Karin Iten, Präventionsbeauftragte des Bistums Chur
Schweiz

Karin Iten: «Im fundamentalistischen Lager der Kirche gibt es Widerstand»

Die Präventionsbeauftragte des Bistums Chur, Karin Iten, spricht Klartext: Wenn Menschen ihre Sexualität nicht leben können, mache sie das krank. Auch als Agnostikerin könne sie in der Kirche Präventionsarbeit leisten: Der Blick von aussen sei wichtig fürs «Mindset». Und als Agnostikerin sei sie unabhängiger. Dieses Interview wurde im November 2022 geführt.

Camilla Landbö

Mir sagte einmal eine ältere Nonne, es sei so unerträglich, jahrelang keine Zärtlichkeiten zu bekommen. Sexualität und Religion: ein unendlich leidiges Thema, nicht wahr?

Karin Iten*: Ja. Erst mal Hut ab vor dieser Frau, dass sie das so ehrlich sagt. Ein Leben ohne Sexualität und ohne Körperkontakt, das ist lebens- und menschenfeindlich. Der Mensch braucht Körperkontakt, und zwar in allen Altersstufen. Ohne eine Umarmung hie und da verkümmert man emotional. Dazu gibt es genügend Forschungen.

Karin Iten stellt den Verhaltenskodex des Bistums Chur vor.
Karin Iten stellt den Verhaltenskodex des Bistums Chur vor.

Und wenn es um die Sexualität geht?

Iten: Menschen sind sexuelle Wesen. Auch dazu gibt es Forschungen: Zwei Prozent der Menschen sind asexuell, das gibts. 98 Prozent jedoch haben sexuelle Bedürfnisse. Sexualität liegt in der Natur und in der Psyche des Menschen. In der Kirche ist es aber so, dass es heute noch Leute gibt, die die Meinung vertreten, sogar Selbstbefriedigung sei Sünde und Selbstzerstörung. Damit wäre dann die Sexualität gleich auf null gesetzt.

«Die Reduktion allein auf Fortpflanzung ist einfach artfremd.»

Gut, fortpflanzen darf man sich ja als Gläubige oder Gläubiger.

Iten: Sexualität hat verschiedene Dimensionen: Lust, Identität, Beziehung, auch Entspannung und Fortpflanzung. Die Reduktion allein auf Fortpflanzung, das ist einfach artfremd. Viele Menschen zerbrechen im System der katholischen Kirche genau an dieser Abspaltung von den menschlichen Bedürfnissen nach Zärtlichkeit und Sexualität.

Kirchliche Kommunikation als "Blackbox".
Kirchliche Kommunikation als "Blackbox".

Diese Sexualmoral der Kirche, die alles als Sünde bezeichnet, was ausserhalb der Fortpflanzung liegt, das hat überhaupt nichts mehr mit den existenziellen Fragen zu tun, mit denen sich eine Religion befasst oder befassen sollte.

Und die wären?

Iten: Was passiert nach dem Tod? Wie geht es weiter? Fragen halt zu Leben und Tod. Weiter gehört doch zu den Aufgaben einer Kirche, Menschen zu begleiten, die einen Verlust erlitten haben, die Trost brauchen. Wenn es einen Gott gibt, dann ist das nicht so ein Kleingeist, der sich für die Schlafzimmer der Menschen interessiert.

«Ich sehe es als sinnvoll an, in die Prävention von Machtmissbrauch zu investieren. Dies geht nicht ohne Rütteln an der Sexualmoral, sonst ist Prävention eine Farce.»

Apropos Gott – Sie sind Agnostikerin. Was machen Sie im Dienst der katholischen Kirche?

Iten: Ich stehe fürs Thema Prävention, ich bin gegenüber der Sache und Opfer loyal und nicht gegenüber der Organisation. Dass in dieser Funktion jemand ist mit einer völligen Unabhängigkeit in der Denkweise, im Mindsetting, das ist wichtig. Ich sehe es als sinnvoll an, in die Prävention von Machtmissbrauch zu investieren. Dies geht nicht ohne Rütteln an der Sexualmoral, sonst ist Prävention eine Farce.

Im vergangenen Oktober bezeichnete der Papst die Pornografie als «Eintrittstor des Teufels».

Iten: Im 21. Jahrhundert noch mit dem Teufel zu argumentieren, das geht gar nicht! Das verängstigt Menschen. Es geht in Richtung spirituelle Manipulation.

Kardinal George Pell im Graffito des australischen Künstlers Scott Marsh.
Kardinal George Pell im Graffito des australischen Künstlers Scott Marsh.

Wen verängstigt das?

