initiative.

Wir sind immer noch bei der Grossvater-Geschichte. Wann wurde aus der verbotenen Liebe ein Missbrauch?

Salzgeber: Die Geschichte «Chorrherr ist Grossvater» ist in den Medien erschienen. Das hat auch eine Frau gelesen, die sich offenbar gedacht hat: Das ist doch der gleiche Priester, mit dem ich ein Verhältnis hatte. Wenn ich richtig informiert bin, hat sie das schon früher einmal dem Orden mitgeteilt – damals war das für sie offenbar aber kein grosses Problem. Sie hatte wohl ihren Frieden mit der Geschichte von früher geschlossen. Doch die Geschichte mit dem Grossvater hat offenbar wieder alte Wunden aufgerissen. Plötzlich war sie nicht die einzige Frau, mit der der Chorherr etwas gehabt hatte. Plötzlich waren die Verletzungen wieder da und die Frau hat sich an den Bischof gewandt.

«Was nicht stimmt, aber in manchen Medien zu lesen war, ist der Vorwurf der Vergewaltigung.»

Was genau ist damals passiert?

Salzgeber: Die Details kenne ich nicht. Wir wurden aber informiert, dass sie im Alter von 17 Jahren ein Verhältnis mit dem Mitbruder hatte. Sie war also minderjährig – und er war Jugendseelsorger der Pfarrei. Es gab also ein Abhängigkeitsverhältnis. Also ein absolutes No-go. Was nicht stimmt, aber in manchen Medien zu lesen war, ist der Vorwurf der Vergewaltigung. Die Beziehung war nach Informationen der Staatsanwaltschaft konsensual. 

Blick von der Passhöhe am Grossen Sankt Bernhard in die Walliser Berge
Blick von der Passhöhe am Grossen Sankt Bernhard in die Walliser Berge

Und der andere Missbrauchsfall?

Salzgeber: Der wurde uns schon vor der Grossvater-Geschichte gemeldet. Das Opfer wollte zu diesem Zeitpunkt aber nicht, dass darüber informiert wird. Der Propst hat dem Wunsch des Opfers entsprochen. Jetzt haben wir das Problem, dass uns eine Salami-Taktik unterstellt wird: Scheibchenweise kommen neue Details ans Licht.

Das Collège Champittet in Pully bei Lausanne wurde in den 1980er Jahren von den Chorherren vom Grossen Sankt Bernhard geführt.
Das Collège Champittet in Pully bei Lausanne wurde in den 1980er Jahren von den Chorherren vom Grossen Sankt Bernhard geführt.

Was genau ist im anderen Missbrauchsfall vorgefallen?

Salzgeber: Früher führten wir das Collège Champittet in Lausanne. Hier habe ich auch mal unterrichtet. Vor meiner Zeit gab es einen Mitbruder, der einen zwölfjährigen Jungen an den Geschlechtsteilen berührt hat. Damals war Jean-Marie-Lovey, der jetzige Bischof von Sitten, Schulseelsorger. Der Junge hat Jean-Marie Lovey in guter Erinnerung und sich deswegen an ihn als Bischof gewandt, um ihn von dem Vorfall zu erzählen. Der Bischof hat sofort den Propst informiert. Sofort wurden alle Verfahren eingeleitet. Es gab mehrere Gespräche zwischen dem Täter, dem Propst, dem Opfer und dem Bischof von Sitten. 

«Wer hat damals in der Schule von dem Missbrauch gewusst?»

Darüber hinaus stellt sich für mich die Frage: Wer hat damals in der Schule von dem Missbrauch gewusst? Inwieweit wurde das damals gedeckt und auch vertuscht? Der damalige Rektor ist verstorben. Aber ein paar Menschen aus dem Lehrerkollegium leben noch.

Ein Missbrauchstäter hat meistens mehr als eine Missbrauchstat verübt. Kamen inzwischen weitere Fälle oder Mutmassungen ans Licht?

Salzgeber: Wir können nur hoffen, dass es keine weiteren Fälle gibt. Aber ich würde meine Hand dafür nicht ins Feuer legen. Der Propst ruft alle dazu auf, Missbrauchsfälle zu melden. Wir wollen niemanden schützen, sondern alles aufklären.

«Sie würden den Bischof anlügen, aber gar nicht wissen, dass sie ihn anlügen.»

Wie ehrlich sind Ihre Mitbrüder? Wenn der Bischof mit jedem ein Einzelgespräch führen und fragen würde: «Was weisst du…?» Bekäme er dann ehrliche Antworten?

Salzgeber: Das Problem ist doch, dass viele Täter überhaupt kein Bewusstsein dafür haben, was sie gemacht haben. Beim Missbrauch mit dem 12-jährigen Jungen war der Täter einsichtig. Das hat auch das kirchenrechtliche Verfahren beschleunigt. Aber viele Täter dürften ihre Tat verdrängt haben oder sich gar nicht im Unrecht fühlen. Sie würden den Bischof anlügen, aber gar nicht wissen, dass sie ihn anlügen, weil sie fest der Meinung sind: Das war doch kein Missbrauch.

Die Aufarbeitung der Missbrauchsfälle in Deutschland zeigt: Viele Amtsinhaber versuchen, ihre Haut zu retten. Wie nehmen Sie Bischof Jean-Marie Lovey zurzeit wahr?

Salzgeber: Der Bischof war an der Kapitelsitzung nicht anwesend. Jeder Ordensmann, der zum Bischof geweiht wird, gehört nicht mehr direkt dem Orden an.

Erhalten Sie Subventionen von öffentlicher Hand?

Salzgeber: Nein. Sieben Mitbrüder sind in Pfarreien aktiv. Die erhalten wie jeder Pfarrer im Bistum einen Lohn. Der wird von der Gemeinde bezahlt. 

* Der Priester Daniel Salzgeber (59) gehört der Kongregation des Grossen St. Bernhard an. Der Augustiner-Chorherr kümmert sich als Generalökonom um die Finanzen der Kongregation. Er unterrichtet am Kollegium Spiritus Sanctus in Brig. 


Chorherr Daniel Salzgeber | © Raphael Rauch
2. Mai 2022 | 05:00
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