Schwester und Buchautorin Sophia Weixler.
Konstruktiv

Ordensschwester schreibt Psalmen-Buch über Missbrauch: «Muss wieder lernen, dass eigene Seele Würde besitzt»

Die deutsche Ordensschwester Sophia Weixler (28) erlebte spirituellen und sexuellen Missbrauch. Ihr Trauma versucht sie mit Hilfe persönlich verfasster Psalmengebete zu verarbeiten. Diese sind in ihrem Buch «Ich atme Hoffnung» nachzulesen. «Gott ist ein Gegenüber für Unaussprechliches», sagt die Vinzentinerin.

Wolfgang Holz

«Du meine Hilfe, alle sind gegen mich, ich weiss nicht weiter. / Die Stimmen in meinem Kopf reden mir ein, dass es die Ewige Liebe nicht gibt. / Mein Herz weiss, dass ich in Dir geborgen bin. Ich kann lernen zu lieben, auch mich selbst. / Ich kann aufrecht stehen. / Ich schreie zu ihr und er hat mir geantwortet. Ich sehe, woran ich vorbei gehastet bin. / Ich konnte nicht mehr und legte mich auf den hart-kalten Boden. Meine Augen fielen zu, nur mit der Kraft der Trösterin konnte ich wieder aufstehen. / Obwohl alle gegen mich sind, bleibe ich aufrecht. / Du meine Ermutigerin, lass mich Dich spüren, hilf mir. Ich habe Deinen zärtlichen Hauch schon gespürt, nichts konnte mich vernichten. / Du bist meine einzige Helferin. Dein freundliches Wort bewohnt mich.» (Psalm 3: «Ich muss hier raus» aus dem Buch «Ich atme Hoffnung»)

Schwester Sophia, der obenstehende Psalm stammt aus Ihrem ungewöhnlichen Buch. Was war der Auslöser für das Buch?

Schwester Sophia Weixler*: Ich wollte nie ein Buch schreiben. Meine Psalmen sind im Gebet entstanden. Während der Ordensausbildung bekamen wir einmal die Aufgabe, einen Psalm, den wir gerne mögen, in unseren Worten zu formulieren. Es blieb nicht bei einem Psalm. Die Beterinnen wurden mir zu Freundinnen. Ich begegnete Menschen, welche die ganze Bandbreite menschlicher Erfahrungen und Emotionen zum Ausdruck bringen konnten. Vor Gott hat Dank, Hass, Freude, Leid, etc. Platz, weil Gott für mich ein mitfühlender Gott ist. Ein Gott, der nicht alles begradigt oder gar das Geschehene Ungeschehen machen würde. Nein! Er ist ein Gegenüber für Unaussprechliches. Ihm kann ich alles zumuten. 

«Ich spürte den Wunsch, Gotteserfahrungen weitergeben zu können an Menschen, denen die Worte dafür fehlen.»

Und bezogen auf das Buch?

Weixler: Schlussendlich waren es Begegnungen mit Menschen, die aus meinen persönlichen Gebeten geteilte Texte entstehen liessen. Menschen, die mich ermutigten, die aus einer Idee eine Wirklichkeit werden liessen. In der Entstehung spürte ich den Wunsch, Gotteserfahrungen weitergeben zu können an Menschen, denen die Worte dafür fehlen. Die selbst Leid erfahren haben. Die anderen im Leid beistehen oder die schuldig geworden sind an Menschen. 

Schwester Sophia Weixler
Schwester Sophia Weixler

Haben Sie schon Rückmeldungen darauf erhalten?

Weixler: Ich finde die Frage etwas irritierend. Das Buch ist seit 6. Februar veröffentlicht. Ich habe natürlich von Mitschwestern, Freunden, Bekannten und anderen die unterschiedlichsten Rückmeldungen bekommen. 

«Die Schwierigkeit liegt eher darin, diese Wahrheit in sich selbst zuzulassen.»

Sie haben spiritualisierte und sexualisierte Gewalt erfahren. Wie gross war der Schock für Sie darüber?

Weixler: Ich war nicht schockiert darüber, dass mir dies widerfahren ist. Denn ich war ja selbst dabei. Die Schwierigkeit liegt ja eher darin, diese Wahrheit in sich selbst zuzulassen. Als Überlebende schafft man es in den leidvollen Situationen sich abzuspalten, zu dissoziieren. Sprich: die Erlebnisse so weit von der eigenen Identität zu trennen, um überleben zu können. Schockierend ist vielmehr, dass erstens so wenig Taten in Deutschland strafrechtlich weiter als bis zum Ermittlungsverfahren verfolgt werden – meistens aufgrund mangelnder Beweise. Und zweitens, wie die Kirche mit diesen beiden Formen der Gewalt umgeht.

Das Buch von Sophia Weixler
Das Buch von Sophia Weixler

Was wollen Sie damit sagen?

