Streetart in Wien.
Kommentar

Katholische Pluralität statt Unterstellungen: Zum Vorwurf Jan-Heiner Tücks gegenüber Peter Hünermann

Jan-Heiner Tück kritisiert in der NZZ Peter Hünermann. Zu Unrecht, findet Jochen Hilberath: «Evangelium und Glaubensbekenntnis stehen auf dem Synodalen Weg nicht zur Disposition!» Und: «Das Neue Testament kennt kein Verbot der Ordination von Frauen, keine Verurteilung nicht-heterosexueller Lebensgemeinschaften.»

Bernd Jochen Hilberath*

Ganz gewiss dürfen Schüler ihre Lehrer kritisieren. Auf sie wird ein guter Lehrer bereitwillig hören, zumal die Schüler nicht nur seine Ansichten kennen, sondern auch die darin zum Ausdruck kommende Person. 

Offener Brief an Papst Franziskus

Umso unverständlicher, wenn dem Lehrer Intentionen unterstellt werden, die er nicht verfolgt, oder eine angebliche Position des Lehrers als Aufhänger dient, um die eigene Meinung zu propagieren. Konkret: In seinem offenen Brief an den Papst bittet Peter Hünermann nachdrücklich, angesichts des Missbrauchs die strukturelle Sünde der römisch-katholischen Kirche anzuerkennen und in einem offenen Schuldbekenntnis auszusprechen. 

Von links: Papst Benedikt XVI. erhält 2006 den Konzilskommentar von Manuel Herder, Peter Hünermann und Bernd Jochen Hilberath.
Von links: Papst Benedikt XVI. erhält 2006 den Konzilskommentar von Manuel Herder, Peter Hünermann und Bernd Jochen Hilberath.

Sein Thema ist nicht der Synodale Weg als solcher. Vielmehr will er gegenüber vatikanischer Kritik betonen, dass es zu diesem «Gesprächsformat» angesichts der Verbrechen und den Vertuschungen keine Alternative gegeben habe. 

Tück-Bashing gegen den Synodalen Weg

In seinem Gastbeitrag in der NZZ stimmt Jan-Heiner Tück insoweit zu, dass auch strukturelle Massnahmen notwendig seien, aber nicht weitergehende Reformen. So unterstellt er dem Lehrer: «Dass das deutsche Reformprojekt einen kühnen Umbau der Kirchenverfassung anstrebt, hat Hünermann ebenso verschwiegen wie die angezielte Weiterentwicklung der kirchlichen Sexualethik im Namen der Selbstbestimmung und den schleichenden Einzug radikaler Gendertheorien.» 

Jan-Heiner Tück lehrt Dogmatik in Wien.
Jan-Heiner Tück lehrt Dogmatik in Wien.

Hünermann hat nichts davon verschwiegen, weil es gar nicht sein Thema war. Aber es ist Tücks Thema, der sich damit in die Phalanx derer einreiht, die an einer differenzierenden Kenntnisnahme des Synodalen Weges nicht interessiert sind. 

Mehr Ambiguitätstoleranz wagen

Die katholische Kirche ist gespalten, und die Fronten verhärten sich. Was für die einen ein Wahrnehmen der Zeichen der Zeit bedeutet, ist für die anderen ein Ausliefern an den Zeitgeist. Für wieder andere ist katholisch genau das Gegenteil von dem, was die evangelischen Kirchen «haben». 

Der Dogmatiker Peter Hünermann 2008 in Rottenburg.
Der Dogmatiker Peter Hünermann 2008 in Rottenburg.

Gibt es eine Alternative? Kommunikative Voraussetzung wäre die Anerkennung der innerkatholischen Pluralität. Erforderlich ist das, was in der Soziologie und Psychologie «Ambiguitätstoleranz» genannt wird. Einschlägige Untersuchungen zeigen, dass sich religiöse Menschen in traditionellen Institutionen besonders schwer damit tun. 

