Die ehemalige St. Galler Nationalrätin Pia Hollenstein engagiert sich im Vorstand des Vereins "Klimaseniorinnen Schweiz".
Schweiz

Klimaklage gegen Schweiz: «Schlimm wäre, wenn der Gerichtshof zum Schluss käme, die Menschenrechte werden gar nicht verletzt»

Pia Hollenstein (73) gehört zu den Klimaseniorinnen, die die Schweiz vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte verklagt haben. Am Dienstag fällt das Urteil. «Ich hoffe, dass der Gerichtshof die Schweiz rügen wird und sie dies als Chance wahrnimmt, um mehr gegen die Erderwärmung zu tun», sagt die ehemalige Nationalrätin der Grünen.

Barbara Ludwig

2016 wurde der Verein «Klimaseniorinnen Schweiz» gegründet. Sie engagieren sich im Vorstand. Welche persönliche Motivation steckt dahinter?

Pia Hollenstein*: 2016 war ich bereits pensioniert und sehr froh darüber, mich ganz konkret für das Klima einsetzen zu können. Während meiner Zeit im Nationalrat hatten wir vieles nicht erreicht, was schon damals dringend nötig gewesen wäre. Und deshalb kam die Anfrage, ob ich im Vorstand des Vereins mitarbeiten möchte, gerade zum richtigen Zeitpunkt.  Für mich lohnt sich das Engagement. Es hat fast schon eine therapeutische Wirkung, wie ich mittlerweile festgestellt habe.

«Die Gletscher sind stark geschmolzen. Das tut mir richtig weh.»

Wie meinen Sie das?

Hollenstein: Die Arbeit im Vorstand hilft, sich angesichts des ungenügenden Handeln des Staates und verschiedener anderer Organisationen beim Klimaschutz nicht ohnmächtig zu fühlen.

Die Klima-Seniorinnen am Bodensee-Friedensweg 2024 in Friedrichshafen
Die Klima-Seniorinnen am Bodensee-Friedensweg 2024 in Friedrichshafen

Sie waren von 1992 bis 2009 Mitglied der ökumenischen Kommission Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung. Hat Ihr Engagement für die Umwelt und für das Klima auch religiöse Wurzeln?

Hollenstein: Ich denke schon. Ich bin in einer katholischen Familie auf dem Land aufgewachsen. Meine Eltern waren sehr religiös. Durch sie bin ich in die kirchliche Gemeinschaft hineingewachsen und fühle mich in ihr noch immer beheimatet. Meine Eltern haben die Natur sehr geschätzt und wussten, dass man sie schützen muss. Diesen positiven Bezug zur Natur haben sie uns Kindern mitgegeben.

«Es geht mir beim Einsatz für das Klima um die Betroffenheit der älteren Frauen und nicht um mich persönlich.»

Die Klimaseniorinnen argumentieren in ihrer Klimaklage gegen die Schweiz mit der erhöhten Sterblichkeit von Frauen, die durch Hitzewellen verursacht wird. Wie erleben Sie persönlich den Klimawandel?

Hollenstein: Ich sehe die Folgen des Klimawandels, weil ich oft in den Bergen unterwegs bin. Früher habe ich auch Hochgebirgstouren unternommen. Wenn ich heute wieder an dieselben Orte komme, stelle ich fest, dass die Gletscher sehr stark geschmolzen sind. Das tut mir richtig weh. Gesundheitlich bin ich zum Glück nicht davon betroffen, das schätze ich sehr.

Bedrohtes Eis: der Grosse Aletschgletscher im Wallis.
Bedrohtes Eis: der Grosse Aletschgletscher im Wallis.

Sie leiden also nicht unter den Hitzewellen, von denen unterdessen auch die Schweiz betroffen ist?

Holleinstein: Kaum. Ich lebte drei Jahre in den Tropen und habe das sehr gut überstanden. Ich bin sehr anpassungsfähig. Natürlich ist mir während der Hitzewellen auch warm, aber es belastet meinen Organismus nicht. Ich möchte hier hinzufügen: Ich habe nie einfach für mich Politik gemacht. Es geht mir bei meinem Einsatz für das Klima um die Betroffenheit der älteren Frauen und nicht um mich persönlich.

«Im Fokus stehen die Ziele, die sich die Schweiz selber gesetzt, aber immer noch nicht erreicht hat.»

Die Klimaseniorinnen werfen der Schweiz vor, zu wenig gegen die Erderwärmung zu unternehmen und damit die Menschenrechte zu verletzen. Wo sollte sie nachbessern?

Hollenstein: Im Fokus stehen vor allem die Ziele, die sie sich selber gesetzt, aber immer noch nicht erreicht hat. Zum Beispiel im Übereinkommen von Paris, das die Schweiz 2017 ratifiziert hat und mit dem das Klima geschützt werden soll. Oder in der Verfassung, die vorgibt, dass die Schweiz das Recht auf Leben respektieren und die Gesundheit schützen muss. Um diese Ziele zu erreichen, gäbe es tausend Möglichkeiten. Aber es ist nicht Aufgabe der Klimaseniorinnen, der Schweiz ein Massnahmenpaket vorzulegen. Und wir erwarten auch nicht vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, dass er der Schweiz Massnahmen zur Erreichung der Klimaziele empfiehlt. Was getan werden müsste, ist hinlänglich bekannt.

