Stephanie Klein, Pastoraltheologin
Schweiz

Theologin: «Amoris laetitia befreit Seelsorgende aus Zwickmühle»

Luzern, 11.4.16 (kath.ch) Die Luzerner Pastoraltheologin Stephanie Klein hat das neue Dokument von Papst Franziskus über Ehe und Familie «mit Genuss» gelesen. Bei der Lektüre «geht einem buchstäblich das Herz auf», sagt sie im Interview mit kath.ch. Für die Seelsorgenden, von denen viele bereits die vom Papst geforderte Haltung des Zuhörens praktizierten, stelle das Dokument eine Befreiung dar. Und «Amoris laetitia» könnte gar aus mancher «Sackgasse» in der aufgeheizten Diskussion um Genderismus führen, findet die Theologin.

Martin Spilker

Wie ist Ihr erster Eindruck nach der Lektüre dieses Dokuments?

Stephanie Klein: Ich bin wirklich sehr beeindruckt von dem Schreiben des Papstes und glaube, dass es weitreichende Konsequenzen haben wird. Es ist ein Genuss, dieses Schreiben zu lesen, und auch ein spiritueller Gewinn. Das konnte ich nicht von allen lehramtlichen Schreiben sagen. Vielleicht liegt das an dem sehr warmherzigen, menschlichen und pastoralen Stil, der die Lesenden anspricht. Es geht einem buchstäblich das Herz auf.

Woran liegt das?

Klein: Das Schreiben legt nicht fest, es kategorisiert nicht, es verurteilt nicht, sondern ermutigt und eröffnet Perspektiven. Natürlich gibt es auch in diesem Schreiben Passagen, die noch eine etwas komplizierte kirchliche Sprache haben. Das liegt daran, dass der Papst die Abschlusspapiere der zwei weltweiten Bischofssynoden zur Familie aus den Jahren 2014 und 2015 eingearbeitet hat, in die wiederum zwei weltweite Befragungen der Gläubigen eingeflossen waren. Ein erstaunlicher Prozess, den der Papst initiiert hat und den er nun auch respektvoll behandelt, indem er ihn in allen seinen Diversitäten auch in dem Schreiben zur Geltung bringt.

In der Eröffnung hebt Papst Franziskus speziell hervor, dass Gott den Menschen als Mann und Frau schuf. Zielt das auch auf ein neues Verhältnis von Mann und Frau in der Kirche?

Klein: Ja, es ist interessant, dass Franziskus zwar an die Aussage in Genesis 1,27 anknüpft, dass Gott den Menschen als sein Abbild als Mann und Frau erschuf. Aber er bezieht diese Aussage gerade nicht auf eine wie auch immer geartete Zweigeschlechtlichkeit, weder bei den Menschen noch bei Gott. Vielmehr kommt es ihm auf den Aspekt der Beziehung und der Liebe an. Nicht die Geschlechter, sondern die Liebe des Paares ist das Abbild. Gott ist in sich eine dreieinige Gemeinschaft der Liebe, eine Liebe, die sich in der Schöpfung entfaltet. Das Menschenpaar und seine fruchtbare Liebe wird hier in Analogie zur dreifaltigen schöpferischen Liebesgemeinschaft Gottes begriffen. Weitergedacht könnte dieser Ansatz aus mancher Sackgasse in der gegenwärtig aufgeheizten Diskussion um «Genderismus» herausführen. Dieser Ansatz legt eine Grundlage, sich davon zu verabschieden, das Geschlecht zum Kriterium kirchlicher Ämter und Pastoral zu machen.

Dieser Ansatz könnte aus mancher Sackgasse in der aufgeheizten Diskussion um Genderismus führen

Die sogenannte Gradualität – die Unterscheidung von stärkeren und weniger bedeutenden Argumenten – bekommt in diesem Schreiben viel Platz. Ist das der Anfang vom Ende einer vollständig einheitlichen katholischen Kirche? Oder gibt es die gar nicht mehr und hier wird dies exemplarisch einmal festgehalten?

