Kurdische Flüchtlinge über Rückkehr nach Kobane: «Wir glauben, dass es gut kommt!»

Zürich, 23.4.15 (kath.ch) Die Schweizer Journalistin Nicole Maron hat einige kurdische Flüchtlingslager in der Türkei besucht. Im Interview mit kath.ch erzählt sie vom Leben der Menschen in den Lagern, von ihren Sorgen und von ihrer Hoffnung, bald nach Kobane (Syrien) zurückkehren zu können.

Sylvia Stam

Nicole Maron, wo waren Sie genau?

Nicole Maron: Ich war in verschiedenen Flüchtlingslagern in der südtürkischen Stadt Suruç, das liegt etwa 10 km von der syrischen Grenze entfernt, unweit der syrischen Stadt Kobane.

Woher kommen die Menschen, die Sie in den Lagern getroffen haben?

Maron: Sie kommen aus Kobane und den umliegenden Dörfern. Es sind fast ausschliesslich syrische Kurden.

Wie viele Menschen leben derzeit in den Flüchtlingslagern in Suruç?

Maron: Laut offiziellen Angaben kurdischer Organisationen waren insgesamt mehr als 200’000 Flüchtlinge in den verschiedenen Lagern, davon sind im letzten Monat etwa die Hälfte bereits wieder zurückgegangen. Suruç selber hat gut 60’000 Einwohner.

Wohin gehen diese Menschen zurück?

Maron: Die meisten planen, in nächster Zeit nach Kobane zurückzukehren. Viele sagten mir: ‘Der Krieg ist jetzt vorbei, wir freuen uns, dass wir unser Haus bald wieder aufbauen können’. Ich war beeindruckt, wie viel Hoffnung und Kraft diese Menschen in ihre Zukunft setzen, obwohl sie wissen, dass in Kobane vieles zerstört ist und die Versorgung nicht gesichert ist. Für sie ist es wie ein Neuanfang. Das hängt auch damit zusammen, dass die Kurden in Nordsyrien seit Mitte 2012 ein Autonomiegebiet aufbauen. Sie stehen nicht mehr unter der Kontrolle Assads. Die Kurden haben dort ganz neue, demokratische Strukturen aufgebaut.

Aber der Krieg ist doch gar nicht vorbei!

Maron: Es geht hier um zwei Kriege: Der Bürgerkrieg in Syrien ist nicht vorbei. Dann gibt es noch den Kampf gegen den «Islamischen Staat» (IS). Kobane ist seit Februar befreit von den IS-Kämpfern, doch in den umliegenden Dörfern ist der Krieg noch voll im Gang.

Wie geht es den Kurden in den Lagern?

Maron: Den meisten geht es jetzt gar nicht so schlecht. Der Winter ist vorbei, sodass weniger Decken und Kleider gebraucht werden. Weil viele bereits wieder zurückgegangen sind, können die Zurückgebliebenen zum Beispiel besser medizinisch betreut werden.

Man hört oft, syrische Flüchtlinge seien traumatisiert. Wie haben Sie das erlebt?

Maron: Viele Menschen haben mitangesehen, wie Verwandte oder Freunde brutal umgebracht, gefoltert oder vergewaltigt wurden oder haben die Gewalt des IS an ihrem eigenen Leib erlebt. Es ist unvorstellbar, dass sie je wieder ein normales Leben führen können. Doch es gibt auch viele, die fliehen konnten, bevor der IS ihre Stadt oder ihr Dorf erreicht hatte. Ihnen geht es psychisch natürlich besser. Die Flucht von Kobane nach Suruç beispielsweise ist nur kurz, die Strecke ist in einer Viertelstunde mit dem Auto zurückzulegen. Schwieriger war, dass die Türkei die Grenze für Flüchtlinge lange Zeit nicht geöffnet hat und die Kurden in Kobane richtiggehend eingekesselt waren.

Wie leben die Menschen in den Lagern?

Maron: Die Kurden haben eine gute Selbstorganisation. Ihre Organisationen haben Schulen aufgebaut, für die medizinische Versorgung gesorgt, in einem Lager gab es sogar ein Zelt, das als Kulturzentrum eingerichtet ist. Die einzelnen Zelte sind wie kleine Häuschen, in der jeweils eine Familie wohnt, das heisst zwei bis vier Erwachsene und noch ein paar Kinder. In den Zelten gibt es Stromanschlüsse, so dass sie zum Beispiel Tee kochen oder auch kleine Heizungen anschliessen können.