Kein Dezisionismus, keine faulen Kompromisse

Diese Anerkennung heisst nicht: alles ist zutreffend, theologisch vertretbar, in spiritueller Hinsicht zu tolerieren. Aber eine grundsätzliche Anerkennung (zumindest bis zum Erweis des Gegenteils) ist die Voraussetzung dafür, nun miteinander in den offenen und strittigen Fragen zu ringen. 

Hans Küng (zweiter von links) und seine Jünger: Urs Baumann (links), Bernd Jochen Hilberath (dritter von links) und Karl-Josef Kuschel (rechts).
Hans Küng (zweiter von links) und seine Jünger: Urs Baumann (links), Bernd Jochen Hilberath (dritter von links) und Karl-Josef Kuschel (rechts).

Dabei gibt es Massstäbe. Jede Gesprächspartnerin bis zum Erweis des Gegenteils ernstnehmen und die Anerkennung der Ambiguität (Doppel- oder Mehrdeutigkeit) müssen nicht bedeuten, dass nichts mehr zutrifft, gilt und verbindlich ist, dass also endlos debattiert würde. Aber es gilt miteinander zu ringen – und zu Ergebnissen zu kommen! Nicht dezisionistisch oder durch faule Kompromisse. 

Jesus von Nazareth als Richtschnur

Denn das Kriterium schlechthin ist das Evangelium, das angesichts der Zeichen der Zeit gelebt und verkündet werden will. Deshalb ist zu jeder (Krisen-) Zeit zu fragen, ob das, was sich in Leben und Lehre der Kirche entwickelt hat, auch heute noch von der Kirche als evangeliumsgemäss oder zumindest als nicht evangeliumswidrig (an)erkannt werden kann. 

Jesus (Yavn Sagnet) und seine Jüngerinnen und Jünger beim letzten Abendmahl. Szene aus "Das neue Evangelium" von Milo Rau.
Jesus (Yavn Sagnet) und seine Jüngerinnen und Jünger beim letzten Abendmahl. Szene aus "Das neue Evangelium" von Milo Rau.

Jesus von Nazareth hat keine Jünger zu Priestern berufen, so, wie sich dieser Dienst in der Geschichte der Kirche ausgebildet hat; das Neue Testament kennt kein Verbot der Ordination von Frauen, keine Verurteilung nicht-heterosexueller Lebensgemeinschaften. Es scheint mir nicht möglich, genau diese Positionen nicht als evangeliumswidrig einzustufen. 

«Was denkt Gottes treues heiliges Volk?» 

Freilich: theologische Rationalität ist selten gefragt, schon gar nicht, wenn sie irritiert und zum Umdenken einlädt. Dann werden die «akademische[n] Eliten» diffamiert. Tück beruft sich dafür entsprechende Zweifel des Papstes und dessen Frage «Was denkt Gottes treues heiliges Volk?» 

Vier Frauen auf dem Sockel: Skulptur von Alberto Giacometti in Wien.
Vier Frauen auf dem Sockel: Skulptur von Alberto Giacometti in Wien.

Die Berufung auf den Teil der Gläubigen, die mit (Teilen) der Hierarchie übereinstimmen – also auf die sogenannten wahren Katholiken –, dient immer wieder dazu, die eigene Position als die richtige zu behaupten – und das gilt so lange, wie es diese Übereinstimmung gibt. Abwertung der «anderen» statt Auseinandersetzung und Miteinanderringen! 

Gilt denn das Zweite Vatikanische Konzil nicht mehr?

Doch nicht nur die theologische Intelligenz, sondern auch die «nicht geweihten» Gläubigen finden keine gebührende Anerkennung. Ja, es wird, auch von Tück, unterstellt, Laien wollten «mit quasi bischöflicher Autorität die Kirche leiten». Erschreckend undifferenziert heisst es, der Synodale Rat sei «ein neuer Typ von Kirchenleitung». Dass «auf dem Synodalen Weg … Bischöfe und Laien auf gleicher Augenhöhe beraten und entscheiden» entspreche «Synodalpraktiken(!)»der evangelischen Kirche. 