Weixler: Ich will damit sagen, dass Aussagen wiederholt vorgetragen werden müssen, obwohl sie schon schriftlich vorliegen. Vor Priestern etwa – wobei Betroffene oftmals das Leid durch eine Person dieser Berufsgruppe erlebt haben. Die Verfahren ziehen sich zudem über Jahre hin. Womit verhindert wird, dass Betroffene sich wenigstens prozessual beruhigen können. 

Hat Ihnen das Buch geholfen, Ihre Missbrauchserfahrungen seelisch zu verarbeiten?

Weixler: Da ich, wie oben erwähnt, nie ein Buch schreiben wollte, konnte das Buch mir auch nicht helfen. Was geschehen ist, ist geschehen. Zunächst einmal braucht es eine Würdigung: Die Erfahrung, das Leid in der Situation. Und durch die Folgen, durch die verschiedenen Prozesse hindurch dem Schweigen ein Ende zu bereiten – es ist wahr! Unabhängig davon, ob das, was in der Presse steht, wie das Ermittlungsverfahren ausgeht – es ist Unrecht geschehen. Während der Aufarbeitung geht es vor allem darum, Handlungsweisen zu erlernen, die einem in diesen Situationen gefehlt haben, um in Zukunft in ähnlichen Situationen handlungsfähig zu sein. Und natürlich darum, einen Umgang mit sonstigen Symptomen zu erlernen.

«Wo Spiritualität ein Machtinstrument wird, wird die Seele unsäglich verletzt.»

Haben Ihnen dabei die Psalmengebete geholfen?

Weixler: Das Gebet war für mich in der Zeit, in der meine Texte entstanden, sowohl Herausforderung als auch Stütze. Wo Spiritualität ein Machtinstrument wird, wird die Seele unsäglich verletzt und führt zu starken Irritationen in der Begegnung mit Gott. Man muss wieder lernen, dass die eigene Seele eine Würde besitzt, und niemand sonst Zugriff auf die Seele haben darf. Wenn der Hass und die Wut nicht allein auf einen selbst projiziert wird, dann bleibt es nicht aus, dass er auf Gott projiziert wird. Denn – man muss erst wieder entdecken, dass nicht Gott der «Missbraucher» der Seele war, sondern ein Mensch. Die Psalmen waren für mich ein Weg, mit Gott in Beziehung zu bleiben, Resonanz zu erfahren, meine Würde, mich von ihm als Geliebte und Gerufene zu erleben. 

Das Kloster Untermarchtal in Baden-Württemberg.
Das Kloster Untermarchtal in Baden-Württemberg.

Waren Sie sehr enttäuscht darüber, dass Ihr Ermittlungsverfahren eingestellt wurde – wie Sie im Nachwort Ihres Buchs schreiben? Warum ist es offenbar so schwer, dass einem Opfer Vertrauen geschenkt wird?

Weixler: Oft bekam ich den Satz zu hören: Gottes Gerechtigkeit ist grösser. Wir können hier auf Erden nicht seine ganze Gerechtigkeit erfahren. Dem stimme ich zu und kann ihn als Trost annehmen. Zunächst erhofft man sich aber als Betroffene die Anerkennung des erfahrenen Leids. Das Strafgesetzbuch hat verschiedene Funktionen: Die Bevölkerung beziehungsweise Rechtsgüter zu schützen und den Täter zu bestrafen, damit er sich bessere. Ich sage hier bewusst Täter, denn rund 85 Prozent der Verurteilten sind Männer. In Deutschland wird derzeit eine Überarbeitung beziehungsweise Ausweitung des Paragraphen 174c des Strafgesetzbuches in Betracht gezogen, damit auch Missbrauch in religiösen und weltanschaulichen Institutionen bestraft werden kann. Diese Reformbemühungen kann ich nur befürworten.

«Kirchliche Institutionen oder kirchliches Personal dürfen in staatlichen Prozessen nicht mehr weiter bevorzugt behandelt werden.»

Missbrauch ist in der katholischen Kirche ein grosses Thema. Was müsste aus Ihrer Sicht geschehen, damit man den Missbrauch wirklich eindämmen kann?

Weixler: Das Thema Missbrauch ist nicht erst seit 2010 bekannt. Bereits 100 Jahre zuvor wurde darüber in kirchlichen Leitungsgremien diskutiert, wie man mit Tätern und Überlebenden umgehen sollte. Ein Ansatz ist sicherlich die Umsetzung im Strafgesetzbuch und eine «Ja heisst Ja»-Regelung wie in Spanien bezüglich aller Sexualstraftaten. Kirchliche Institutionen oder kirchliches Personal dürfen in staatlichen Prozessen nicht mehr weiter bevorzugt behandelt werden.

«Die Leitungsebenen müssten allesamt ersetzt werden.»

Weiterhin darf es nicht mehr sein, dass die Staatsanwaltschaft Akten nur auf Bitte erhält. Wie bei anderen grossen Unternehmen müssen Beschlagnahmungen möglich sein. Ausserdem müssten die Leitungsebenen allesamt ersetzt werden.

