«Wir sollten das Kloster Einsiedeln neu bauen»

Einsiedeln SZ, 15.2.18 (kath.ch) Die Kirche muss vermehrt auf jene hören, die sich von ihr verabschiedet haben. Sie soll aus ihren Palästen rauskommen und auf Menschen in Not zugehen. Dies schlägt Martin Werlen, Altabt des Benediktinerklosters Einsiedeln, in seinem neuen Buch «Zu spät» vor.

Sylvia Stam

«Zu spät» lautet der Titel Ihres Buches. Ist der Zug für die Kirche abgefahren?

Martin Werlen: Ja. Dem müssen wir uns stellen. Zu spät sein bedeutet, in der Wüste sein. Sinkende Mitgliederzahlen, Mangel an Seelsorgerinnen und Seelsorgern, das sind Wüstenerfahrungen für die Kirche. Diesen Erfahrungen muss die Kirche sich stellen. Erst dann wird sie fähig zu hören, was Gott ihr sagen will.

Kann die Kirche um fünf nach zwölf denn noch etwas tun?

Werlen: Es gibt keinen Grund zur Panik, diese entsteht um fünf vor zwölf: Man beginnt zu hetzen und sucht Sündenböcke. Um fünf nach zwölf hingegen hat man nicht mehr alles im Griff. Dadurch entsteht eine neue Offenheit. Da werden wir plötzlich wieder berührt und entdecken, dass Menschen, die wir sonst übersehen, uns etwas zu sagen haben.

So lautet ja auch eine Ihrer Kernaussagen: Der Geist Gottes wirkt auch ausserhalb des Christentums. Was ist daran provokativ, wie es im Untertitel des Buches heisst?

Werlen: Schon das Zweite Vatikanische Konzil hat klar gesagt, dass Gottes Geist auch ausserhalb der Kirche wirkt. Allerdings gibt es in der Kirche Leute, die grosse Mühe damit haben. Für sie darf das nicht sein. Kürzlich bin erschrocken, als ein Bischof in einem Artikel seine Mühe bekundete, dass Papst Franziskus auch kirchenabgewandte Jugendliche zur Jugendsynode eingeladen hat – statt nur kirchennahe. Dabei will Papst Franziskus genau diese Wüstenerfahrung in die Synode hineinbringen!

Wir müssen aus den Palästen rauskommen.

Was haben diese Abwesenden der Kirche denn zu sagen?

Werlen: Viele, die sich verabschiedet haben, haben gute Gründe dafür: Sie verstehen die Sprache nicht, sie fühlen sich nicht angesprochen, sie können ihre Not nicht einbringen, sie haben verletzende Erfahrungen gemacht. Der heilige Benedikt sagt an die Adresse des Abtes: «Wenn ein Gast Kritik anbringt, überlege er sich klug, ob der Herr ihn nicht gerade deswegen geschickt hat.» Das ist eine Haltung, die gerade auf jene, die Kritik anbringen, zugeht.

Ist es nicht auch dafür bereits zu spät? Viele Kirchenferne haben kein Bedürfnis, der Kirche etwas zu sagen.

Werlen: Bei vielen ist tatsächlich nur noch Gleichgültigkeit da. Dennoch habe ich den Eindruck, dass Menschen leicht anzusprechen sind durch das, was uns als Kirche anvertraut ist, jedoch nicht in den kirchlichen Gefässen. Wenn ich im Zug oder per Autostopp unterwegs bin, gerate ich innerhalb von kurzer Zeit über Glaubensfragen ins Gespräch, auch mit kirchenfernen Menschen.

Kirchenvertreter müssten also direkter auf Menschen zugehen?

Werlen: Wir müssen aus der Sicherheit und aus den Palästen, in denen wir sind, rauskommen und ganz normal mit den Menschen unterwegs sein.

Aber es gibt doch sehr viele Kirchenvertreter, die das machen! Ich denke an kirchliche Gassenarbeit oder Seelsorge im Rotlichtmilieu.

Werlen: Selbstverständlich! Aber das wird in kirchlichen Kreisen, die Traditionen wichtiger nehmen als die Tradition, oft nicht geschätzt oder kaum als christliches Engagement wahrgenommen.

Was meinen Sie mit der Unterscheidung zwischen Tradition und Traditionen?

Werlen: Die Tradition ist die Treue zu Jesus Christus durch den Wandel der Zeit hindurch. Traditionen sind Ausdruckweisen, in einer konkreten Zeit diese Treue zu leben. Die Tradition dürfen wir nicht aufgeben. Aber Traditionen müssen aufgegeben werden, wenn sie der Tradition im Wege stehen.

Wo Menschen in Not sind, muss die Kirche ihre Stimme erheben.

Wenn man diese Unterscheidung machen würde, könnten Ihrer Meinung nach viele Probleme in der Kirche gelöst werden. Können Sie das erläutern?

