Kardinal Walter Kasper am 4. April 2019 in Rom.
International

Kardinal Kasper: «Papst Franziskus sitzt in der Zange»

Der deutsche Kardinal Walter Kasper hat sich gegenüber Journalisten zu zehn Jahren Papst Franziskus geäussert. Er sieht ihn als Reformer, der an die Wurzeln geht. Hier sein Vortrag, den kath.ch als Gastbeitrag bringt.

Kardinal Walter Kasper*

Ich beginne mit einer kurzen Einordnung des Pontifikats. Papst Franziskus hat mehrfach gesagt: Unsere Zeit ist nicht nur eine Zeit des Wandels, sondern ein Wandel der Zeit, eine Zeit eines Epochenwandels. Das gilt für die Welt, in der wir leben. Das gilt auch für die Kirche und die zehn Jahre Pontifikat von Papst Franziskus. 

Wandel bedeutet Unruhe und bringt Krisen mit sich, und es wäre unehrlich, nicht offen zu sagen: Die Kirche steckt in einer tiefen Krise. Man kann sogar von einer Identitätskrise sprechen. Was gilt noch in dem Prozess der Transformation, in dem wir uns befinden? Was muss bleibend gelten und was dringend reformiert, also geändert werden? Die Kirche ist immer dieselbe: eine heilige katholische und apostolische Kirche. Sie ist dieselbe, aber nicht immer dasselbe. Die ganze Geschichte der Kirche ist eine einzige Reformgeschichte, darf aber nicht zu einer Reformationsgeschichte werden.

Kardinal Gerhard Ludwig Müller gehört zu den einflussreichsten Kritikern von «Fiducia supplicans».
Kardinal Gerhard Ludwig Müller gehört zu den einflussreichsten Kritikern von «Fiducia supplicans».

Fundamentalistisch Konservative versus ideologisch Progressive

Papst Franziskus sitzt darum in der Zange: auf der einen Seite die fundamentalistisch Konservativen, auf der anderen Seite die ideologisch Progressiven. Diese sind inzwischen ebenfalls zu Kritikern geworden. Zwischen beiden Gruppen gibt es ein breites Mittelfeld, das entweder zufrieden ist oder ihm indifferent gegenübersteht.

Die fundamentalistisch Konservativen waren von Anfang an seine Gegner. Ihnen hat dieser Papst nie gefallen. Er verhält sich nicht und spricht nicht, wie es sich für einen Papst gehört. Doch die Kritik des Stils ist nur die äussere Form. Sie geht tiefer: Ist er noch wirklich katholisch? Dabei nimmt das Katholischsein teilweise identitäre Formen an. Man macht es an Abtreibungen und Demonstrationsumzügen von queeren Menschen fest.

Tritt für Reformen ein: Irme Stetter-Karp, Präsidentin des Zentralkomitee der deutschen Katholiken (ZdK) 2022.
Tritt für Reformen ein: Irme Stetter-Karp, Präsidentin des Zentralkomitee der deutschen Katholiken (ZdK) 2022.

Auf der anderen, «linken» Seite stehen die progressiven Kritiker. Der Papst will keine Reformen. In Wirklichkeit macht er viele Reformen, für die Rechten zu viele. Aber er will nicht alle liberalen Reformen wie im deutschen Synodalen Weg. Er ist kein liberaler Reformer, sondern ein radikaler Reformer, der die Kirche von der Wurzel (radix) her reformieren will, also vom Evangelium her.

Franziskus als «evangelischer Papst»

Damit komme ich zum Grundanliegen, das bereits in «Evangelii gaudium» zum Ausdruck kam. Franziskus ist ein evangelischer Papst, nicht im konfessionellen, sondern im ursprünglichen Sinn des Wortes. An oberster Stelle steht nicht die «doctrina» (Lehrmeinung, Red.), sondern das Evangelium, die lebendige Botschaft von Gott, dem barmherzigen Vater, der uns durch seinen Sohn erlöst hat und in der Kirche im Heiligen Geist durchgehend gegenwärtig ist.

Papst Franziskus schaut nach oben
Papst Franziskus schaut nach oben

Das Dikasterium der Evangelisierung hat darum in «Praedicate evangelium» den Vorrang vor dem Dikasterium über die Glaubenslehre. Es predigt nicht von Gott, der droht, verdammt und bestraft, sondern von Gott, der jeden in Liebe annimmt, verzeiht und versöhnt. Das ist ein neuer Ton, der der Kirche guttut. Er gefällt aber nicht allen und wird manchmal auch als Relativismus missverstanden.

