Kardinal Heinrich Schwery
Schweiz

Kardinal Schwery über Intrigen und Mätzchen im Wallis und Vatikan

Saint-Léonard VS, 5.10.17 (kath.ch) Offen, humorvoll und ehrlich spricht Kardinal Heinrich Schwery gegenüber cath.ch über sein Leben, seine Ernennung zum Bischof und den plötzlichen Abgang aus seinem Amt. Heute lebt er zurückgezogen in einer kleinen Wohnung in Saint-Léonard. Am kommenden Sonntag gehört er zu den Priesterjubilaren, derer das Bistum Sitten bei einem Gottesdienst gedenkt.

Pierre Pistoletti

Anlässlich des alljährlichen Weihefest der Kathedrale feiert das Bistum Sitten auch das Fest der Priesterjubilare. Zu diesen gehört auch Kardinal Heinrich Schwery. Er ist 85 Jahre alt und feiert 60 Jahre Priesterweihe und 40 Jahre Bischofsweihe. cath.ch traf ihn an seinem Wohnort, der auch sein Heimatort ist. Der Kardinal nimmt nach wie vor kein Blatt vor den Mund.

«Dieses verdammte Ding! Ich bin Physiker und bringe es nicht in Gang!» Mit «Ding» meinte Kardinal Schwery die Gegensprechanlage. «Warteten Sie schon lange?», heisst es bei der Begrüssung. Eine gewisse Beharrlichkeit braucht es schon, um den Walliser Kardinal zu treffen.

In all seinen Jahren als Priester und Bischof lernte er vieles kennen: die Dokumente des Vatikanischen Konzils, das Bischofsamt, die Nähe zu Papst Jean-Paul ll., die Abspaltung der Lefebvrianer, ein Konklave und auch einige Niederträchtigkeiten der römischen Kurie, wie er sagt.

Zur Sache, nehmen Sie Platz. Ich habe auf Sie gewartet.

Während seines untypischen kirchlichen Werdegangs liess er sich auch auf die exakten Wissenschaften ein und unterrichtete. Er stellt fest: Seine kirchliche Karriere baute auf einem Plan auf, den andere für ihn aufgestellt haben – und das bis zu seinem Rücktritt von der Spitze der Diözese von Sitten. «Zur Sache, nehmen Sie Platz. Ich habe auf Sie gewartet.»

«Ich bin das Jüngste von zehn Kindern. Es brauchte neun Versuche, damit ich gelang», erklärt der Kardinal mit einem verschmitzten Lächeln. Der Ton ist gegeben. Als Kind begegnete er in seinem Heimatsdorf Saint-Léonard oft den Redemptoristen-Patres, die zu jener Zeit dort eine Niederlassung hatten.

«Ich war dreizehn. Ich ging mehrmals zu ihnen, um mit ihnen zu diskutieren». Es dauerte nicht lange, bis die Idee Fuss fasste, Priester zu werden. Aber die schwache Gesundheit des künftigen Kardinals überzeugte die Patres nicht. Er besuchte damals Ferienlager, die von der Lungenliga organisiert wurden.

Gesundheit kein Problem mehr

Im Priesterseminar, in welches Heinrich Schwery einige Jahre später eintrat, war seine Gesundheit kein Thema mehr. Er begann die Ausbildung mit einer festen Idee im Kopf: Er wollte Vikar in Chandolin im Val’Anniviers werden. Aber der damalige Bischof von Sitten, François-Nestor Adam, hatte andere Pläne. Er schickte ihn zum Studium nach Rom, wo er sein theologisches Studium fortsetzte, um später am diözesanen Priesterseminar unterrichten zu können.

Aber der damalige Bischof von Sitten hatte andere Pläne.

Der zweijährige Aufenthalt in Rom, der Besuch des französischen Seminars und der Päpstlichen Universität Gregoriana bezauberten ihn. Er kehrte in die Schweiz zurück. Am 7. Juli 1957 wurde er in Saint-Léonard zum Priester geweiht. «Ich habe in dieser Kirche fast alles bekommen. Die Taufe, die erste Kommunion, die Firmung und die Priesterweihe. Es fehlt noch die Heirat», scherzt der Kardinal.