Schwester Sophia Weixler (links) mit Schwester Franziska Rehlinger.
Schwester Sophia Weixler (links) mit Schwester Franziska Rehlinger.

Harter Tobak…

Weixler: Eine Kurskorrektur mit denselben Kapitänen und demselben Kartenmaterial ist für mich nicht denkbar. Es dürfte nicht mehr möglich sein, dass ein kirchenrechtlich ergangenes, diözesanes Urteil bei den Dikasterien in Rom einfach wieder aufgehoben wird. Die Dikasterien sollten nicht wie ein Supreme-Court agieren dürfen, sondern formelle Verfahrensfehler prüfen können. Eine weitere Rolle spielt sicher die Identität und das Rollenverständnis von Priestern. Oftmals frage ich mich, ob das unsägliche Bemühen um Prävention möglich ist, wenn die Aufarbeitung noch nicht konsequent genug umgesetzt wurde. Was jede und jeder aber tun kann: Sich bewusst zu machen, Jesus ist der Retter – nicht ich! Die Menschen suchen Gott, nicht mich. 

«Es ist wie beim Verlieben: Man weiss nicht, warum jetzt.»

Warum haben Sie sich eigentlich dazu entschieden, ins Kloster einzutreten?

Weixler: Eintreten klingt in meinen Ohren immer sehr hart. Für mich hat es mit Liebe zu tun. Die Erfahrung, dass andere von dieser Liebe berührt wurden und zu leben versuchen, was sie berührt hat. Und dann selbst diese Anziehung zu spüren. Es hat weniger mit einem akustisch hörbaren Ruf zu tun, als mit einer inneren Stimme, die stärker wird und den Zweifeln und durchaus nachvollziehbaren Gegenargumenten gegenübersteht. Es ist wie beim Verlieben: Man weiss nicht, warum jetzt.

Impressionen aus Tansania.
Impressionen aus Tansania.

Hat Ihre Entscheidung auch damit zu tun, dass Sie in Afrika mit Ordensschwestern zusammengelebt haben?

Weixler: In meinem Auslandsjahr in Tansania haben mir die Schwestern von ihrer Begeisterung erzählt, und ich habe im Alltag erlebt, dass sie genau diese leben möchten und mit anderen Menschen teilen möchten. Zum Beispiel mit mir. Eine Schlüsselsituation war die Frage einer Schwester: Was hindert Dich? Und ich spürte, dass ich darauf keine Antwort mehr hatte. Und so begann ich den Weg mit dem Gedanken: Ich probiere es! Innerhalb der letzten vier Jahre wurde aus diesem Motto ein Bewusstsein «Ich bin gerufen» – nicht, weil ich irgendwas besonders gut könnte, sondern, weil Gott mich meint – mich als Person.

«Mich fasziniert diese Spiritualität, weil sie gleichzeitig so greifbar wie unbegreiflich bleibt.»

Was fasziniert Sie am klösterlichen Leben und am Leben für Gott?

Weixler: Ich bin Vinzentinerin oder Barmherzige Schwester von Untermarchtal in der Spiritualität der Heiligen Louise von Marillac und des Heiligen Vinzenz von Paul. Mich fasziniert diese Spiritualität, weil sie gleichzeitig so greifbar wie unbegreiflich bleibt. Sie ist eine Spiritualität, welche der Logik der Menschwerdung Gottes folgt. Jede von uns lebt sie auf ihre Weise. Für mich bedeutet sie: Gerne Menschen begegnen zu wollen, Gottes Gegenwart zu erfahren – im konkreten Tun genauso wie in der stillen Zweisamkeit mit Jesus. Aufmerksam zu sein, wo es heute nötig ist, Menschen beizustehen, ihnen zuzuhören, mit ihnen Leid auszuhalten.

«Gott thront nicht oben in den Himmeln, sondern leidet mit.»

Ich will mit meinem Leben zeigen, dass Gott eine befreiende und froh machende Nachricht hat für alle, auch wenn dies in vielen Situationen noch nicht erfahrbar ist. Gott thront nicht oben in den Himmeln, sondern leidet mit. Er sieht mich und dich. Und lässt Unrecht wahr werden. 

* Schwester Sophia Weixler wurde 1995 geboren und gehört der Gemeinschaft der Barmherzigen Schwestern vom Heiligen Vinzenz von Paul in Untermarchtal an der Donau an. Sie ist Gesundheits- und Krankenpflegerin und studiert aktuell Jura an der Universität Tübingen. Ihr Buch «Ich atme Hoffnung», Psalmen jenseits von Gewalt und Missbrauch, ist im Patmos-Verlag erschienen. Das Interview wurde schriftlich geführt.


Schwester und Buchautorin Sophia Weixler. | © zVg
10. Mai 2023 | 05:00
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