Adam und Eva im Paradies: Glasfenster der Kapelle am Zürcher Unispital.
Schweiz

Katrin Kusmierz’ letzte Radiopredigt: Was der Weihnachtsbaum mit Adam und Eva zu tun hat

Oh Tannenbaum, oh Tannenbaum: Von wegen! Im Mittelalter ging es darum, eine Paradiesgeschichte aufzuführen. Gefragt war ein Baum, von dem Adam und Eva den Apfel pflücken konnten. 

Katrin Kusmierz*

Er steht bei uns im Wohnzimmer. Ich vermute, bei Ihnen auch. Seinen grossen Auftritt hatte er an Heiligabend. Auch gestern, am ersten Weihnachtstag, durfte unser Weihnachtsbaum glänzen und glitzern. In den nächsten Tagen werden wir immer wieder einmal die Kerzen anzünden – und zwischen den Jahren Weihnachten nachklingen lassen. 

«Friede sei mit euch!»

Auch unter dem Baum ist etwas Ruhe eingekehrt. Maria und Joseph schauen andächtig Ihr Neugeborenes an. Ochs und Esel stehen daneben, dazu ein paar andere Tiere, die die Tiersammlung unserer Kinder hergegeben hat. Ein Huhn scharrt im Stroh, und der Hund schläft. Ein Moment der himmlischen Ruhe, nach der Aufregung der letzten Tage. Nach der Geburt, nach den Hirten, die gekommen sind, nach den Engeln, die sangen: «Friede sei mit euch! Euch ist der Retter geboren, der Heiland, ein Kind in einem Stall, in Windeln gewickelt.» 

Auch Maria braucht einen Augenblick, um all das, was sie gehört hat, zu verarbeiten. So schreibt es jedenfalls Lukas in seiner Weihnachtsgeschichte: Maria behielt alle diese Worte und bewegte sie in ihrem Herzen.

Baum im Winterwald

Unser Baum wacht über dem Frieden in der Krippe. Streckt elegant seine Äste darüber aus. Ab und zu fallen ein paar Nadeln ins Stroh. 

Alle Jahre wieder suchen wir einen Baum aus, am liebsten direkt im Winterwald. Wir stapfen durch das Unterholz, bis wir den perfekten Baum gefunden haben. Der meist gar nicht perfekt ist, sondern ein bisschen schräg, der dafür aber wunderbar duftet, nach Moos und Feuchtigkeit und Tannengrün. Und am 24. Dezember wird die Weihnachtskiste vom Estrich geholt, in der all die Kostbarkeiten übers Jahr hinweg verborgen sind: der skifahrende Engel aus dem Erzgebirge, der schon am Baum hing, als ich Kind war; und die Strohsterne, die älter sind als ich selbst. Die Walnüsse, an rot-weiss-karierten Stoffbändern, selbst gebastelt. Die gedrehten Eiszapfen aus Glas, unspektakulär im Kiosk eines Bahnhofs erstanden nach einem Skiausflug in die Innerschweiz. Und natürlich die roten Christbaumkugeln in Klein und Gross. 

Der Paradiesbaum

Jahr für Jahr werden sie ausgepackt und aufgehängt, damit der Weihnachtsbaum seine Geschichten erzählen kann. Geschichten von all den Weihnachtsfesten, die wir gefeiert haben. Geschichten, die uns mit den Menschen verbinden, die mit uns um den Baum sassen. Und Geschichten von Weihnachten.

Gewiss, der Tannenbaum gehörte nicht zur ursprünglichen Ausstattung der Geburtsszene. Am östlichen Mittelmeer wachsen keine Tannen. Zu Weihnachten fand die Tanne erst später. Im Mittelalter gehörte es zu den Weihnachtsfeierlichkeiten, die Paradiesgeschichte aufzuführen. Man benötigte also einen Baum, von dem Adam und Eva den Apfel pflücken konnten. Dieser Baum sollte natürlich grün sein – mitten im kalten, mitteleuropäischen Winter. Die Tanne bot sich an. Und in ihrer Rolle als Paradiesbaum wurde sie mit der Zeit immer reicher geschmückt: mit verschiedenen Leckereien, Gebäck und Nüssen. Die Zuschauerinnen und Zuschauer sollten die Fülle des Paradieses vor Augen haben. Am Dreikönigsfest, am 6. Januar, durften die Kinder dann den Baum plündern. Dafür gab es sogar ein eigenes Wort: Abblümeln, nannte man das. Ein wunderbares Wort! Es zergeht auf der Zunge, wie die Zuckerstange vom Baum.

Die Sehnsucht nach dem Garten Eden

Etwas später, nach der Reformation, eroberte der Weihnachtsbaum die Wohnzimmer. Auch dort wurde er reich geschmückt: farbige Rosse aus Papier, kleine Kuchen, Zischgold und Zucker, wie es in einem Bericht von 1605 aus Strassburg heisst. Kleines Spielzeug kam als Geschenk für die Kinder dazu. Die Äpfel verwandelten sich in glänzende, rote Weihnachtskugeln. Und die Strohsterne erinnerten neben all dem Glanz daran, dass das Kind von Maria und Josef in einem Stall zur Welt kam und in einer einfachen Futterkrippe lag, die als Wiege herhalten musste. 