Klein: Die Gradualität meint ja nicht eine Gradualität der Normen. Die Gebote Gottes und die Normen der Kirche sind selbst nicht graduell, und insofern bleibt die Einheit der Kirche gewahrt. Aber es gibt verschiedene Grade der Verwirklichung der Gebote. Gradualität meint dann den Weg, auf dem die Menschen in verschiedenen Stufen in das Gute und in Gottes Heil hineinwachsen können. Ein solches Denken in Abstufungen ist aber nicht unproblematisch, denn es schafft ja auch sozusagen Stufen unter den Menschen. Papst Franziskus greift dieses Modell der Gradualität auf, das auch auf den Bischofssynoden diskutiert wurde und das auf das Apostolische Schreiben Familiaris consortio von Papst Johannes Paul II. aus dem Jahr 1981 zurückgeht. Franziskus führt dann aber ein differenzierteres Modell ein, das das Modell der Gradualität weiterführt.

Wie geht der Papst dabei vor?

Klein: Er spricht von der «Unterscheidung von Situationen» – das ist sein neuer Begriff. Damit meint er, dass genau wahrgenommen werden muss, wie die Menschen leben und worunter sie leiden. An Beispielen zeigt er auf, dass Situationen sehr komplex sein können und für das ethisch richtige Handeln dann in der konkreten Situation ein angemessener Weg gefunden werden muss. Er betont ausdrücklich, dass Urteile zu vermeiden sind, die die Komplexität der verschiedenen Situationen nicht berücksichtigen. Diese Unterscheidung müssen die Menschen zunächst einmal selbst treffen. Franziskus verweist auf das Gewissen, das ermöglicht zu erkennen, wie ein Mensch in einer komplexen Situation angemessen handeln soll. Diese Unterscheidung ist aber nichts Endgültiges, sondern sie ist dynamisch und befindet sich auf einem Weg zum immer Besseren. Die Aufgabe der Bischöfe, Priester und Seelsorgenden ist dann in erster Linie, das Gewissen besser mit einzubeziehen, zu einer reifen Unterscheidung zu ermutigen und auf die Gnade Gottes hinzuweisen und zu vertrauen. Sie sollen jene Elemente erkennen, die das menschliche und geistliche Wachstum fördern.

Ein Dauerthema sind neue Partnerschaften beziehungsweise Ehen von getrennt lebenden Katholiken oder Geschiedenen. Dies bleibt «irregulär», das Gewissen des Einzelnen, die individuelle Situation werden aber über die Regel gestellt. Kann das als Richtungsänderung angesehen werden?

Klein: Der Papst vermeidet die von Papst Johannes Paul II. eingeführte Klassifizierung als irregulär. Er greift den Begriff zwar auf, setzt ihn aber in Anführungszeichen und spricht von «sogenannten ‘irregulären’ Situationen». Die Frage des Umgangs mit wiederverheirateten Geschiedenen legt er in die Hände der Ortskirchen. Zugleich setzt er aber auch Massstäbe, wie damit umgegangen werden soll: Die Komplexität der Situationen soll wahrgenommen werden, niemand darf auf Dauer verurteilt werden, und es geht darum, Wege zu finden, alle in die kirchliche Gemeinschaft einzugliedern. Damit öffnet er eine Türe, die lange Zeit verschlossen war.

Immer wieder betont der Papst, dass es von Seiten der Kirche kein abschliessendes Urteil gegenüber partnerschaftlichem Zusammenleben und Familienformen geben darf. Ist das für die Seelsorge nun als Einladung oder als Aufforderung zu verstehen? Anders gefragt: Müssen jetzt die Seelsorger in die Weiterbildung?

Klein: Dieser pastorale Weg, den Papst Franziskus einschlägt, erfordert von vielen Seelsorgenden sicher eine neue Haltung und hohe Kompetenzen. Sie sollen die Menschen nicht einfach nach kirchlichen Normen beurteilen, sondern sie in ihren unterschiedlichen komplexen familiären Situationen wahrnehmen und in Dialog mit ihnen kommen. Dies führt zu einer anspruchsvollen «Geh-hin-Pastoral» und setzt die Fähigkeit zur Wahrnehmung, zum Zuhören und zum Dialog voraus sowie den Respekt vor Menschen in unterschiedlichen Situationen, die in ihrem Lebensstil von der kirchlichen Norm abweichen. Die Seelsorgenden sollen die Suche der Menschen nach Unterscheidungen und Lösungen begleiten und Ansatzpunkte für das persönliche und geistliche Wachstum im Sinne des Evangeliums und der kirchlichen Lehre suchen.

