Mario Delfino vor dem früheren Pfarrhaus von Ernst Sieber
Porträt

Mario Delfino: «Bruder Richard zwang mich im Beichtstuhl zu sexuellen Handlungen»

Der heute 67-Jährige ist als Jugendlicher geschlagen, gedemütigt und sexuell missbraucht worden. Und zwar durch Ordensmänner, welche die Arbeitserziehungsanstalt in Bad Knutwil LU führten. Endlich in Freiheit, half ihm der Zürcher Obdachlosenpfarrer Ernst Sieber, im Leben Fuss zu fassen. «Das war ein Lottosechser», sagt Mario Delfino. 2019 war er in Privataudienz bei Papst Franziskus.

Regula Pfeifer

Das Treffen bei der reformierten Kirche Zürich-Altstetten weckt bei Mario Delfino Erinnerungen. Am Tisch draussen vor dem «Chile-Kafi» legt der temperamentvolle 67-Jährige gleich los: «Zu jenem Haus hat mich ein Hells Angel mit seinem Töff gefahren», sagt er und zeigt auf das Riegelhaus vis-a-vis.

Da kam er bei Pfarrer Ernst Sieber unter, dem bekannten Zürcher Obdachlosenpfarrer. Doch im ersten Moment wollte er rasch wieder weg. Kirchenmänner waren ihm ein Gräuel, nach seinen traumatischen Kindheitserfahrungen. Doch der Hells Angel überredete ihn: Der Pfarrer sei ein guter.

Pfarrer Ernst Sieber taufte später Mario Delfinos Sohn.
Pfarrer Ernst Sieber taufte später Mario Delfinos Sohn.

So schlief Mario Delfin die erste Nacht unter Siebers Bürotisch – und blieb ein paar Jahre im Pfarrhaus wohnen. Dabei konnte er im Leben Fuss fassen und eine Lehre als Maurer abschliessen.

Erste Kindheit im Waisenhaus

Sein Start ins Leben war denkbar schwierig gewesen. Aufgewachsen in einem Waisenheim in Bergamo, wurde er als Fünfjähriger von einem Paar adoptiert und bekam seinen heutigen Namen. Er wohnte nun in Thalwil, ging zur Schule. Bereits mit acht Jahren schoben ihn die Adoptiveltern wieder ab in ein Kinderheim in Altdorf. «Bei den Ordensfrauen habe ich den lieben Gott kennen gelernt, das war mein Freund, mein Beschützer», sagt Mario Delfino.

Mario Delfino (ganz links) in der Schulklasse in Thalwil
Mario Delfino (ganz links) in der Schulklasse in Thalwil

Er wird vom Glockengeläut der nahen reformierten Kirche unterbrochen. Ein Wechsel ins «Chile-Kafi» hinein ist angebracht. Dort erzählt er weiter.

Die Ordensfrauen wollten ihn zu den Adoptiveltern zurückbringen. Das misslang. Der damals 11-Jährige klaute eine Geldkassette, gab sie aber wieder retour. Doch er war erwischt worden. Der Jugendanwalt beschloss: Er musste in die Arbeitserziehungsanstalt Bad Knutwil. «Das war brutal: Die Polizei  kam auf den Schulhausplatz und legte mir Handschellen an, mir, dem elfjährigen Kind», sagt Delfino entrüstet.

Der Lehrer, ein gewaltätiger «Sadist»

Im Oktober 1968 wurde er im Polizeiwagen nach Bad Knutwil gefahren. «Dort wurden mir zuallererst die Haare geschoren und ein braunes Übergewand angelegt», sagt Mario Delfino. «Ich war nun Nummer 119 – und wurde fortan nur noch so angesprochen.»

Die Anstalt wurde damals von deutschen Ordensmännern geführt. Der Teenager erlebte Gewalt und Missbrauch. Der Lehrer, Bruder Viktor, stellte die Jungen bloss, schlug sie auf den Kopf, auf die Finger. «Er war ein Sadist», sagt Mario Delfino. «Wir bluteten überall.» Es gab Kollektivstrafen wie: Alle mussten in Unterhosen in der Kälte draussen stehen.

Rosenkranz auf einem zerstörten Kinderfoto.
Rosenkranz auf einem zerstörten Kinderfoto.