Wie geht es den Kindern?

Maron: Natürlich leben sie in einer Ausnahmesituation, viele sind auf der Flucht seit sie leben und kennen nichts anderes als kriegszerstörte Städte und Flüchtlingslager. Anders als die Erwachsenen können sie teilweise die Tragweite der Ereignisse gar nicht richtig realisieren: Sie kennen ja nichts anderes. Vielleicht hat das aber auch sein Gutes. Sie haben sich an dieses Leben gewöhnt und machen das Beste daraus. Sie spielen zusammen und haben ein grosses Interesse an den vielen Journalisten und NGO-Mitarbeitern, die aus Europa kommen: Sie wollen unbedingt fotografiert werden und Lieder vor der Kamera singen, damit sie ins Fernsehen kommen. Allerdings sind es keine Kinderlieder, sondern die Kampflieder der YPG, die bereits die Vierjährigen auswendig können. Ich hatte mehrmals Gänsehaut und Tränen in den Augen, als sie von Widerstand und dem schönen, starken Kobane gesungen haben. Die Kinder haben mich am meisten beeindruckt. Schon die Kleinsten sind unglaublich stolz und selbstbewusst.

Welche Sorgen haben die Menschen?

Maron: Eine grosse Sorge ist wohl die um Familienmitglieder oder Freunde, die noch in Syrien sind oder bei der YPG, der kurdischen Volksverteidigung, kämpfen. Immer wieder treffen Nachrichten ein, X oder Y sei gefallen. Es gibt in den Lagern aber auch Menschen, die sagen, sie hätten im Moment keine Kraft mehr, in Kobane alles wieder aufzubauen. In den Lagern werden sie von den kurdischen Organisationen immerhin mit dem Nötigsten versorgt. In Kobane wäre das auf Grund der Ausfuhrbedingungen der Türkei nicht gewährleistet.

Was wünschen sie sich von den Menschen in Europa?

Maron: Sie wünschen sich Unterstützung beim Wiederaufbau. Das kann in Form von Geld sein oder aber in Form von Spezialisten, die sich zum Beispiel beim Entminen und beim Bau auskennen. Der IS hat in der Stadt viele Minen gelegt, um sie unbewohnbar zu machen. Weiter wünschen sie sich, dass Europa politischen Druck auf die Türkei ausübt. Die Türkei legt beispielsweise fest, dass täglich nur zwei Lastwagen mit Nahrungsmitteln über die Grenze nach Syrien fahren dürfen – für mehr als 100›000 Menschen. Baumaterial und Zelte dürfen gar nicht nach Syrien ausgeführt werden.

Wie können Schweizerinnen und Schweizer ganz konkret Unterstützung leisten?

Maron: Am einfachsten und wirkungsvollsten sind Geldspenden, zum Beispiel an das kurdische Rote Kreuz. Der Wiederaufbau Kobanes wird von kurdischen Organisationen via eine Homepage koordiniert. Viele Flüchtlinge sagten mir: ‘Als der Krieg ausbrach, kamen Tausende Journalisten, jetzt, wo es um den Wiederaufbau geht, ist niemand mehr da.’ Deshalb ist diese Form von Unterstützung sehr willkommen. Nur schon zu wissen, dass Europa sie nicht vergessen hat, ist für die Kurden zentral. Denn sie befinden sich seit fast hundert Jahren in einer Lage der Unterdrückung und des Krieges, und lange Zeit wurde dies von der Weltöffentlichkeit überhaupt nicht wahrgenommen.

Nicole Maron ist Journalistin, Autorin und Lehrerin. Aufgrund ihrer einjährigen Unterrichtstätigkeit in der Südosttürkei und Reisen durch die kurdischen Gebiete ist sie sehr vertraut mit der Situation der Kurden. 2014 erschien ihr Buch «Mutter, hab keine Angst», das von der Flucht einer kurdischen Familie in die Schweiz erzählt. (sys)

Hinweis: Bilder aus den Flüchtlingslagern können direkt bei Nicole Maron bezogen werden unter nicole@maron.ch.

Eine Kurdin mit ihrem Kind in einem Flüchtlingslager in der Türkei | © 2015 Nicole Maron
23. April 2015 | 08:02
Lesezeit: ca. 4 Min.
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