Werlen: Wenn ein Bischof sagt: «Hier hat Kirche keine Kompetenz, dazu können wir nichts sagen», läutet bei mir eine Alarmglocke. Ich habe in der Heiligen Schrift noch keine Stelle gesehen, wo Menschen Gott oder Jesus begegnen und eine solche Antwort bekommen. Das würde der Haltung der Pharisäer entsprechen, die sagen: «Heute ist Sabbat und am Sabbat kann niemand geheilt werden.»

Bei Jesus steht der Mensch über dem Sabbat. In der Tradition Jesu zu stehen bedeutet also, dem Menschen in seiner Not zu helfen, damit er wieder aufatmen kann. Wo Menschen in Not sind, hat die Kirche die Pflicht, ihre Stimme zu erheben.

Sie stellen die Frage, ob man das barocke Kloster Einsiedeln nicht besser durch einen schlichten Neubau ersetzen sollte. Ist das Ihr Ernst?

Werlen: Ja. Dieses Gebäude verkündet eine Botschaft der Macht. Heute möchten wir jedoch eine andere Botschaft verkünden. Einer der wichtigsten Schritte von Papst Franziskus war sein Umzug vom Palast ins Gästehaus. Sein Einsatz für Arme und Flüchtlinge wäre nicht gleich glaubwürdig, wenn er nicht selber dieses Zeichen gesetzt hätte. Sollte das nicht auch für uns gelten?

Er hat den Vatikan aber nicht abgerissen.

Werlen: Dennoch müssen wir meines Erachtens tatsächlich in diese Richtung gehen. Ich habe diese Idee schon früher geäussert. Wir müssen darüber nachdenken und zumindest alles daransetzen, dass das Gebäude durchlässig wird, damit die Botschaft der Macht geschwächt wird. Ich bin überzeugt, dass eine Gemeinschaft an Glaubwürdigkeit gewinnt, wenn sie den Mut hat, loszulassen.

Solange Menschen das Evangelium leben, ist Kirche lebendig.

Die Blütezeit eines Ordens misst sich Ihrer Meinung nach an dessen Glaubwürdigkeit und nicht an der Anzahl Mitglieder. Können Orden und Kirche also ruhig untergehen, solange es Menschen gibt, die das Evangelium glaubhaft leben?

Werlen: Solange Menschen das Evangelium leben, ist Kirche lebendig. Sie lebt dort, wo sie mit christlichem Eifer gastfreundlich ist. Nicht nur bestimmten Gruppen gegenüber, sondern überall, wo jemand in Not ist. Aber auch dort, wo Menschen eine andere Haltung haben, wo Menschen uns herausfordern. In ihnen darf sie Gott begegnen. Selbstverständlich können viele Formen und Institutionen der Kirche untergehen, ohne dass das, was Kirche zutiefst ist, kaputtgeht.

Die Kirche hat Ihrer Meinung nach nicht zu missionieren, sondern «ihre Mission zu leben». Wie stehen Sie vor diesem Hintergrund zum «Mission Manifest»?

Werlen: Dass Menschen mit diesem Manifest versuchen, etwas zu einer lebendigen Kirche beizutragen, finde ich grundsätzlich gut. Mühe macht mir das selbstverständliche Gerede von «missionieren» und das Nichterwähnen des absichtslosen Glaubenszeugnisses im Alltag, besonders im Dasein für die Menschen in Not.

Solange wir missionieren, sind wir in einem Palast, von dem aus wir den Menschen sagen, was sie zu tun haben. Stattdessen sollen wir die Botschaft einbringen in dem, was wir leben. Missionieren ist etwas, was ich mache. Das Leben ist jedoch etwas, was ich teile. Mir anvertraut – auch für die anderen.


Martin Werlen | © Arnold Landtwing
15. Februar 2018 | 12:27
Lesezeit: ca. 4 Min.
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Das Buch «Zu spät»

In seinem neuen Buch «Zu spät. Eine Provokation für die Kirche. Hoffnung für alle» stellt der ehemalige Abt des Klosters Einsiedeln, Martin Werlen, eine radikale Diagnose für die Kirche und den Glauben heute: Die Kirche entfernt sich laut Werlen von den Menschen, ebenso beobachtet er eine lähmende Stagnation – und bei manchen die Hoffnung, dass trotz aller Abbrüche alles beim Alten bleiben möge.

Ein dramatisches Ereignis, eine wahre persönliche Begebenheit, die den Autor fast aus der Bahn geworfen hat, steht im Zentrum dieses autobiographisch geprägten Buches. Loslassen könne schmerzen, so Werlen in seinem Buch. Helfen könne nur, «in die Tiefe» zu gehen und den Glauben neu zu entdecken – an der Seite auch jener Menschen, in deren Leben «alles zu spät» ist. (ft/sys)

Martin Werlen, Zu spät. Eine Provokation für die Kirche. Hoffnung für alle. Herder 2018
ISBN: 978-3-451-37519-4