Niemand darf auf Dauer verurteilt werden

Sind sie dafür gerüstet?

Klein: Dazu bedarf es sicher einer sehr guten theologischen Ausbildung und der steten theologischen und spirituellen Weiterbildung. Ich möchte aber auch betonen, dass viele Seelsorgende heute diese Haltung haben und diesen pastoralen Weg bereits praktizieren. Das Schreiben von Papst Franziskus befreit sie nun aus der Zwickmühle zwischen den Anforderungen der kirchlichen Normen und der pastoralen Praxis und zeigt ihnen einen gangbaren, aber anspruchsvollen Weg auf.

Im Dokument spricht der Papst auch das Ehe-Nichtigkeitsverfahren an. Ist das nicht längst ein «alter Hut»?

Klein: Das Ehe-Nichtigkeitsverfahren ist im Vorfeld stark diskutiert worden. Für viele Betroffene ist es wichtig, um eine Trennung zu bewältigen. Zudem ist es vielen Paaren, bei denen ein Partner geschieden ist, wichtig, ihre Ehe auch sakramental schliessen zu können.

Ein heisses Eisen ist und bleibt der voreheliche Geschlechtsverkehr, der einmal sogar als «narzisstische Aggressivität» dargestellt wird. Obschon auch voreheliche Sexualität in aller Regel aus Liebe erfolgt und bei uns gesellschaftlich unumstritten ist, findet die Kirchenleitung hier keine Worte des Verständnisses. Woher kommen diese Berührungsängste?

Klein: Das Schreiben sagt eindeutig ja zu einer Sexualerziehung der Kinder und Jugendlichen, die den Altersstufen angepasst ist und die wissenschaftlichen Erkenntnisse einbezieht. Dies ist wichtig, weil Sexualität und damit auch die Sexualerziehung lange Zeit tabuisiert wurde. Inzwischen wurde offenbar erkannt, dass sexuelle Übergriffe und Gewalt in Familien, aber auch in kirchlichen Einrichtungen durch eine vernünftige Sexualerziehung zumindest vermindert werden können. Ich halte es auch deshalb für einen Fortschritt, dass die Sexualerziehung angesprochen wird, weil sie in vielen Ländern der Welt noch immer tabuisiert ist. Eine direkte Ablehnung einer «Ehe auf Probe», wie sie in dem Apostolischen Schreiben Familiaris consortio und auf den Bischofssynoden im Vorfeld von einigen Bischöfen geäussert wurde, findet sich meines Wissens in dem Schreiben von Papst Franziskus nicht.

Das Schreiben sagt eindeutig ja zu einer Sexualerziehung der Kinder, die wissenschaftliche Erkenntnisse einbezieht

«Amoris laetitia» spricht erstaunlich offen die Homosexualität an, ohne diese aber vollumfänglich gutzuheissen. Wäre da noch mehr Klarheit möglich beziehungsweise nötig gewesen?

Klein: Die Tatsache, dass es in den Gemeinden Menschen mit homosexuellen Orientierungen gibt, wird an einer Stelle explizit aufgegriffen. Franziskus bezieht sich dabei auf die kontroversen Diskussionen auf den beiden Bischofssynoden. Mehr Klarheit hätten sich vielleicht sowohl die Anhänger der einen als auch die Anhänger der anderen Position gewünscht. Papst Franziskus klärt das, was ihm am wichtigsten ist: dass jeder Mensch unabhängig von seiner sexuellen Orientierung respektiert werden muss. Die Diskussion um den Umgang mit gleichgeschlechtlicher Orientierung wird in verschiedenen Ländern und Kulturen sehr unterschiedlich geführt. Wir können uns ja daran erinnern, dass auch in der Schweiz die Strafverfolgung erst ab 1942 und in der Bundesrepublik Deutschland erst ab 1969 schrittweise abgeschafft wurde.