Sexuelle Übergriffe mit dem Rosenkranz in der Hand

Als Mario 13 war, kam es noch schlimmer. Gruppenleiter Bruder Richard trat gegen elf Uhr nachts ins Zimmer und befahl fünf Jungen, ihm zu folgen. Im Gang mussten sie der Reihe nach hinstehen – vor dem Ordensmann mit dem Rosenkranz in der Hand. «Er hat uns von hinten ans Fudi gelangt», sagt Mario Delfino kopfschüttelnd. Dann musste einer der Buben mitgehen in ein Zimmer. «Dort berührte er uns und wir mussten ihn berühren.» Delfino schiessen Tränen in die Augen: «Das war so schlimm, so schambehaftet. Wir wussten ja gar nicht, was das sollte.»

Die traumatischen Erinnerungen wühlen Mario Delfino auf - im Chile-Kafi in Zürich-Altstetten.
Die traumatischen Erinnerungen wühlen Mario Delfino auf - im Chile-Kafi in Zürich-Altstetten.

Als Ministrant musste er noch mehr Übergriffe erleben. War er vor dem Dienst mit Bruder Richard allein in der Kirche, schloss dieser ab und zwang ihn im Beichtstuhl zu sexuellen Handlungen. «Das ist Machtmissbrauch, das ist ein Alptraum», ruft Mario Delfino aus. «Als Kind getrauten wir uns nicht Nein zu sagen, aus Angst vor Strafen.»

Zimmerkollege erhängt sich

Eines Nachts gab es einen Knall und einen Riesenschreck. Marios Zimmerkamerad hatte sich erhängt, die Buben weinten. Bruder Richards Reaktion: Prügel. Danach sei er «seelisch tot» gewesen, sagt Mario Delfino. Er sprach nicht mehr, war apathisch, nässte ins Bett. Und er wollte sich mit Tabletten das Leben nehmen. «Man hat mich halb bewusstlos gefunden.» Doch statt Hilfe zu erhalten, erlitt er einen erneuten Übergriff.

Mario Delfinos Freiheitssymbol: eintätowierter Schmetterling
Mario Delfinos Freiheitssymbol: eintätowierter Schmetterling

Er kam in die psychiatrische Klinik St. Urban, wurde mit Medikamenten ruhiggestellt. Von da floh er, kam kurz ins Gefängnis – und zurück nach Bad Knutwil. In der Anstaltsbibliothek entdeckte er ein Buch mit einem schönen Schmetterling darauf. Dieser wurde zu seinem Freiheitssymbol, das er sich mit Tinte auf den Arm tätowierte. Mit einem Anstaltskollegen haute er ab, kam nach Paris, Marseille und Turin, wurde mehrmals verhaftet – und schliesslich von Chiasso zurück nach Bad Knutwil gebracht.

Polizeieinsatz verhilft zur Freilassung

Übergriffe erlebte er nun keine mehr. Er arbeitete auf dem anstaltseigenen Bauernhof. An einem Besuchstag kam der Vater eines jenischen Mitinsassen und entdeckte die Verletzungen bei den beiden Buben. Kurz darauf «flog aus dem Büro des Direktors die Schreibmaschine durchs Fenster», wie Mario Delfino belustigt erzählt. Die Polizei rückte an. Einer davon sprach ihn an – und erfuhr von den Misshandlungen. Drei Wochen später wurde Mario Delfino aus der Anstalt entlassen, durfte Kleider aus einem Korb aussuchen und erhielt ein Zugsbillet nach Thalwil.

Polizei-Einsatz
Polizei-Einsatz

Doch die Adoptiveltern schlugen «dem Kriminellen», wie sie sagten, die Türe vor der Nase zu. Er polterte dagegen an und kam wieder in Polizeigewahrsam. Und wieder zum Jugendanwalt. Dort nahm ihn eine Frau beiseite. Und fragte ihn – als erster Mensch überhaupt – wie es ihm gehe. Es war eine Ordensfrau, wie Mario Delfino später erfuhr. Diese setzte sich dafür ein, dass er in Freiheit kam.

Die gute Ordensfrau

«Ist das nicht schön?», unterbricht er seine Erzählung. «Es gibt auch gute Menschen in der katholischen Kirche.» Der jugendliche Mario Delfino fuhr also nach Zürich, lebte kurz unter Obdachlosen – und wurde schliesslich vom besagten Hells Angel zu Pfarrer Sieber gebracht.