Für den Jungpriester folgte eine weitere Kehrtwende. Er wurde statt in die Seelsorge, auf welche er sich vorbereitet hatte, nach Freiburg geschickt, wo er theoretische Physik studieren sollte. Der Bischof wollte, dass er später am Kollegium in Brig unterrichte.

Einstein, ein spiritueller Lehrer

In dieser Zeit wird Einstein sein spiritueller Lehrer. «Ich habe alles von ihm gelesen. Er ist das Genie der Genies. Er war nicht religiös im engeren Sinn. Wir sind aber auf der gleichen Wellenlänge, wenn er schreibt: Das Universum ist so kohärent, dass es unmöglich ist, dass nicht ein denkendes Wesen dahintersteckt. Wir haben eine gemeinsame Basis, die jeder auf seine Weise interpretiert – und zwar ehrlich».

Die Wissenschaft hat ihn an seinem Glauben nie zweifeln lassen. «Im Gegenteil, die akademische Welt ist neutral, nicht atheistisch. Die Wissenschaften sind ein Gebiet, wo die Theologie da und dort Argumente entlehnen kann, welche erlauben, mit anderen Bereichen in Diskussion zu treten».

Anonyme Autoren erklärten, dass der Bischof in einem Jahr in Rente gehen werde.

Nach Abschluss des Studiums unterrichtete Schwery am Gymnasium in Sitten, machte Übersetzungen im technisch-wissenschaftlich Bereich und ging einigen Seelsorgeverpflichtungen nach – vor allem bei einem Kollegen, der etwas zu tief in die Flasche schaute: «Am Samstagabend bereitete ich die Messe vor, um über das Wochenende bei ihm zu bleiben und einzuspringen, falls er die Messe am Sonntag nicht lesen konnte.»

Und plötzlich Bischof

Heinrich Schwery wurde Rektor des Gymnasiums in Sitten. 1977 verbrachte er Ferien in seinem Chalet in Vernamiège, als er einen Brief erhielt. Er geriet in Machenschaften, welche die Nachfolge von Bischof Adam zum Ziel hatten: «Anonyme Autoren erklärten, dass der Bischof in einem Jahr in Rente gehen werde, so wie es das Kirchenrecht mit der Altersgrenze von 75 Jahren vorsieht. Es sei vorgesehen, dass ein Pfarrer in relativ hohem Alter für fünf Jahre zum Bischof ernannt werde. Dann solle sein Neffe das Amt übernehmen. Es stellte sich später heraus, dass es sich um Pfarrer Jérémie Mayor und um François Varone handelte.» Bischof Adam, der Wind von diesem Brief erhielt, zog dem Vorhaben einen Stricht durch die Rechnung. Anfang 1977 trat er heimlich zurück.

«Als mich der Nuntius anrief, um mich einzuladen, dachte ich an einen Scherz. ‘Hallo, Pater Schwery? Hier spricht der Nuntius.’ Ich habe geantwortet: ‘Ja. Und ich bin die Königin von England.’ Er hat diese Worte nicht sehr geschätzt.» Das Problem bestand darin, dass Rektor Schwery nichts seinesgleichen hatte, wenn es darum ging, Bischof Adam zu imitieren und per Telefon Kollegen auf die Strippe zu nehmen. Schwery ging darum davon aus, dass ihm jemand einen Streich spielen wollte.

Und ich bin die Königin von England.

Der Nuntius blieb aber hart: «Ich erwarte Sie morgen um neun Uhr in Bern in der Nuntiatur. Es ist geheim, niemand soll davon wissen». Etwas mulmig in den Knien begab sich Schwery anderntags früher als vorgesehen nach Bern, wo er in einem Restaurant unweit der Nuntiatur in Position ging. Von dort aus beobachtete er, ob irgendwo ein Amtsbruder auf der Lauer lag. «Ich habe niemanden gesehen.»

Erneut in Rom

Der künftige Bischof klingelte an der Tür der Nuntiatur. Der Nuntius teilte ihm mit: «Papst Paul VI. hat Sie zum Bischof von Sitten ernannt.» Er sei so berührt gewesen, erinnert sich Schwery, dass er sich nach der Verabschiedung in der Nuntiatur auf den Beifahrersitz seines Autos gesetzt habe. «Ich habe mich in dieses neue Amt eingefügt, wie ich es konnte. Als erstes habe ich jene Leute respektiert, die schon im Amt waren. Das Konzil war erst einige Jahre her. Viele Dinge mussten eingerichtet werden.»

