Max Heimgartner
Schweiz

Max Heimgartner: «Zu Ostern wünsche ich mir eine neue Einstellung gegenüber Asylsuchenden»

Der reformierte Pfarrer Max Heimgartner engagiert sich seit 20 Jahren für Geflüchtete. Er kritisiert die hohen Hürden im Schweizer Asylgesetz. Es sei rassistisch, dass Flüchtlinge aus der Ukraine separat aufgelistet werden. Die katholische und die reformierte Kirche seien «zunehmend mit sich selbst beschäftigt», sagt Max Heimgartner.

Annalena Müller

Seit wann engagieren Sie sich für Flüchtlinge?

Max Heimgartner*: Das erste Mal muss in den Achtzigerjahren gewesen sein. Damals waren in Gelterkinden (BL) acht Kurden in einem Bauernhaus untergebracht. Als Pfarrer kannte ich die Gastfamilie. Ich war aber damals beruflich sehr eingebunden. Erst nach meiner Pensionierung konnte ich mich umfassend engagieren.

2004 wurden Sie pensioniert. Haben Sie dann sogleich das Netzwerk Asyl gegründet?

Heimgartner: Nicht ganz. Nachdem 2006 das Asylgesetz weiter verschärft wurde, haben wir von unmenschlichen Unterkunftsbedingungen erfahren. Damals entschloss sich das «Asylforum Aargau» den Asyltreff «contact» zu starten. Den gibt es bis heute hier im «Offenen Pfarrhaus». Im Jahr danach wurde das «Netzwerks Asyl Aargau», gegründet. Dem haben wir uns angeschlossen.

Das "Offene Pfarrhaus" der katholischen Peter und Paul Kirche
Das "Offene Pfarrhaus" der katholischen Peter und Paul Kirche

Welche Hoffnung haben sie in den Asyltreff «contact» gesetzt?

Heimgartner: Wir wollten einen Ort schaffen, wo Asylsuchende Wärme in jeder Hinsicht spüren können. Und wir wollten einen Ort schaffen, an dem Einheimische und Zugewanderte in Kontakt kommen.

Hat das funktioniert?

Heimgartner: Nur halb. Leider waren und sind die einzigen Einheimischen das Team, das die vielen Gäste bewirtet. Und sonst halten sich die lieben Schweizerinnen und Schweizer eher zurück.

«Viele Menschen haben Berührungsängste

Warum ist das so?

Heimgartner: Oh, wenn ich das wüsste. Vorurteile spielen wohl eine Rolle. Und auch die Scheu vor sprachlichen Problemen. Das ist ja auch verständlich. Auch in unserem Team gibt es einige, die lieber hinter der Theke arbeiten als sich an einen Tisch mit Leuten zu setzen, die kaum Deutsch können. Viele Menschen haben Berührungsängste.

Wie erleben Sie die Flüchtlingsankünfte über die Jahre hinweg?

Heimgartner: 2015/16 war sicher ein Höhepunkt. Damals unterrichteten wir Freiwilligen bis zu 200 Asylsuchende in 20 Klassen an fünf verschiedenen Orten. Nach 2017 hat es zunächst deutlich abgenommen. Seit Ausbruch des Ukrainekrieges aber kommen wieder mehr. Das steht natürlich im medialen Fokus. Doch es kommen auch weiterhin Flüchtlinge aus anderen Ländern. Vorab aus Afghanistan, Burundi, Eritrea, Syrien und der Türkei.

Von denen hört man in den Medien weniger.

Heimgartner: Das empfinde ich als ein Stück Rassismus. Als ob die anderen, die zu uns kommen, es vorher weniger schwer hatten. Auch dass die Zahlen getrennt kommuniziert werden, finde ich schlimm. So werden die Geflüchteten aus der Ukraine separat aufgeführt. Da wird klar bevorzugt.

Buch für den Sprachunterricht
Buch für den Sprachunterricht

Wie stehen Sie zu der Forderung der Caritas, allen Flüchtlingen den Status S zu geben?

Heimgartner: Das wäre der richtige Weg. Alle müssen gleichbehandelt werden. Aber ich halte das leider für wenig aussichtsreich. Es ist leicht, auf das Staatssekretariat für Migration oder den Bundesrat zu schimpfen. Aber am Ende machen die von uns gewählten Volksvertreter im Ständerat und Nationalrat die Gesetze. Das SEM führt sie nur aus.

Dieses Jahr wird gewählt

Heimgartner: Das hilft sicher nicht. Die SVP hat schon vor Monaten angekündigt, dass sie Zuwanderung zu einem zentralen Thema machen wird. Und die Presse steht in meinen Augen auch nicht gut da.

«Unter den Geflüchteten sind auch Fachkräfte!»

Inwiefern?

