Mario Pinggera, Pfarrer und Dozent für Kirchenmusik
Story der Woche

Mario Pinggera: «Bischof Joseph Bonnemain weicht den heissen Eisen aus»

Der Pfarrer Mario Pinggera (52) wünscht sich von Bischof Joseph Bonnemain (73) mehr Mut. Ein Gespräch über Bonnemains Personalpolitik, den neuen Verhaltenskodex – und warum er die Regenbogenpastoral im Bistum Basel für einen Etikettenschwindel hält.

Raphael Rauch

Wären Sie gerne Bischof von Chur geworden? Ihr Name stand auf einer der vielen Listen.

Mario Pinggera*: Jeder, der ein bisschen vernünftig denkt, strebt dieses Amt nicht an. Klar ist aber auch: Wenn eine Anfrage kommt, darf man nicht Nein sagen.

Bischof Joseph Bonnemain ist seit einem Jahr im Amt. Wie ist er?

Pinggera: Was ich sehr angenehm finde: Es gibt wieder eine Vertrauensbasis. Die alte Bistumsleitung hatte schon länger kein Vertrauen mehr. Joseph nutzt nun dieses Vertrauen. Landauf, landab sind die Leute von ihm begeistert. Der Kontakt mit den Menschen – das liegt ihm.

«Mitarbeitende sollen nicht mehr nach ihrem Privatleben gefragt werden.»

Was liegt ihm nicht?

Pinggera: Der Bischof weicht den heissen Eisen aus. Nehmen wir «OutInChurch». Der Bischof von Basel hätte hier längst vorwärts machen können – tut es aber nicht. Und von Joseph hört man hier auch nichts. Ich denke, er muss jetzt liefern. Nächste Woche unterschreibt er einen Verhaltenskodex, in dem auch steht: Mitarbeitende sollen nicht mehr nach ihrem Privatleben gefragt werden. Wenn das nicht auch für Mitarbeitende mit Missio gilt, ist der Verhaltenskodex unglaubwürdig und für den Papierkorb.

Bischof Joseph Bonnemain äussert sich extern moderater als intern.

Pinggera: Für mich ist klar: Joseph muss sich entscheiden. Entweder er will den Verhaltenskodex. Oder er will ihn nicht. Wenn er ihn unterschreibt, darf kein Generalvikar oder sonst wer mehr nach der Lebensform fragen. Ich kann mir auch nicht vorstellen, dass ein bischöflicher Auftrag etwas mit dem Schlafzimmer zu tun hat.

Bischof Joseph Bonnemain küsst den Altar der Churer Kathedrale.
Bischof Joseph Bonnemain küsst den Altar der Churer Kathedrale.

Warum hat die Kirche immer noch ein Problem mit Sex?

Pinggera: Die Kontrolle von Sexualität ist ein Machtinstrument. Das ist auch in vielen Diktaturen so. In der DDR hat die Stasi Gerüchte über Homosexualität ausgenutzt, um daraus Kapital zu schlagen. Die katholische Kirche ist nicht die einzige Institution, die jahrhundertelang versucht hat, die Sexualität zu kontrollieren.

Was erwarten Sie von Bischof Joseph Bonnemain?

Pinggera: Ein Bischof ist kein Filialleiter, der einfach nur nach Rom schaut. Sondern sein Job ist es, zu überlegen: Wie kann ich in meiner Diözese Jesus zu den Menschen bringen? Dafür hat er wunderbare Seelsorgerinnen und Seelsorger. Und wenn die alle sagen: Rom steht uns im Weg, das Evangelium zu leben, dann handle ich als Bischof.

«Die Sexualmoral der katholischen Kirche hat nur wenig mit der Realität auf dieser Welt zu tun.»

Ist es von einem 73 Jahre alten Bischof, der vom Opus Dei geprägt wurde, nicht zu viel verlangt, bei der Sexualmoral mutig voran zu gehen?

Pinggera: Wer, wenn nicht Joseph sollte in der Bischofskonferenz mutig vorangehen? Er ist Arzt und langjähriger Eherichter. Er weiss ganz genau, dass die Sexualmoral nicht nur der katholischen Kirche nur wenig mit der Realität auf dieser Welt zu tun hat. Und eine Karriere im Vatikan strebt er wohl kaum an. Von daher könnte er hier wirklich mutig voran gehen.

Papst Franziskus empfängt die Bischöfe der Schweiz 2021 im Vatikan.
Papst Franziskus empfängt die Bischöfe der Schweiz 2021 im Vatikan.

Warum tut er’s nicht?

Pinggera: Ich denke, er will keinen Alleingang in der Schweiz machen. Wenn die anderen deutschsprachigen Bistümer mitziehen würden, wäre Joseph sicher auch mutiger. Aber wenn sich das nicht einmal das Bistum Basel traut?

Das Bistum Basel hat eine Regenbogenpastoral. Zugleich hält das Bistum Basel an der Regelung fest: «Es ist in der Regel nicht möglich, in einen kirchlichen Dienst, der eine ›missio canonica’ voraussetzt, neu aufgenommen zu werden, wenn die betreffende Person in einer gleichgeschlechtlichen Partnerschaft lebt.»