Papst Franziskus begrüsst Mario Delfino
Papst Franziskus begrüsst Mario Delfino

Privataudienz beim Papst

Er heiratete, wurde Sicherheitsmann und später Hauswart an Schulen. Seine schlimmen Erinnerungen behielt er für sich, auch privat. Bis ihn der Aktivist und Unternehmer Guido Fluri bat, an einer Privataudienz bei Papst Franziskus teilzunehmen. Gesprächsthema waren Missbräuche in der Katholischen Kirche der Schweiz. Das war Anfang März 2019. Danach trat Mario Delfino mit seiner Erfahrung auch öffentlich auf. Bis heute hält er Vorträge an Pädagogischen Hochschulen. «Ich mache das für meinen Kollegen, der sich erhängt hat», sagt er.

Der pensionierte Hauswart begleitet als Freiwilliger Schullager. «Sie fragen mich immer wieder», sagt er. Und er fügt mit mildem Lächeln an: «Kinder sind manchmal wild. Aber sie sind unantastbar.» Deutet ein Kind an, dass es Gewalt oder Übergriffe erleidet, wird er aktiv.

«Die katholischen Kirchenoberen sollten mehr Demut zeigen und zu den Armen hingehen.»

Und was hält er von der Pilotstudie zum Missbrauch in der Kirche, die demnächst publiziert wird? «Ich bin dankbar für alle, die sich gegen Missbrauch einsetzen», sagt Mario Delfino. «Von den katholischen Kirchenoberen bin ich enttäuscht. Sie sollten mehr Demut zeigen und zu den Armen hingehen.»

Schweizer Missbrauchsbetroffene hatten im März 2019 Privataudienz beim Papst. Hier (v.l.) Guido Fluri, Kurt Koch, Mario Delfino und eine weitere Missbrauchsbetroffene.
Schweizer Missbrauchsbetroffene hatten im März 2019 Privataudienz beim Papst. Hier (v.l.) Guido Fluri, Kurt Koch, Mario Delfino und eine weitere Missbrauchsbetroffene.

Kardinal Kochs Empfehlung

Finanzielle Wiedergutmachung hat er von der Kirche erhalten. Doch zuerst sei er abgewimmelt worden. Erst als er sagte, Kardinal Kurt Koch habe ihm das empfohlen, sei die Bereitschaft gestiegen – und er erhielt das Geld in Kürze. «Das finde ich aber nicht in Ordnung so», stellt er klar.

«Was ich betonen möchte», sagt Mario Delfino zum Schluss seiner Erzählung: «Mir geht es heute gut». Dies im Unterschied zu einigen seiner Weggefährten, die sich nie von ihrem Kindheitstrauma erholten. Der 67-Jährige ist verheiratet, hat einen Sohn und einen Enkel.

Gewalt und Missbrauch in der «Erziehungsanstalt für Schwererziehbare» in Bad Knutwil

Wie die Online-Plattform «Gesichter der Erinnerung» schreibt, wurde über die «Erziehungsanstalt für Schwererziehbare» in Bad Knutwil mehrfach von systematischer sexueller Gewalt an Jugendlichen berichtet, verübt durch Ordensbrüder und Pfarrer. Demnach standen in den 1940er-Jahren Ordensbrüder der Anstalt vor Gericht, denen sexueller Missbrauch von Jugendlichen vorgeworfen wurde. Auch in den darauffolgenden Jahrzehnten bis zum Rückzug der Ordensbrüder von La Salle im Jahr 1973 sind Missbräuche bekannt – und mindestens ein damit zusammenhängender Suizid. Die geschilderten Erlebnisse von Mario Delfino fallen in die Zeit kurz vor dem Rückzug der Ordensbrüder aus der Erziehungsanstalt. Delfino ist selbst engagiert bei der Plattform «Gesichter der Erinnerung», gemeinsam mit weiteren Betroffenen und Historikerinnen und Historiker. Auf der Plattform sind auch Videos von Betroffenen zu sehen. (cm)

Anlaufstellen für Missbrauchsbetroffene

Eine Liste mit kirchlichen und weiteren Anlaufstellen für Missbrauchsbetroffene ist hier zu finden.

Für eine unabhängige Beratung ist die «Opferhilfe Schweiz» zu empfehlen.

Wer die eigene Geschichte öffentlich machen möchte, kann sich an die Redaktion von kath.ch wenden. Diese betreibt einen kritischen und unabhängigen Journalismus. Die Redaktions-Mailadresse lautet redaktion@kath.ch.


Mario Delfino vor dem früheren Pfarrhaus von Ernst Sieber
29. August 2023 | 17:00
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