Eine Frau geht am Mittwoch, 23. Februar, an einer fotografischen Gedenkstätte für die Toten der Konfrontation zwischen dem ukrainischen Militär und den prorussischen Separatisten in der Ostukraine vorbei.
Schweiz

Martin Werlen: Russland ist das grössere ökumenische Problem als die Frauenfrage

Russland greift die Ukraine an – und die Orthodoxie ist wegen Moskau tief zerstritten. Die schwierigste Frage in der Ökumene sei nicht die Frauenfrage, sondern die «Unterordnung einer Kirche unter die Interessen eines kriegerischen Machthabers», sagt der Benediktiner Martin Werlen.

Raphael Rauch

Was können wir für den Frieden tun – ausser zu beten?

Martin Werlen*: Beten ist sehr viel. Das Gebet hilft mir, die Not der anderen Menschen wahrzunehmen und nach meinen Möglichkeiten mit ihnen auf dem Weg zu sein. Ich war nicht überrascht, als ich heute um 4 Uhr in der Frühe aufgewacht bin und vom Krieg erfuhr. So konnte ich in dieser schrecklichen Situation für so viele Menschen beten. Das Gebet hilft mir auch, Machtansprüche in meinem Herzen aufzudecken und unberechtigte loszulassen. Das lässt mich immer wieder kleine Schritte auf dem langen Weg des Friedens wagen. Ich bin dankbar, wenn ich das zusammen mit anderen Menschen hier in der Propstei St. Gerold lernen und leben darf.

Martin Werlen
Martin Werlen

Papst Franziskus will den Aschermittwoch als Fasttag für den Frieden verstanden wissen. Überzeugt Sie so ein Signal, das ja auch von Ohnmacht zeugt angesichts des Kriegsbeginns?

Werlen: Es ist ein starkes Zeichen in dieser Ohnmacht. Seit langem schon hat uns Papst Franziskus die Menschen in der Ukraine ans Herz gelegt. Ob sich der Patriarch von Moskau dem Aufruf von Papst Franziskus anschliesst? Ich hoffe es, wäre aber sehr überrascht. Das wäre tatsächlich ein grosser Schritt zum Frieden in der Ukraine. Denn er wäre die Person, die sehr vielen Menschen in Russland und in der Ukraine etwas zu sagen hätte – zum Schrecken des Potentaten.

«Die gegenseitigen überschwänglichen Ehrenbezeugungen sind geradezu auswechselbar.»

Danach sieht es nicht aus. Der russische Patriarch Kyrill I. hat Putin am Mittwoch zum «Tag des Verteidigers des Vaterlandes» gratuliert und sprach von der «glühenden Liebe zum Vaterland und Bereitschaft zur Selbstaufopferung». Zur Ukraine sagte er nichts.

Werlen: Wer in dieser Situation so schreibt, sagt sehr viel zu seiner Einstellung zur Krise in der Ukraine. Da muss sich leider niemand mehr fragen, für wen der Patriarch der russisch-orthodoxen Kirche einsteht. Zu seinem 75. Geburtstag erhielt er im vergangenen November die höchste staatliche Auszeichnung Russlands, überreicht von Präsident Wladimir Putin. Die gegenseitigen überschwänglichen Ehrenbezeugungen sind geradezu auswechselbar. Und, das ist tragisch: letztlich auch die Personen.

Tete-à-tete: Der russische Staatspräsident Wladimir Putin und der russisch-orthodoxe Patriarch Kyrill I.
Tete-à-tete: Der russische Staatspräsident Wladimir Putin und der russisch-orthodoxe Patriarch Kyrill I.

Welche Worte würden Sie von einem russischen Patriarchen erwarten, der von Putin abhängig ist?

Werlen: Wer von Putin abhängig ist, kann nicht mehr etwas anderes sagen, als dieser hören will. Das zeigten auch verschiedene Situationen in der inszenierten Beratung mit dem nationalen Sicherheitsrat. Selbst der starke Chef des russischen Auslandsgeheimdienstes wurde vom Präsidenten zurechtgewiesen und in aller Weltöffentlichkeit gedemütigt, weil er sich nicht so eindeutig ausdrückte, wie der Präsident das wollte. Die russisch-orthodoxe Kirche wird von Putin reich beschenkt. Der Patriarch hat offensichtlich nichts mehr zu sagen. Sein Aussenminister Hilarion tanzt diesen makabren Tanz mit. Mit der Theologin und Kirchenexpertin für Osteuropa Regina Elsner kann ich dazu nur sagen: Schrecklich!

Sie haben schon 2014 die Rolle der russischen Orthodoxie kritisiert. Gab es für Sie seitdem einen Hoffnungsschimmer?

Werlen: Damals wurde die Begegnung zwischen Papst Franziskus und Bartholomaios, dem Ehrenoberhaupt der orthodoxen Kirche, von oberster Stelle der Kirche in Russland – es war Metropolit Hilarion – lächerlich gemacht, weil der Patriarch von Konstantinopel nur 9000 Gläubigen vorstehe, der Patriarch von Moskau aber 130 Millionen Gläubigen. Solche Sprechweisen kenne ich aus der Zeit im Sandkasten. Die Kirche in Russland lebt wohl auch heute von tiefgläubigen Menschen. Sie sind für mich der Hoffnungsschimmer und nicht die Mächtigen, die sich von einem Kriegsverbrecher kaufen lassen.