Papst Franziskus lacht mit Kardinal Reinhard Marx (l.), Erzbischof von München und Freising, beim Ad-limina-Besuch. Im Hintergrund Rainer Maria Woelki.
Papst Franziskus lacht mit Kardinal Reinhard Marx (l.), Erzbischof von München und Freising, beim Ad-limina-Besuch. Im Hintergrund Rainer Maria Woelki.

Stattdessen wie Tück den «papa» in Rom um ein Machtwort bitten? Gilt denn das Zweite Vatikanische Konzil nicht mehr? Ist es verantwortlich für die Etablierung neuer Beratungs- und Entscheidungsformen? 

Dekret über die Hirtenaufgabe der Bischöfe

In der Kirchenkonstitution «Lumen gentium» heisst es: «Die geweihten Hirten wissen sehr gut, wie viel die Laien zum Wohl der ganzen Kirche beitragen» (LG 30). «Entsprechend dem Wissen, der Zuständigkeit und hervorragenden Stellung, die sie einnehmen, haben sie die Möglichkeit, bisweilen auch die Pflicht, ihre Meinung in dem, was das Wohl der Kirche angeht, zu erklären» (37). Denn «der Unterschied [zwischen geweihten und nicht-geweihten Gläubigen] schliesst Verbundenheit ein» (32). 

Haben laut Pollack aus der Vergangenheit gelernt: die deutschen Bischöfe beim Ad-limina-Besuch.
Haben laut Pollack aus der Vergangenheit gelernt: die deutschen Bischöfe beim Ad-limina-Besuch.

Bischöfe brauchen dringend die Laien, wenn sie ihre Hirtenaufgabe wahrnehmen wollen: «Die christliche Lehre sollen sie auf eine Weise vortragen, die den Erfordernissen der Zeit angepasst ist, das heisst, die den Schwierigkeiten und Fragen, von denen die Menschen so bedrängt und geängstigt werden, entspricht» (Dekret über die Hirtenaufgabe der Bischöfe «Christus Dominus» 13). 

Die Kirche evangeliumsgemäss gestaltet – angesichts der Zeichen der Zeit

War nicht der entscheidende Anlass zur Einrichtung des Synodalen Weges, dass die Gläubigen sich immer schwerer tun, darauf zu vertrauen, dass diejenigen, unter denen sich Täter und Vertuscher finden, die Frohe Botschaft ausrichten können? Das Konzil empfiehlt: «Bei der Wahrnehmung dieser Hirtensorge mögen sie [die Bischöfe] ihren Gläubigen in den Angelegenheiten der Kirche den ihnen gebührenden Anteil belassen und deren Pflicht und Recht anerkennen, aktiv am Aufbau des mystischen Leibes Christi mitzuwirken» (CD 16).

Monika Schmid während ihres Abschiedsgottesdienstes.
Monika Schmid während ihres Abschiedsgottesdienstes.

Dies wird in den verschiedenen Teilen der Weltkirche anders aussehen, so dass auf Beratung Entscheidungen folgen, die auch unterschiedlich ausfallen dürfen, ja müssen, wenn Leben und Lehre der Kirche evangeliumsgemäss angesichts der Zeichen der Zeit konkret gestaltet werden sollen. 

Verzerrtes Bild über den Synodalen Weg

Und übrigens: Was ist das Kriterium, wenn zum Abschluss des Ad-limina-Besuches der deutschen Bischöfe von vatikanischer Seite betont wird, es gäbe nicht verhandelbare Lehren? Stehen Traditionen über der Bibel, über theologischen Einsichten, über dem Glaubenssinn des Gottesvolkes? Evangelium und Glaubensbekenntnis, also dogmatische Entscheidungen, stehen auf dem Synodalen Weg jedenfalls nicht zur Disposition! 

* Bernd Jochen Hilberath war von März 1992 bis zu seiner Emeritierung 2013 Professor für Dogmatische Theologie und Dogmengeschichte an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Eberhard Karls Universität Tübingen. Zusammen mit Peter Hünermann hat er «Herders Theologischer Kommentar zum Zweiten Vatikanischen Konzil» herausgegeben.


Streetart in Wien. | © Raphael Rauch
20. November 2022 | 08:51
Lesezeit: ca. 5 Min.
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