Pinggera: Die Regenbogenpastoral des Bistums Basel ist ein Etikettenschwindel. Man kann nicht eine Regenbogenpastoral einführen, gleichzeitig einem Spitalseelsorger in Luzern aber die Missio verweigern, weil er schwul ist. Das ist völlig unglaubwürdig. Wir leben in der Schweiz im Jahr 2022, hier gilt bald die «Ehe für alle» und schon länger ein Anti-Diskriminierungsgesetz. Ich finde es peinlich, dass manche in der Kirche meinen, die staatlichen Gesetze könnten ihnen egal sein.

«Überhaupt sollte die Kirche zum Thema Sex schweigen.»

Fürchten Sie auf die Kirche eine Klagewelle zukommen?

Pinggera: Keine Klagewelle, aber früher oder später wird das zum Thema: Darf sich die katholische Kirche Dinge erlauben, die dem Schweizer Recht widersprechen? Und da nehme ich als Verantwortlicher doch lieber den Wind aus den Segeln und passe die Regeln an – als dass ich mich ständig angreifbar mache. Überhaupt sollte die Kirche zum Thema Sex schweigen. Kirche ist hier weder kompetent noch glaubwürdig.

Wie beurteilen Sie Bonnemains Personalpolitik?

Pinggera: Mich hat Bischof Amédée Grab geweiht. Er hat gesagt: Mein bester Mann sitzt im Priesterseminar – gemeint war Josef Annen. Ich verstehe nicht, warum Joseph Bonnemain sagt: St. Luzi ist das Herz der Diözese. Und dann tut sich aber nichts. Der Regens heisst nach wie vor Martin Rohrer.

Regens Martin Rohrer (links) und Ex-Spiritual Andreas Ruf.
Regens Martin Rohrer (links) und Ex-Spiritual Andreas Ruf.

Was haben Sie gegen Martin Rohrer?

Pinggera: Weihbischof Marian Eleganti hatte den Anstand, das Regensamt zu quittieren, als Bischof Vitus Huonder Männer gegen den Rat des Regens zu Priestern geweiht hat. Martin Rohrer hat das hingenommen. Ich finde: Genau hier hört der Gehorsam auf. Ist nichts Neues, nur zutiefst benediktinisch.

Die Hochschule Chur steht vor einem Dilemma: Wird sie zu liberal, könnte sie Priesteramtskandidaten an konservative Priesterseminare wie Heiligenkreuz verlieren.

Pinggera: Diese Gefahr sehe ich nicht. Wir hatten ja erst eine Priesterweihe in Chur mit drei sehr valablen Kandidaten. Und selbst wenn sich die Zeiten ändern? An der Ausbildungsstätte braucht es die besten Köpfe. Punkt.

«Bischof Joseph will wirklich niemanden ausschliessen.»

Dompfarrer Gion-Luzi Bühler geht Bischof Joseph Bonnemain nach wie vor aus dem Weg. Er nannte Bonnemain die «grösste Priesterenttäuschung seines Lebens». Verstehen Sie, dass Bonnemain ihn als Dompfarrer im Amt behält?

Pinggera: Mein Eindruck ist, dass Joseph wirklich niemanden ausschliessen will und die Hand bewusst ausgestreckt lässt.

Ist das menschliche Grösse oder Angst davor, Konsequenzen zu ziehen?

Pinggera: Menschliche Grösse. Es wäre ein Leichtes, hier einen Schlussstrich zu ziehen und zu sagen: Nein, ich kann dich hier nicht mehr gebrauchen. Aber wie heisst es in der Bibel? Nicht Sieben, sondern 77 Mal soll seinem Nächsten vergeben. Ich denke, Joseph tickt so. Er will die Polarisierung nicht verstärken und gibt die Hoffnung nicht auf.

Synodaler Prozess im Bistum Chur
Synodaler Prozess im Bistum Chur

Was sagen Sie zum synodalen Prozess?

Pinggera: Zu unserer Veranstaltung in der Pfarrei sind 15 Leute gekommen – wir konnten also drei Gruppen à fünf Personen bilden, um die «Wir sind Ohr»-Fragen zu beantworten. Das zeigt, wie wenig attraktiv solche Prozesse sind.

Waren die Fragen zu kompliziert?

Pinggera: Die Fragen waren vor allem zu weltfremd. Der Generalvikar von Konstanz hat Anfang des 19. Jahrhunderts ähnliche Themen diskutiert. Wer hat ernsthaft Lust, sich im Jahr 2022 mit solchen Fragen auseinanderzusetzen?

* Mario Pinggera (52) ist Pfarrer von Richterswil und Dozent für Kirchenmusik an der Theologischen Hochschule Chur.


Mario Pinggera, Pfarrer und Dozent für Kirchenmusik | © Raphael Rauch
1. April 2022 | 09:00
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