Die Schweizer Klimaseniorinnen vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, 29. März 2023.
Die Schweizer Klimaseniorinnen vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, 29. März 2023.

Sie beziehen sich auf die Beschwerde der Klimaseniorinnen gegen die Schweiz, über die der Gerichtshof am 9. April entscheidet.

Hollenstein: Genau. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte wird überprüfen, ob die Schweiz mit ihrer ungenügenden Klimapolitik die in der Verfassung verankerte Pflicht zum Schutz der Menschenrechte verletzt. Das ist das Neue und das Besondere unserer Beschwerde. Deshalb interessiert sich auch die halbe Welt dafür. Das Urteil ist für alle Mitglieder des Europarates, dem auch die Schweiz angehört, von Bedeutung.

Ist das Urteil für die Schweiz bindend?

Hollenstein: Ja. Urteile des Gerichtshofs für Menschenrechte müssen respektiert und umgesetzt werden. Ich erinnere mich an meine Zeit im Nationalrat. Wenn der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte die Schweiz rügte, reagierte sie immer sehr schnell – mit der Begründung, die Einhaltung der Menschenrechte sei ihr als Staatsziel sehr wichtig. Die Schweiz will nicht, dass wir Menschenrechte verletzen. Deshalb wurde in den Fällen, die ich kenne, meistens subito gehandelt.

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Es gibt den Einwand, dass es sich um ein politisches Anliegen handelt, das nicht von der Justiz, sondern von der Politik durchzusetzen sei.

Hollenstein: In einer Demokratie gibt es zwei Standbeine – das eine ist die Politik und das andere das Recht und seine Möglichkeiten, die die Demokratie geschaffen hat. Beides ist wichtig. Grundsätzlich wäre es Aufgabe der Politik, dafür zu sorgen, dass die Bundesverfassung – etwa das Vorsorgeprinzip oder das Nachhaltigkeitsprinzip – eingehalten werden. Ebenso wäre es Aufgabe der Politik, die im Übereinkommen von Paris vereinbarten Verpflichtungen umzusetzen. Aber wenn die Schweiz das nicht macht, darf in einer Demokratie das Recht zum Zug kommen.

Wie gross sind die Chancen, dass die Klimaseniorinnen Recht bekommen?

Hollenstein: Wir wissen es nicht. Aber ich bin zuversichtlich, weil unsere Argumente einfach stichhaltig sind. Schlimm wäre, wenn der Gerichtshof zum Schluss käme, die Menschenrechte werden gar nicht verletzt. Das wäre eine Legitimation für Staaten, wenig Klimaschutz zu betreiben. Ich hoffe, dass der Gerichtshof die Schweiz rügen wird und diese das Gerichtsurteil als Chance wahrnehmen wird, um mehr zu tun.

*Pia Hollenstein (73) ist Mitglied im Vorstand des Vereins «Klimaseniorinnen Schweiz». Von November 1991 bis Juni 2006 vertrat sie die Grünen im Nationalrat. Die Pflegefachfrau ist im Toggenburg aufgewachsen und war auch als Berufsschullehrerin für Gesundheits- und Krankenpflege tätig.

Gerichtshof für Menschenrechte behandelt drei Klagen

Am 9. April entscheidet der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Strassburg über die Klage der Klimaseniorinnen gegen die Schweiz. Zuvor sind sie erfolglos den Rechtsweg durch alle Instanzen hindurch bis zum Bundesgericht gegangen.

Am gleichen Tag entscheidet der Gerichtshof über zwei weitere Klagen. Eine von ihnen stammt laut einem Bericht der «Neuen Zürcher Zeitung» (NZZ) vom 27. März vom ehemaligen Bürgermeister einer französischen Küstengemeinde am Ärmelkanal. Er wirft Frankreich vor, nicht genug gegen die Klimaerwärmung zu unternehmen und seine Gemeinde dem Untergang in den Meeresfluten zu überlassen. Im dritten Fall klagen sechs Jugendliche aus Portugal gegen 33 europäische Staaten, darunter die Schweiz, weil sie aufgrund der Klimaerwärmung ihr Recht auf Leben und Privatsphäre verletzt sehen und sich gegenüber der älteren Generation diskriminiert fühlen.

Laut NZZ könnte der Schweizer Fall zum ersten Klima-Leiturteil des EGMR werden, weil die Voraussetzungen für eine Zulässigkeit der Klage eher erfüllt seien als bei den Portugiesen. Diese haben den innerstaatlichen Rechtsweg nicht ausgeschöpft, weil sie direkt in Strassburg klagten. Zudem richtet sich ihre Beschwerde gegen eine Vielzahl von Staaten, diejenige der Klimaseniorinnen nur gegen die Schweiz. (bal)


Die ehemalige St. Galler Nationalrätin Pia Hollenstein engagiert sich im Vorstand des Vereins «Klimaseniorinnen Schweiz». | © Elke Hegemann
7. April 2024 | 12:00
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