Der Erzbischof von Toulouse befand sich zu jener Zeit im Bergdorf Mayens-de-Sion in den Ferien. In einer Zeitung stiess er auf den neuen Bischof. Kardinal Gabriel-Marie Garrone, der auch der Präfekt der katholischen Erziehungskongregation war, lud ihn zum Essen ein. «Es herrschte eine witzige Stimmung. Ich erzählte ihm meine Lebensgeschichte. Und dann war er auf einmal still. Aber später, im Januar 1978, ernannte er mich zum Mitglied der von ihm geleiteten Kongregation». Als Bischof von Sitten verbrachte Schwery jeweils eine Woche im Monat in Rom. «Ich war in allen Kongregationen, und das mehrmals», erinnert er sich.

Die ganz grosse Mehrheit der Priester, welche im Vatikan arbeitet, sind Muttersöhnchen.

Vatikanische Platzhalter

«In der Presse wurde oft über die Probleme in der Kurie gesprochen. Und ja, sie hatte recht», seufzt der Kardinal, der die Geheimnisse des Vatikans gut kennt. Seine Feststellung: «Die ganz grosse Mehrheit der Priester, welche im Vatikan arbeitet, sind Muttersöhnchen, stammen aus adligen Familien in Rom und träumen davon, violette oder rote Knöpfe zu tragen. Um diese zu erhalten, warten sie auf den Abgang ihres Dienstchefs. Sie haben nie eine Pfarrei aus der Nähe gesehen. Die ganz grosse Mehrheit», wiederholt der Kardinal.

Einmal kam ein Seminarist zu Schwery und erklärte: «Sobald ich zum Priester geweiht bin, will ich in die Diplomaten-Schule. Ich habe ihm geantwortet, er solle nicht daran denken, solange er nicht während wenigstens zehn Jahren in einer Pfarrei gewesen sei.»

Postbote des Papstes

Im Laufe seines Episkopats wurde Schwery ein Vertrauter von Papst Johannes Paul II., der ihn 1991 zum Kardinal ernannte. Schwery traf den Papst mehrmals. Als sich die Situation um den Integristen-Bischof Marcel Lefebvre zusehends vergiftete, wurde Schwery zum Postboten des Papstes. Der Sitz der Piusbruderschaft befindet sich unweit von Sitten in Ecône.

Man zieht die Schrauben an, weil man Angst hat, die Macht zu verlieren.

«Johannes Paul II. rief mich jeweils an und sagte: Ich möchte, dass Sie Bischof Lefebvre diese Frage stellen und mir seine Antwort mündlich mitteilen.» Mehrmals pendelte Schwery zwischen seinem Bischofssitz und Ecône hin und her, dies, bis die Priesterbruderschaft in «einen Fundamentalismus absank, aus dem man nichts mehr retten kann. Den Fundamentalismus eines Feldweibels: Man zieht die Schrauben an, weil man Angst hat, die Macht zu verlieren», meint Schwery, der Armeeseelsorger war. «Das ist aber nicht der schlimmste Fundamentalismus». Was gibt es aber Gefährlicheres?

Walliser Machenschaften

Schwery antwortet: «Eine Art von Fundamentalismus, der in der Kirche die zivile Gerichtsbarkeit mit der Gerichtsbarkeit Gottes verwechselt. Im Wallis gibt es eine Gruppe, die vom aktuellen Bischof fordert, er solle mir den Mund verbieten und mich wenn möglich aus dem Kanton weisen. Das unter dem Vorwand, ich würde die Abtreibung befürworten», erklärt der Kardinal. 2014 hatte sich Schwery gegen die Volksinitiative «Abtreibungsfinanzierung ist Privatsache» gestellt.

Es ist dringlich, dass wir den Menschen lieben lernen.