Iten: Wir mögen in der Schweiz differenzierter mit dieser Aussage umgehen können. Aber Menschen in anderen Ländern der Welt macht das wirklich Angst. Und der Papst spricht für alle Länder, auch für solche, wo es noch Teufelsaustreibungen und Hetzjagden gibt. Er hat also eine Verantwortung.

Sie haben spirituelle Manipulation genannt, wie sieht die aus?

Iten: Die Kopplung von Spiritualität und Macht ist höchst problematisch. Das eröffnet sehr viel Raum für Manipulation. Andere unterdrücken, sie ausnützen im Namen von Gott, das ist spiritueller Missbrauch. Etwa wenn jemand mit Worten wie «Gott will es so» argumentiert, um seine eigenen Zwecke und Ziele zu erreichen.

«Die Kirche hat eine grosse Anlage, spirituelle Manipulation zu begehen.»

Etwa um sich selbst zu legitimieren, damit ein anderer zur Verfügung stehen muss für sexuelle Dienste. Die Kopplung von Spiritualität und Macht ist in der DNA der katholischen Kirche. Sie hat also eine grosse Anlage, spirituelle Manipulation zu begehen. Da bräuchte es viel Selbstreflexion.

Solange es dieses Machtgefälle innerhalb der Kirche existiert, wird sich das nicht ändern. Sie sagen: Doch, das ist möglich; und haben einen Verhaltenskodex eingeführt. Was ist das?

Iten: Es ist ein Instrument für Führungspersonal und Angestellte der katholischen Kirche, eine Art Handbuch. Gemeinsam mit dem Priester Stefan Loppacher haben wir den Kodex als Präventionsbeauftragte erarbeitet. Mit dem Verhaltenskodex wollen wir Macht thematisieren und reflektieren sowie kritisierbar machen.

Karin Iten und Stefan Loppacher
Karin Iten und Stefan Loppacher

Indem Bischöfe, Generalvikare, Seelsorgerinnen, Pfarrer oder Religionslehrpersonen den Kodex unterschreiben, können wir von ihnen Kompetenzen einfordern.

Welche Themen werden aufgegriffen?

Iten: Etwa wie man spirituelle Manipulation verhindern kann. Wie man Menschen nicht verängstigt und beschämt. Im Verhaltenskodex finden sich ganz konkrete Beispiele fürs Kirchenpersonal im Umgang mit den Gläubigen.

«Sexualität ist integraler Bestandteil des Menschseins.»

Also auch der Umgang mit der Sexualität?

Iten: Ja, dort sind mehrere Punkte aufgelistet, die kirchliche Mitarbeitende beachten sollen. Unter anderem sollen sie die Sexualität als integralen Bestandteil des Menschseins anerkennen. Ebenso die sexuellen Rechte als Menschenrechte anerkennen, insbesondere das Recht auf sexuelle Selbstbestimmtheit.

Mit Regenbogen-Fahne: die Elisabethenkirche in Basel.
Mit Regenbogen-Fahne: die Elisabethenkirche in Basel.

Jegliche Form von Diskriminierung aufgrund der sexuellen Orientierung und Identität sollen sie unterlassen. Und ein weiterer Punkt: Es wird kein Mensch zum Thema Sexualität ausgefragt. Das macht man beim Arbeitsplatz ja auch nicht.

Wo in der Schweiz wurde der Verhaltenskodex implementiert?

Iten: Im Bistum Chur. Und soeben hat man im deutschsprachigen Teil des Bistums Lausanne, Genf und Freiburg einen Verhaltenskodex implementiert, der auf der Churer Grundlage erarbeitet wurde. In einem nächsten Schritt soll der Kodex auch auf Französisch übersetzt und adaptiert werden.

«Prävention muss im Alltag sichtbar sein.»

In einem anderen Bistum der Schweiz ist er im Gespräch. Klar, im fundamentalistischen Lager der Kirche gibt es Widerstand gegenüber einem solchen Kodex, vor allem wenn es um Sexualität geht.

Es gibt schon Schutzkonzepte – genügen die nicht?

Iten: Sie sind zu wenig konkret. Prävention muss im Alltag sichtbar sein. Wenn es zu abstrakt bleibt, mit Sätzen in der Prävention wie «Wir wahren die Integrität», nicken das zwar alle ab, aber das schützt nicht.

* Karin Iten ist Präventionsbeauftragte des Bistums Chur. Die studierte Naturwissenschaftlerin sieht sexualisierte Gewalt in der katholischen Kirche als weitgreifendes Problem.

Das Interview wurde bereits im November 2022 geführt. (kna)


Karin Iten, Präventionsbeauftragte des Bistums Chur | © zVg
21. Februar 2023 | 12:52
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