Heimgartner: Da wird zu wenig informiert und Skandalen nachgerannt. Aber die wirklichen Themen kommen nicht auf den Tisch. Zum Beispiel das grosse Dilemma des Arbeitskräftemangels. Das Kantonsspital Aarau hat Leute aus Rom rekrutiert – anstatt zu schauen, wer schon hier ist. Unter den Geflüchteten sind auch Fachkräfte! Und viele junge Menschen würden es gerne werden. Diese könnte man ausbilden.

Gibt es Unterschiede zwischen den ukrainischen Geflüchteten und denen aus anderen Regionen?

Heimgartner: Die Ukrainer haben die Hoffnung, dass sie in absehbarer Zeit zurückgehen können. Ich merke das auch daran, dass sie oftmals eher zögerlich Deutsch lernen. In Unterentfelden (AG) wohnen aktuell 40 oder 50 Ukrainer und Ukrainerinnen in der kantonalen Unterkunft. Von ihnen machen nur rund ein Drittel vom Sprachkursangebot Gebrauch.

Asyltreff «contact» im "Offenen Pfarrhaus" Aarau.
Asyltreff «contact» im "Offenen Pfarrhaus" Aarau.

Flüchtlinge aus anderen Ländern wollen dauerhaft in der Schweiz Fuss fassen – und Sie lernen auch Deutsch bei Ihnen. Haben diese Menschen eine Chance, in der Schweiz bleiben zu dürfen?

Heimgartner: Das Schweizer Asylgesetz baut hohe Hürden. Man muss beweisen, dass man in der Heimat verfolgt wird. Und durch das gängige Verfahren wird dies erschwert.

Wie sieht das Verfahren aus?

Heimgartner: Es werden mit den Ankommenden zwei Interviews geführt. Mit dem Ziel, Widersprüche herauszufinden. Sobald man die hat – und die hat man schnell, denn die Menschen kommen erschöpft an und das erste Interview wird gleich bei der Ankunft geführt. Sobald es irgendwelche Widersprüche gibt, ist das Spiel quasi aus. Im Übrigen kenne ich unter allen Geflüchteten solche, die gerne hier bleiben und solche, die gerne sobald wie möglich zurückkehren wollen.

«Nicht nur die katholische, auch die reformierte Kirche ist zunehmend mit sich selbst beschäftigt.»

Sie haben sich in einem anderen Interview als religionsmüde bezeichnet. Was meinen Sie damit?

Heimgartner: Nicht nur die katholische, auch die reformierte Kirche ist zunehmend mit sich selbst beschäftigt. Das erlebt auch das «Netzwerk Asyl». Wir werden von der reformierten Kirche kaum wahrgenommen. Einfach weil wir nicht kirchlich sind. Im katholischen «Offenen Pfarrhaus» erfahren wir immerhin grosses Gastrecht. Während in der reformierten Kirche geschaut wird, dass immer alles schön sauber ist, kann man hier im katholischen Pfarrhaus allerhand Leute antreffen.

Die katholische Kirche hier ist offener?

Heimgartner: Ja. Aber es ist dennoch eine Gratwanderung. Denn es gibt natürlich auch hier genügend Leute, die gerne unter sich sind. Vor acht Jahren mussten wir aufhören hier Deutschunterricht anzubieten, weil einige Pfarreimitglieder fanden, es sei «zu schwarz» hier.

Max Heimgartner im Asyltreff «contact» in Aarau.
Max Heimgartner im Asyltreff «contact» in Aarau.

Das ist rassistisch. Man fand, dass zu viele dunkelhäutige Menschen ins Pfarrhaus kamen?

Heimgartner: Ja, manche fanden schwarze Menschen unheimlich. Seither haben wir im offenen Pfarrhaus nur noch das Einschreiben für die Deutschkurse.

Ostern steht vor der Tür – was wünschen Sie sich von der Schweiz in Sachen Flüchtlingspolitik?

Heimgartner: Eine neue innere Einstellung gegenüber Asylsuchenden. Indem wir dafür danken, dass wir es hier viel besser haben als die Geflüchtete in ihren Herkunftsländern. Danken nicht nur in Worten, sondern auch mit einer echten Gastfreundschaft. Abwehr hat wohl ihre Zeit. Aber Zuwendung hat auch ihre Zeit. Jetzt ist die Zeit für Zuwendung. Schliesslich hat sich Gott uns zuerst zugewendet.

*Max Heimgartner (83) stammt aus Aarburg. Nach dem Theo­logiestudium leitete er die Pfarrämter Frauenfeld und in Gelterkinden. Seit seiner Pensionierung 2004 engagiert er sich auf vielfältige Weise für Geflüchtete in Aarau. «Mister Max» unterrichtet Deutsch und koordiniert die Freiwilligenarbeit, insbesondere die Deutschkurse.


Max Heimgartner | © Annalena Müller
4. April 2023 | 09:04
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