Gewissensentscheidung hervorgehoben

Das Evangelium zur Grundlage zu machen, hat Konsequenzen. Für den einzelnen Christen. Franziskus hat in den Fragen der Sexual- und der Ehe-Lehre in «Amoris laetitia» einen neuen Ton eingeführt. Er hat nicht die Gebote geändert – das kann er nicht. Aber beim Umgang mit den Geboten hat er mehrfach die Gewissensentscheidung des Einzelnen hervorgehoben. Auch das ist ein neuer Ton.

Konsequenzen ergeben sich vor allem in der Soziallehre. Das Evangelium beginnt in der Bergpredigt mit der Seligpreisung der Armen. Sie sind heute die grosse Mehrheit der Menschheit. Franziskus hat das offensichtliche, himmelschreiende Unrecht in der Verteilung der Güter zum Thema gemacht. Und er hat damit den Kapitalismus in der westlichen Welt hart kritisiert. Das ist im Westen, besonders in den USA, nicht gut angekommen. Franziskus ist kein Europäer, er hat andere Prioritäten; er hat die Grundanliegen der Befreiungstheologie mit nach Rom gebracht. 

«Vielleicht die einzige moralische Autorität»

Das führt zu den grossen Problemen der gegenwärtigen Welt, denen er sich zugewandt hat. Zum Problem der globalen sozialen Gerechtigkeit, des Friedens in der Welt, des Verhältnisses der Weltreligionen – besonders mit dem moderaten Islam –, schliesslich zum Klimaproblem und der Bewahrung der Schöpfung (»Laudato si’»). In allen diesen Fragen, welche die Zukunft der Welt von fundamentaler Bedeutung sind, ist Franziskus einer der wenigen, vielleicht sogar die einzige moralische Autorität. Er geniesst weit über die katholische Kirche hinaus weltweit hohes Ansehen.

Klimaaktivisten protestieren in Bern gegen die Wahl Albert Röstis zum neuen Bundesrat.
Klimaaktivisten protestieren in Bern gegen die Wahl Albert Röstis zum neuen Bundesrat.

Er hat die innerkirchlichen Probleme nicht aus den Augen verloren. Ich beschränke mich auf die Frage der Synodalität. Das ist die konservativste Reform, die man sich denken kann, aber genau das Problem, welches das Zweite Vatikanische Konzil offengelassen hat und dessen Lösung das Gesicht der Kirche grundlegend ändern wird. Das Zweite Vatikanum hat gelehrt, die Kirche als «communio» (Gemeinschaft, Red.) zu verstehen, aber es hat versäumt zu sagen, wie die «communio» funktioniert, wie das Zusammenspiel von Bischöfen, Priestern und Laien vonstattengehen soll.

Synodalität als Ende des Klerikalismus

Synodalität bedeutet das Ende des alten hierarchischen Klerikalismus. Ein solcher Transformationsprozess lässt sich nur nicht von heute auf morgen machen; er braucht Zeit und einen langen Atem. Das geht nicht in einem einzigen Pontifikat, das braucht zwei und drei Pontifikate. Der Erfolg des gegenwärtigen Pontifikates entscheidet sich darum mit den Nachfolgern im Papstamt. Ich hoffe, dass das Pontifikat kein Zwischenfall ist, sondern der Anfang des Anfangs einer neuen Epoche.

Es ist offensichtlich: Das Papstamt ist in einer komplexen globalen Welt und in einer nicht weniger komplexen kirchlichen Situation eine komplexe Aufgabe. Diese überfordert jeden einzelnen Menschen. Jeder Papst hat darum seine starken Seiten, aber auch Aspekte, die er seinem Nachfolger überlassen muss. Ich habe über die positiven Seiten des Pontifikats gesprochen. Über die Defizite zu sprechen, die es auch gibt, überlasse ich den Journalisten. Ich stehe dem Pontifikat von Franziskus nicht nur loyal, sondern grundsätzlich wohlwollend gegenüber und hoffe und bete, dass wir diesen Papst noch ein paar Jahre behalten dürfen.

* Walter Kasper (89) war von 1989 bis 1999 Bischof von Rottenburg-Stuttgart, einem Schweizer Nachbarbistum. Er stammt aus Wangen im Allgäu, das früher zum Klosterbezirk St. Gallen gehörte. 1999 wurde Kasper Kurienkardinal und war Ökumene-Minister von Papst Johannes Paul II. und Benedikt XVI. Kaspers Nachfolger wurde der damalige Bischof von Basel, Kurt Koch.


Kardinal Walter Kasper am 4. April 2019 in Rom. | © KNA
13. Dezember 2022 | 14:25
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