In jedem Weihnachtsbaum steckt also auch ein kleines Stück vom Paradiesbaum. Er erinnert an die Zeit, als die Welt noch vollkommen war. Als Gott und Mensch im selben Garten spazieren gingen und Gottes Freude an seinen Geschöpfen gross war. Als für alles und alle gesorgt war, im Überfluss. Jeder Weihnachtsbaum ist ein bisschen Paradiesbaum und birgt den Schmerz darüber, dass die Paradieszeit ein jähes Ende fand. Und hütet die Sehnsucht, dass auch im Leben ausserhalb des Gartens etwas spürbar bleibt vom Anfang. Vom Anfang, an dem alles unversehrt war, leicht und licht, voll von Gottes Gegenwart. 

Den Menschen nahe sein

Denn Gott selbst ist nicht im Garten Eden zurückgeblieben. Gott ist den Menschen nachgegangen. Ist mitgezogen mit seinem Volk nach Ägypten und wieder zurück; offenbarte und zeigte sich, sass im Exil an den Ufern Babylons, verzweifelte, wenn sein Volk sich abwandte. Lockte es zurück, bereit, den Zorn verrauchen zu lassen, weil die Liebe stärker war. Gott blieb seinem Namen treu: Immanuel, Gott mit uns.  

Um den Menschen noch näher zu sein, ging er einen radikalen Weg: Gott wurde Kind. Ein Kind in der Krippe, arm und bloss. Ein Mensch mit Haut und Haar, aus Fleisch und Blut. 

Wenn die Liebe das Handeln bestimmt

Und als das Kind gross war, zog es durch das Land, redete mit den Menschen, erzählte ihnen Geschichten und heilte ihre Wunden. Der erwachsene Jesus sprach vom Reich Gottes, säte ein Stück Himmel auf Erden. Es ist möglich, davon war er überzeugt, etwas vom Paradies zurückzugewinnen, wenn die Menschen sich Gott zuwenden. Wenn sie sich an dem orientieren, was gut ist. Es ist möglich, wenn die Menschen die Liebe zum Massstab nehmen, die Liebe zu Gott, die Liebe zu ihren Nachbarinnen und Nachbarn und zu sich selbst.

Es ist möglich, wenn sie die Liebe ihr Handeln bestimmen lassen. Es gibt Hoffnung, meinte Jesus, und legte selbst den Grund dazu. Ging konsequent den Weg eines jeden Menschen, bis zum Ende. Dem Sterben widersetzte er sich nicht, gab sich in den Tod, im Vertrauen darauf, dass Gott daraus neues Leben schaffen wird. Deshalb wird manchmal im Gottesdienst an Ostern ein Holzkreuz mit Blumen, Blättern oder Pflanzenranken geschmückt. Alle sollen es sehen: Das Kreuz, das den Tod gebracht hat, wird zum Lebensbaum.

Der grüne Baum bei Hosea

Sattgrün steht auch der Weihnachtsbaum da – nicht nur zur Sommerszeit, nein auch im Winter, wenn es schneit. Er bewahrt das Grün des Frühlings durch die kalte und unwirtliche Jahreszeit hindurch. Als Christbaum spricht er bereits von Ostern, von der Kraft des Lebens, die aus Gott strömt und allem Lebensfeindlichen widerstehen will.  

Übrigens: es gibt ihn doch in der Bibel, den Tannenbaum. Zumindest in älteren Übersetzungen der Lutherbibel. Im Buch Hosea sagt Gott zu seinem Volk: «Ephraim, was sollen dir weiter die Götzen? Ich will dich erhören und führen, ich will sein wie eine grünende Tanne; von mir erhältst du deine Früchte.» (Hosea 14, 9; Übersetzung nach Martin Luther, 1984).

«Gott verschenkt seine Früchte»

Eigentlich, also wörtlich, ist hier nicht von einer Tanne die Rede, sondern von einem Wacholder; im Gegensatz zur Tanne wächst Wacholder in den warmen Klimazonen des Mittelmeerraums. Auch er ist ein Immergrün. Die Blätter sehen aus wie Nadeln, und er trägt kleine blaue Früchte, wie Miniatur-Christbaumkugeln. Man kann mit ihnen dem Essen Würze geben. Und – richtig dosiert – haben sie heilende Kräfte. 

Ich will sein wie eine grünende Tanne, sagt Gott, wie ein üppiger Wacholder. Gott verschenkt seine Früchte und wir stehen da, mit vollen Händen.

Glückselig wie Kinder, die die Köstlichkeiten vom Weihnachtsbaum abblümeln dürfen. 

Amen.

* Die reformierte Theologin Katrin Kusmierz arbeitet am Institut für Praktische Theologie in Bern.


Adam und Eva im Paradies: Glasfenster der Kapelle am Zürcher Unispital. | © Sabine Zgraggen
26. Dezember 2021 | 07:57
Lesezeit: ca. 5 Min.
Teilen Sie diesen Artikel!