Der Konflikt zwischen Kyrill I. (l.), Patriarch von Moskau, und Bartholomaios I. (r.), griechisch-orthodoxer Patriarch von Konstantinopel, dürfte andauern. Hier bei einem Treffen im August 2018.
Der Konflikt zwischen Kyrill I. (l.), Patriarch von Moskau, und Bartholomaios I. (r.), griechisch-orthodoxer Patriarch von Konstantinopel, dürfte andauern. Hier bei einem Treffen im August 2018.

Die Orthodoxie ist seit Jahren zerstritten. Zwischen dem ökumenischen Patriarchen Bartholomäus I. und Kyrill I. herrscht Eiszeit. Welchen Spielraum gibt es?

Werlen: Der Patriarch von Moskau spielt offensichtlich ein Machtspiel. Er hat sich seit Jahren aus allen Versammlungen und Kommissionen zurückgezogen, in der Konstantinopel den Vorsitz innehat. Moskau hat einseitig die Kommuniongemeinschaft mit Konstantinopel aufgekündigt und mit allen Kirchen, die mit Patriarch Bartholomais hinter der Anerkennung der Eigenständigkeit der orthodoxen Kirche in der Ukraine im Januar 2019 stehen. Das hat dazu geführt, dass Moskau jetzt in Afrika parallel eine orthodoxe Kirche aufbaut, die unter dem Patriarchen von Moskau steht – im Gebiet des Patriarchen von Alexandrien. Der Spielraum, der zu nützen wäre, ist der Mensch, für den die Kirche da ist. Dies würde zur Einheit führen. Machtspiele hingegen führen immer zu Spaltung und Verhärtung.

Papst Franziskus und der Moskauer Patriarch Kirill I., rechts Kardinal Kurt Koch, 2016.
Papst Franziskus und der Moskauer Patriarch Kirill I., rechts Kardinal Kurt Koch, 2016.

Der Schweizer Kurienkardinal Kurt Koch ist Ökumene-Minister im Vatikan. Er hat letzte Woche gesagt, die Frauenfrage sei die schwierigste Frage in der Ökumene. Wie sehen Sie das?

Werlen: Die schwierigste Frage in der Ökumene ist meines Erachtens nicht die Frauenfrage, sondern die Unterordnung einer Kirche unter die Interessen eines kriegerischen Machthabers, mit der wir theologisch keine Mühe haben sollen. Da fällt mir ein klares Wort von Johannes Paul II. zu Mt 25,35-36 ein: «Diese Aussage ist nicht nur eine Aufforderung zur Nächstenliebe; sie ist ein Stück Christologie, das einen Lichtstrahl auf das Geheimnis Christi wirft. Daran misst die Kirche ihre Treue als Braut Christi nicht weniger, als wenn es um die Rechtgläubigkeit geht.» Wer am Menschen vorbeigeht, besonders am Menschen in Not, verrät Christus. Es ist tragisch, wenn uns das theologisch keine Mühe bereitet.

Das Evangelium verkünden für Frieden und Versöhnung
Das Evangelium verkünden für Frieden und Versöhnung

Warum haben wir damit theologisch keine Mühe?

Werlen: Vielleicht darum, weil wir Theologie immer noch weitgehend als Systemerhalt betreiben. Aber Glaube ist Leben. Nicht im Gestern, sondern im Heute. Was Oscar Romero am 3. Dezember 1978 in einer Predigt sagte, ruft uns Papst Franziskus fast jeden Tag zu: «Wenn viele Menschen sich bereits von der Kirche entfernt haben, dann ist das darauf zurückzuführen, dass die Kirche sich zu weit von der Menschheit entfernt hat. Eine Kirche, die die Erfahrungen der Menschen als ihre eigenen verspürt, die den Schmerz, die Hoffnung, die Angst aller, die sich freuen oder leiden, am eigenen Leib verspürt, diese Kirche wird zum gegenwärtigen Christus.» Das müssen wir als Kirche – die Gemeinschaft aller Getauften – wohl erst so richtig entdecken und leben.

Was erwarten Sie nun von Kurt Koch?

Werlen: Ich freue mich mit allen Gott-Suchenden, wenn diese existentielle Dimension auch immer mehr die Ökumene bestimmt. Wir sollten den Mut haben, von den Machtspielen, die uns leider auch in unserer Glaubensgemeinschaft bekannt sind, auf ökumenischer Ebene Abstand zu nehmen und uns miteinander in den Dienst der Menschen stellen, die Gott uns anvertraut.

* Der Benediktiner Martin Werlen (59) war von 2001 bis 2013 Abt des Klosters Einsiedeln und des Klosters Fahr. Seit 2020 steht der Walliser der Einsiedler Propstei St. Gerold im Grossen Walsertal in Vorarlberg vor. 


Eine Frau geht am Mittwoch, 23. Februar, an einer fotografischen Gedenkstätte für die Toten der Konfrontation zwischen dem ukrainischen Militär und den prorussischen Separatisten in der Ostukraine vorbei. | © Keystone
24. Februar 2022 | 09:04
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