Madeleine Schuppli: «Mit Maurizio Cattelan setzt der Vatikan ein starkes Zeichen»
Papst Johannes Paul II., den ein Meteorit niederstreckt, oder ein betender Hitler: Der Künstler Maurizio Cattelan sorgt mit seinen Werken regelmässig für Irritationen. Just ihn hat der Vatikan jetzt für die Biennale in Venedig engagiert. Was das bedeutet und wie Cattelan arbeitet, erzählt Cattelan-Expertin Madeleine Schuppli Im Podcast «Laut + Leis».
Sandra Leis
Als der Vatikan Anfang März bekannt gab, welche Künstlerinnen und Künstler er für die Biennale einladen wird, war die Überraschung perfekt: Mit dem Namen Maurizio Cattelan hatte niemand gerechnet.
Auch die Kunsthistorikerin und Cattelan-Kennerin Madeleine Schuppli nicht: «Das war eine News! Mir war bis anhin nicht bewusst, dass der Vatikan überhaupt einen Pavillon hat.» Bisher habe sie und wohl auch der grösste Teil der Kunstszene diesen nicht zur Kenntnis genommen. «Das ist jetzt anders: Auch an den Eröffnungstagen der Biennale war der Pavillon des Vatikans oft Gesprächsthema – sicherlich auch wegen des Konzeptkünstlers Maurizio Cattelan.»
Kein Skandal um des Skandals willen
Kein Wunder, gilt der Weltstar aus Padua doch als Papstprovokateur und Skandalkünstler. Doch Schuppli relativiert: «Cattelan geht es in seinem Werk nicht um den Skandal, sondern um die Irritation.» Mustergültig zeige er das in der Arbeit «La nona ora», mit der ihm der internationale Durchbruch gelang und die erstmals 1999 in der Kunsthalle Basel zu sehen war.
Schuppli war damals die verantwortliche Kuratorin und sagt: «Cattelan ist sehr religiös aufgewachsen, seine Mutter hörte den ganzen Tag Radio Vatikan, er war Messdiener, und der Papst war allgegenwärtig.» Dass der Papst im Kunstwerk von einem Meteoriten getroffen wird und mit dem Kruzifix in der Hand zu Boden sinkt, symbolisiere ein Stück weit Befreiung vom Katholizismus, der Cattelan geprägt hat.
Frauengefängnis als Pavillon des Vatikans
Zurück nach Venedig: Der Pavillon des Vatikans an der Biennale befindet sich auf der Insel Giudecca im Frauengefängnis. Darin zeigen sieben Künstlerinnen und Künstler ihre Kunst.
Anders Cattelan: Er nutzt die Aussenfläche der einstigen Klosterkirche und überrascht mit einem riesigen Wandgemälde. Zu sehen sind zwei in Grautönen gehaltene grosse, nackte und schmutzige Füsse.
Füsse ohne Körper
Madeleine Schuppli beschreibt das fotorealistische Bild so: «Man sieht die Fusssohlen der beiden geschundenen Füsse. Es ist der Blick von unten, wie man sie sehen würde, wenn jemand liegt. Aber es sind nur die Füsse da, eine Verbindung zu einem Körper fehlt.» Das irritiere und rege zum Nachdenken an. «Cattelan ist ein sehr intelligenter Künstler, der genau weiss, was er macht. Seine Kunst stellt Fragen.»
Das scheint auch ein Anliegen von Papst Franziskus zu sein. Bei seinem Besuch an der Biennale hat er mit den Gefängnisinsassinnen und auch mit einigen Künstlerinnen und Künstlern gesprochen. Er sagte: «Ich hoffe, dass die zeitgenössische Kunst unseren Blick öffnet.» Und vielleicht auch unbequeme Fragen stellt.
Kirche und Kunst
Dem Vatikan gelingt mit dieser Ausstellung ein Coup: Er zeigt namhafte zeitgenössische Kunst und lässt die Gefängnisinsassinnen die Führungen machen. Das heisst, diese Frauen bekommen eine aktive Rolle und werden Teil der Biennale, indem sie dem Publikum die Kunst präsentieren.
Schuppli sagt: «Mit Maurizio Cattelan setzt der Vatikan ein starkes und mutiges Zeichen. Die römisch-katholische Kirche hat eine Herausforderung mit ihrem Image bei gesellschaftlichen Fragen. An der Biennale macht sie nun einen Schritt auf die zeitgenössische Kunst zu und hat auch Kunstschaffende eingeladen, die sich kritisch mit der Kirche auseinandersetzen.»
Die Kunsthistorikerin, die das Kunstmuseum Thun und das Aargauer Kunsthaus geleitet hat, erinnert an die jahrhundertealte Verbindung von Kirche und Kunst. «Die Kirche war die wichtigste Auftraggeberin für Kunstschaffende. Zum Bruch kam es mit dem Aufkommen der modernen Kunst. Jetzt ist punktuell eine Annäherung zu beobachten.»
Zeitgenössische Kunst und Glaube
Madeleine Schuppli ist überzeugt, dass zeitgenössische Kunst ein Zugang zum Glauben sein kann. Denn es gebe durchaus Parallelen: «Kunst ist ein Medium, das uns öffnet, Fragen stellt und uns reflektieren lässt über uns selber und die Welt. Das sind Dinge, die der Glaube auch macht. Er stellt Fragen und sucht nach Antworten.»
Die 60. Biennale in Venedig läuft noch bis zum 24. November. Wer das Frauengefängnis auf der Insel Giudecca von innen sehen möchte, muss sich frühzeitig für eine Führung anmelden.
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