Seiner Meinung nach sollen die Menschen keine Form von Justiz auf eine solche Handlung ausüben. «Die Abtreibung ist gegen Gottes Gesetz, der uns auffordert, das Leben zu respektieren. Den Akt muss man verurteilen. Muss man aber deswegen auch den Menschen verurteilen? Dies, ohne die Situation zu kennen?», fragt Schwery und plädiert dafür, Fragen zu bedenken wie: «War es ein freier Entscheid? Wurde die Frau vergewaltigt? Ich könnte weitere Beispiele nennen. Juristisch gesehen gehört der Tod uns nicht. Gott will nicht, dass wir uns umbringen. Wenn jemand von seinem Balkon springt und sich dabei Beine und Becken bricht, soll ich dann dagegen sein, dass eine Krankenkasse die medizinischen Kosten übernimmt? Das wäre blöd! Es ist dringlich, dass wir den Menschen lieben lernen», urteilt der Kardinal.

«Mir wurde gekündigt»

«Rede ich zu viel? Wollen Sie ein Glas Wein? Wie ist es mit einem italienischen Rosé?» Das gibt uns die Gelegenheit, ein anderes Thema zu wählen. Der Bischof von Sitten trat 1995 ganz überraschend zurück und verschwand von der Bildfläche. «Zurückgetreten? Ich habe meinen Rücktritt nicht eingereicht! Mir wurde gekündigt. War ich vielleicht zu streng? Ach, schliesslich ist es gut so, man soll nicht zu lange Bischof bleiben. Ich habe komische Situationen erlebt. Aber eben, schade. Man muss…», und der Kardinal bricht ab und ergänzt dann: «Vielleicht ist dies das Purgatorium auf Erden.»

In den letzten Monaten als Bischof hätten ihn seine Mitarbeiter aufgefordert, auf seine Gesundheit zu achten. «Du wirst noch krank werden, ruhe dich aus.» Es begann System zu haben. «Was haben die alle, dass sie auf diese Art jammern, sagte ich mir. Eines Tages versuchte ich meinen Generalvikar zu erreichen. Nichts. Die Bischofsvikare. Nichts. Ich habe meinen Sekretär angerufen und er teilte mir mit, dass sie nach Bern gereist sind. Am Abend kamen sie zurück und sagten: Mach dir keine Sorgen, Heinrich. Der Nuntius hat gut verstanden, dass du müde bist. Er wird sich um dich kümmern.»

Wer hat zu dieser Situation beigetragen? Ich wollte es nie wissen.

Einige Tage danach habe er das Rücktrittsschreiben erhalten. «Ich habe es unterschrieben. Ich war in meinem Stolz verletzt. In meinem Kopf und meinem Herzen aber war ich vernünftig. Du warst 17 Jahre lang Bischof, das ist gar nicht so schlecht. Mach Platz für einen Anderen. Warum? Wer hat zu dieser Situation beigetragen? Ich wollte es nie wissen.»

Begegnung mit Gott

25 Jahre später findet sich in seinem Herzen nicht mehr wirklich eine Bitterkeit. Auch wenn er zurückgezogen in seiner kleinen Wohnung lebt, hat der Kardinal immer noch ein offenes Ohr für Gott und die Welt. Er kann sich gewisse Dinge nicht merken: einige Daten und Namen. Mit der Gesundheit ist es nicht zum Besten bestellt. Hat er Angst vor dem Tod? Der 85-Jährige antwortet: «Ich habe so viele sterben sehen. Meinen Vater, meine Mutter. Brüder, Schwestern, Neffen und Nichten. Ich habe keine Angst. Wenn es Schmerzen verursacht, werde ich weinen. Das ist alles.»

Wenn es Schmerzen verursacht, werde ich weinen. Das ist alles.

«Wenn Sie im Himmel ankommen, was erhoffen Sie sich von Gott, dass er Ihnen sagt», lautet die Frage des Journalisten. «Jaja, dann wirst du dich wieder in den Griff bekommen müssen, mein lieber Heinrich», erklärt der Kardinal mit einem freudigen Lachen. Er liefert noch ein letztes Bekenntnis: «Wissen Sie, wenn die Beichte gut durchgeführt wird, dann bietet sie die Möglichkeit, die Dinge neu zu ordnen. Hast du eine Dummheit gemacht? Ja. Dann soll man die Dinge in Ruhe anschauen und wieder an ihren Platz zurücksetzen. Das ist ganz einfach und bedeutet eine stete Linderung.» (cath.ch/ns)

Kardinal Heinrich Schwery | © Pierre Pistoletti
5. Oktober 2017 | 14:50
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