Was schliessen Sie daraus?

Klein: Wir können nicht erwarten, dass Wertauffassungen, die sich in unserer Kultur nur langsam und auch erst vor nicht allzu langer Zeit entwickelt haben, jetzt in alle Kulturen exportiert werden. Der Papst behandelt das Thema aber an einer anderen Stelle implizit mit, ohne es ausdrücklich zu nennen. Wenn er die genaue Wahrnehmung der komplexen Situationen fordert, wenn er feststellt, dass niemand ewig verurteilt werden darf und als Prinzip der Pastoral die Integration in die kirchliche Gemeinschaft benennt, dann gilt dies auch für den Umgang mit Menschen mit gleichgeschlechtlicher Orientierung.

Der Papst fordert eine intensive Begleitung von Verlobten, frisch Verheirateten, von Eheleuten in Schwierigkeiten, getrennt Lebenden und Geschiedenen, für Paare, die in ziviler Ehe leben, bei der Begleitung der christlichen Kindererziehung – woher will die Seelsorge die Ressourcen dafür nehmen? Braucht es, auch mit Blick auf die Entwicklung der katholischen Kirche, eine viel grössere Aufmerksamkeit für Fragen von Ehe, Partnerschaft und Familie?

Klein: Hier gibt es in der Tat aus der Sicht der Schweizer Kirche gewisse Spannungen. Das grosse Gewicht, das die Pastoral in dem Schreiben erfährt, ist sehr begrüssenswert. Aber wer soll das alles leisten? Ich finde den ersten Schritt sehr wichtig, dass das Schreiben die vielfältigen Aufgaben und Herausforderungen der Kirche in der pastoralen Begleitung der Paare und der Familien benennt. Die Familien brauchen «das familiäre Gesicht der Kirche» wie Franziskus schreibt, das heisst die personale Begegnung, die Zuwendung und die Unterstützung. Der Papst hat mit dem pastoralen Ansatz Prioritäten gesetzt und Weichen gestellt. In der Konsequenz dieser eindeutig pastoralen Ausrichtung der Kirche wäre darüber nachzudenken, wie die Dienste und Ämter der Kirche den pastoralen Erfordernissen angepasst werden können. Theologisch durchdachte Entwürfe liegen seit Jahrzehnten vor.

Neue pastorale Sichtweise tangiert auch dogmatische und kirchenrechtliche Fragen

Was vermissen Sie in «Amoris laetitia»?

Klein: Das Schreiben eröffnet Perspektiven des Weiterdenkens. Es hätte nicht noch mehr hineingepackt werden können. Papst Franziskus hat einen Meilenstein gesetzt, von dem aus jetzt weitergearbeitet werden kann. Die neue pastorale Sichtweise zieht nicht nur eine Reihe von Fragen auf der Praxisebene nach sich, wie zum Beispiel die Geschlechterfrage, die Homosexualität, die Polygamie in manchen Ländern, die Reproduktionstechnologien und ihre Folgen für die Familien oder die pastoralen Kapazitäten und Strukturen der Kirche. Sie tangiert auch dogmatische und kirchenrechtliche Fragen, die angegangen werden müssen. Die Lehre der Kirche ist ja nicht zu ihrem Ende gekommen und auch nicht eingefroren, sondern sie ist dynamisch, denn die Kirche muss die Heilsbotschaft in jeder Zeit neu verstehen und formulieren. Hier wären Fragen des Sakramentenverständnisses und seiner Begründungen sowie Fragen der Ämterstrukturen der Kirche weiterzuentwickeln, die wiederum kirchenrechtliche Konsequenzen haben könnten. Doch das ist Zukunftsmusik; mit dem pastoralen Schreiben «Amoris laetitia» sind wir einen grossen Schritt weiter. (ms/bal)

 

Stephanie Klein, Pastoraltheologin | © 2016 zVg
11. April 2016 | 15:00
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