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Kommentar

Ist der Katholizismus von Martin Grichting demokratiefähig?

In einem Gastbeitrag für die «NZZ am Sonntag» kritisiert der ehemalige Churer Generalvikar Martin Grichting «Gender-Ideologie», «Wokeness» und «Antirassismus». Siegfried Weichlein verortet Grichtings Argumentation im Ultramontanismus – und nicht in der Kirche in der Welt von heute. Ein Gastkommentar.

Siegfried Weichlein*

Martin Grichting organisiert seinen Text und seinen Gedankengang entlang der Figur von «Wir gegen sie»: das «bergende Gehäuse der christlichen Weltdeutung» gegen die verschiedenen Häresien der Umweltbewegung, der Gender-Ideologie und der Wokeness.

Reaktionäres Denken im Geiste des Ersten Vatikanum

Dieses «Wir gegen sie» organisiert seine Denkbewegung, die eingeleitet wird mit dem Bild der mittelalterlichen Kathedralen und den Wasserspeiern aussen, die Fratzen und böse Geister darstellen. Hinter diesem «Wir gegen sie» und «Innen und aussen» steht ein kirchliches Selbstverständnis, wie es dem Ersten Vatikanum zugrunde lag, das vor 151 Jahren in Rom abgehalten wurde und die Unfehlbarkeit des Papstes beschloss.

Siegfried Weichlein, Professor für europäische und schweizerische Zeitgeschichte an der Universität Fribourg
Siegfried Weichlein, Professor für europäische und schweizerische Zeitgeschichte an der Universität Fribourg

1875 dichtete Joseph Mohr das Kirchenlied «Ein Haus voll Glorie schauet…» Dessen dritte Strophe fasst den Sehepunkt von Martin Grichting vielleicht am besten zusammen: «Wohl tobet um die Mauern / der Sturm in wilder Wut / das Haus wird›s überdauern, / auf festem Grund es ruht.»

Was dem Autor schon methodisch nicht möglich ist

Es ist dieser nach innen gerichtete Blick mit einem triumphalistischen Kirchenbild, das den Autor zu seinen scharfen Feindstellungen ermutigt: gegen die Häresien, die er als «aus der Verankerung gerissene Elemente christlicher Weltanschauung» identifiziert. «Extra ecclesiam nulla salus» lautet die Auslegeordnung, um Häresien zu erkennen.

Martin Grichting (Mitte)
Martin Grichting (Mitte)

Alles was gut ist an gender, Umwelt und wokeness ist genuin christlich / katholisch. Es ist dem Autor schon methodisch nicht möglich, etwas genuin Richtiges zu denken, das ausser- oder gar dezidiert nichtchristliche Ursprünge hat.

Unhistorisches Verständnis des christlichen Glaubens

Eine dem Pluralismus zugewandte Haltung, die dem radikal verschiedenen Gegenüber noch seine Legitimität zuspricht, ist vom Ansatz her so nicht erreichbar. Nur die Heimkehrökumene in den Schoss der una sancta et apostolica ist dann noch möglich. Ist der Katholizismus von Martin Grichting pluralismus- und ergo: demokratiefähig?

Martin Grichting verlässt die Bistumsleitung in Chur.
Martin Grichting verlässt die Bistumsleitung in Chur.

Dieses kirchliche Selbstbewusstsein hat seine theologischen Voraussetzungen und Vorannahmen. Dazu gehört ein unhistorisches Verständnis des christlichen Glaubens, des depositum fidei, das es unversehrt durch die Geschichte zu tragen gelte. So begründet sich recht eigentlich der Gegensatz der gerechtfertigten Kirche und der Häresien, die ihr äusserlich sind.

Was Grichting von Hünermann lernen sollte

Martin Grichting zahlt dafür den Preis der Ungeschichtlichkeit. Zwischen dem Wahren in der Kirche und den Skeptikern oder Kritikern gibt es keine Brücke. Das Zweite Vatikanum hat sich auch theologisch von diesen falschen Dichotomien verabschiedet.

Der Dogmatiker Peter Hünermann 2008 in Rottenburg.
Der Dogmatiker Peter Hünermann 2008 in Rottenburg.

Der Tübinger Dogmatiker Peter Hünermann fasste den Lernfortschritt einmal so pointiert zusammen: «Eine Kirche, die das Freiheitsniveau ihrer Zeit nicht rezipiert, verfehlt ihr Wesen.» Dieser Satz wird freilich für Martin Grichting ebenfalls eine Häresie sein.

* Der Katholik Siegfried Weichlein (60) ist seit 2006 Professor für Europäische und Schweizerische Zeitgeschichte an der Universität Freiburg. Er ist Altstipendiat des Cusanuswerks und in der Redaktionskommission der Schweizerischen Zeitschrift für Religions- und Kulturgeschichte.

Siegfried Weichlein antwortet mit diesem Kommentar auf einen Gastbeitrag von Martin Grichting in der «NZZ am Sonntag».


Donald Trump und Martin Grichting verfolgen die Bischofsweihe im Livestream. | © Peter Esser
14. Juli 2021 | 08:16
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