Bischof Felix Gmür steht Medien Red und Antwort zum Thema "Sexueller Missbrauch"
Schweiz

Kirchliche Amtsträger stehen neu unter Anzeigepflicht bei sexuellem Missbrauch

St. Gallen, 5.9.18 (kath.ch) Die Schweizer Bischofskonferenz (SBK) hat ihre Richtlinien im Umgang mit sexuellem Missbrauch verschärft. Kirchliche Amtsträger sind neu auch bei erwachsenen Opfern verpflichtet, bei Verdacht auf ein Offizialdelikt den Fall der staatlichen Justiz zu melden.

Sylvia Stam

Neu sind kirchliche Amtsträger auch bei erwachsenen Opfern verpflichtet, bei Verdacht auf ein Offizialdelikt bei den staatlichen Behörden Anzeige zu erstatten. Bei minderjährigen Opfern war dies auch bisher der Fall. Bis anhin wurde bei Erwachsenen nur dann Anzeige erstattet, wenn das Opfer sich damit einverstanden erklärte, erläuterte der Basler Bischof Felix Gmür an der Medienkonferenz in St. Gallen.

Vertuschungsgefahr zu gross

«Die diözesanen Fachgremien zu sexuellen Übergriffen im kirchlichen Kontext fordern dies schon lange», so Gmür. Vertreterinnen und Vertreter der Opfer hätten hingegen davor gewarnt, dass dies mögliche Opfer davon abhalten könnte, sich überhaupt zu melden. Den Bischöfen ist jedoch die Vertuschungsgefahr zu gross, wie Gmür ausführte: «Es hilft den Opfern nicht, wenn die Fälle nicht der Justiz gemeldet werden, und es ist auch eine Gefahr für künftige Opfer». Ausserdem habe der Staat Möglichkeiten der Untersuchung, die die Kirche nicht habe – er könne etwa eine Hausdurchsuchung anordnen oder einen Laptop durchsuchen.

Opfervertreter zufrieden

Jacques Nuoffer, Präsident der Westschweizer Opfervertretergruppe Sapec, bestätigt die Haltung der Schweizer Bischöfe. Die Gruppe Sapec habe sich schon seit 2014 für eine Anzeigeplicht auch bei erwachsenen Opfern eingesetzt, heisst es auf Anfrage von kath.ch. «Wir sind daher mit dieser Entscheidung sehr zufrieden.»

Wichtig sei, unterstreicht Nuoffer, dass den Opfern verständlich gemacht werde, dass es sich dabei um eine Massnahme handle, die weitere Missbräuche verhindern soll. Die Justiz sei zudem verantwortlich dafür, dass die Privatsphäre der Opfer gewährleistet bleibe.

Opfer entscheidet, mit wem es spricht

Auf Nachfrage von kath.ch präzisierte Gmür in St. Gallen, dass das die Ansprechperson des Bistums, jedenfalls im Bistum Basel, keine Meldepflicht habe. «Beim informellen Verfahren kann sich ein Opfer an eine Ansprechperson des Bistums wenden. Diese hat keine Meldepflicht. Sie ist vielmehr Anwältin des Opfers. Sie macht nichts, was das Opfer nicht möchte.»

Sie melde dem Fachgremium höchstens beispielsweise: Eine Frau aus dem Kanton Bern, zwischen 40 und 50, habe sich telefonisch gemeldet, Täter unbekannt. Das Opfer habe nach wie vor die Freiheit zu wählen, wem es von den Übergriffen berichte. Damit verbunden sei aber auch die Verantwortung dafür: «Wenn das Opfer mit einem kirchlichen Amtsträger spricht, wird künftig Anzeige erstattet», so Gmür gegenüber Medien.

Statistik 2010 bis 2017

Die Schweizer Bischöfe präsentierten ausserdem – wie jedes Jahr – die jüngsten Zahlen zu sexuellen Übergriffen im kirchlichen Umfeld, in diesem Fall aus dem Jahr 2017. Auffallend ist hier eine Zunahme der gemeldeten Fälle auf 65 gegenüber je 24 in den beiden Vorjahren. Die SBK führt dies auf verschiedene Gründe zurück: Einerseits habe die SBK Ende 2016 in einer Bussfeier in Sitten mögliche weitere Opfer dazu aufgerufen, sich bei den diözesanen Fachgremien zu melden.

Im Jahr 2017 sei zudem der Genugtuungsfonds in den Medien Thema gewesen. Opfer verjährter Fälle können einen finanziellen Beitrag aus diesem Fonds beantragen. Diese und andere Medienberichte zum Thema im Jahr 2017 hätten vermutlich dazu beigetragen, dass sich vermehrt Opfer gemeldet hätten. Von den 65 Fällen hätten 56 vor 1990 stattgefunden und seien somit verjährt.

Grösster Teil der Täter männlich

Zwischen 2010 und 2017 wurden insgesamt 283 Fälle von sexuellen Übergriffen gemeldet. Die meisten Vorfälle fanden vor 1990 statt, sind also bereits verjährt. Eine Tabelle zeigt, dass der grösste Teil der Täter Männer waren, nämlich insgesamt 234 gegenüber 26 Täterinnen (bei 41 Fällen ist das Geschlecht der Täter nicht bekannt.) Bei den männlichen Tätern handelt es sich in 141 Fällen um Weltpriester, in 93 Fällen um Ordensmänner, Diakone, nicht ordinierte Theologen und andere männliche Angestellte der Kirche.

Die Opfer seien in 83 Fällen Kinder unter 12 Jahren, 28 Mädchen zwischen 12 und 16 Jahren und 83 Jungen im gleichen Alter, ausserdem 52 Männer und 46 Frauen. Ein weiteres Opfer sei männlich, bei 18 Opfern gebe es keine näheren Angaben.

Auch sexuelle Handlungen ohne Beischlaf

Die Statistik unterscheidet auch verschiedene Arten von sexuellen Übergriffen: Beim grössten Teil (86 Fälle) handle es sich um sexuell gefärbte Äusserungen, Gesten oder Avancen. Fast die Hälfte aller Fälle betreffe jedoch so «furchtbare Taten wie sexuelle Nötigung (55), Beischlaf im Rahmen eines Abhängigkeitsverhältnisses (15), Vergewaltigung (10) oder Schändung (13)», erläuterte Gmür die Statistik der Jahre 2010 bis 17. In 53 Fällen sei es zu sexuellen Handlungen ohne Beischlaf gekommen, 35 Fälle beträfen andere Arten von sexueller Belästigung. In 26 Fällen sei kein sexueller Übergriff identifizierbar gewesen.

Opfer sollen sich melden

«Man sieht, dass mit sexuellem Übergriff nicht immer Beischlaf gemeint ist», sagte Felix Gmür. Das sei wichtig, damit sich auch Opfer meldeten, die weniger schwere Fälle von sexuellen Übergriffen erlebt hätten. Gmür hielt abschliessend fest, dass die Anzahl sexueller Übergriffe seit 2001 insgesamt zurückgegangen sei.

In jenem Jahr hatte die SBK erstmals Richtlinien zum Umgang mit sexuellem Missbrauch erstellt, die 2016 in dritter Auflage überarbeitet wurden und inzwischen auch von den Territorialäbten und den Ordensoberen unterzeichnet wurden. Erneut rief Gmür allfällige Opfer dazu auf: «Meldet euch beim diözesanen Fachgremium, damit euch Recht widerfahren kann.»

Bischof Felix Gmür steht Medien Red und Antwort zum Thema «Sexueller Missbrauch» | © Sylvia Stam
5. September 2018 | 17:38
Lesezeit: ca. 3 Min.
Teilen Sie diesen Artikel!