Interview:

Schweiz: Der Bibelwissenschaftler Hermann-Josef Venetz wird am 28. April 65 Jahre alt

«Wenn ich die Bibel aufschlage, begegne ich dem Leben»

Interview: Matthias Müller / Kipa

Freiburg i. Ü., 6.4.03 (Kipa) Im laufenden Jahr der Bibel gehe es vor allem auch darum, «zu sehen und zu erfahren, dass die Bibel ein Stück Leben ist, das uns selber zum Leben und zu einer grösseren Freiheit verhelfen könnte», sagt der Bibelwissenschaftler Hermann-Josef Venetz im Interview mit der Presseagentur Kipa. Der gebürtige Walliser ist Professor für neutestamentliche Exegese an der Universität Freiburg (Schweiz) und feiert am 28. April seinen 65. Geburtstag. Er wird im Sommer 2003 emeritiert.

Kipa: Ihre Arbeit mit der Bibel ist von einer Leidenschaft geprägt. Was bedeutet Ihnen die Bibel?

Hermann-Josef Venetz: Wenn ich die Bibel aufschlage, begegne ich dem Leben. Ich gehe zum Beispiel in die Gemeinden des Markusevangeliums, oder ich gehe nach Korinth oder nach Thessalonich und begegne dort Christinnen und Christen von damals. Dem Leben von gläubigen Menschen auf die Spur zu kommen, ist für mich das Spannendste. Wie ich es überhaupt spannend finde, mit Leuten zusammenzukommen, Bücher und Zeitungen zu lesen, um Menschen nahe zu sein. Die Fragen sind die gleichen: Was ist der Sinn des Lebens? Was beschäftigt die Leute? Was sind ihre Konflikte?

Kipa: Seit 1975 sind Sie Professor für neutestamentliche Exegese an der Universität Freiburg (Schweiz). Wie kam es dazu, dass Sie ihr wissenschaftliches Engagement der Bibel widmeten?

Venetz: Der eigentliche Anstoss kam von aussen. Der damalige Bischof von Sitten, Nestor Adam, schickte mich nach Rom zum Bibelstudium, weil er für sein Priesterseminar einen Bibliker brauchte. Zuerst wollte ich nicht so recht, aber rückblickend bin ich froh um jede Zeit, während der ich mich mit der Bibel beschäftigt habe. Seit der Zeit in Rom gibt es für mich fast nichts anderes mehr.

Kipa: Ihr Bibelstudium in Rom fiel in die Zeit des Zweiten Vatikanischen Konzils. Hat Sie diese Zeit geprägt?

Venetz: Ja, sehr stark. Ich lebte im deutschen Priesterkolleg Santa Maria dell Anima zum Teil mit Konzilsbischöfen zusammen. Sie erzählten immer wieder, was in den Sitzungen gelaufen war, und so waren wir wie am Puls dieser grossen Veränderungen und Umbrüche der katholischen Kirche, die niemand erwartet hätte. Das war eine unerhört bereichernde und befreiende Zeit. Die Konstitution «Dei Verbum» war für die Bibliker der eigentliche Startschuss dafür, nach allen Regeln der wissenschaftlichen Kunst dem Leben in der Bibel nachzugehen und nicht nur den Buchstaben zu sehen. Es ist für mich kaum nachvollziehbar, dass man heute wieder versucht, das Rad zurückzudrehen.

Kipa: Viele Menschen wagen sich kaum selber an die biblischen Texte heran. Sie glauben, dass sie die alten Texte sowieso nicht verstehen. Andere sind überzeugt, dass die Bibel Patentrezepte für unseren Alltag bereit hält. Worauf kommt es bei der Bibellektüre an?

Venetz: Die Bibellektüre lebt von der Spannung zwischen Ferne und Nähe, ähnlich wie auch menschliche Beziehungen von dieser Spannung leben. Und so, wie wir lieben Mitmenschen in ehrfürchtiger Distanz gegenübertreten, um dieses etwas altmodisch klingende Wort zu gebrauchen, so ist es auch mit den biblischen Texten.

Es ist wichtig, dass wir den grossen historischen, weltanschaulichen und kulturellen Abstand anerkennen, der zwischen den heutigen Leserinnen und Lesern und den Autoren der damaligen Zeit liegt. Ich rate den Leuten sogar, die Bibel nicht zu nahe an sich herankommen zu lassen. Das Wort Gottes will uns ja nicht vereinnahmen. Paulus sagt es am Schluss seines ersten Briefes an die Tessalonicher so: Seid kritisch allem gegenüber. Das gilt auch für die Bibel selber, auch für das, was Paulus schreibt.

Wenn es in einem zweiten Schritt um die Nähe geht, das heisst um das Leben in der Bibel, dann hilft die Frage: Was sagen uns die Menschen, die im Text vorkommen oder die den Text geschrieben haben oder an die der Text gerichtet war? Bei vielen Texten muss ich sagen: Das ist gut und recht, aber sie sind nicht für mich geschrieben. Dann gibt es aber auch manche Texte, bei denen ich sagen muss: Das müsste ich mir mal durch den Kopf gehen lassen, denn da sind immerhin Menschen im Spiel, die versuchten zu leben, zu glauben, eine Hoffnung durchzuziehen.

Kipa: Wenn man sich intensiv mit dem Neuen Testament auseinandersetzt, entwickelt sich da mit der Zeit auch ein Lieblingsbuch oder eine Lieblingsfigur?

Venetz: Ich muss gestehen, es gibt Bücher, zu denen ich praktisch keinen Zugang habe. Zum Beispiel habe ich nie eine Vorlesung zum Hebräerbrief gehalten. Häufig war es so, dass ich gerade für jenes Buch eine Schwäche entwickelte, mit dem ich mich beschäftigte: Die Bergpredigt, der Galaterbrief oder auch das Lukasevangelium. Wenn ich nur eine kleine Auswahl von neutestamentlichen Büchern mit auf eine Insel nehmen könnte, so wäre es sicher spannend, zwei ganz unterschiedliche Bücher mitzunehmen wie das Lukasevangelium und den Galaterbrief oder das Johannesevangelium und den Jakobusbrief.

Kipa: Ihre Bücher richten sich an ein breites, auch nicht-akademisches Publikum. Dabei sind Sie immer bemüht, eine Brücke zu schlagen von der biblischen Zeit in die heutige. Wie gehen Sie dabei vor?

Venetz: Es sind immer zwei Brücken zu schlagen: Eine in die biblische Zeit, zum Beispiel zu Paulus, und eine andere zu meinen Zeitgenossen. Ein Brückenschlag ist nur möglich, wenn ich mich für das Gegenüber interessiere. So muss ich zuerst die Überzeugung haben, dass uns Paulus tatsächlich etwas zu sagen hat, auch wenn wir seine Sprache kaum mehr verstehen. Und dann muss ich mich für die Leute interessieren, denen ich gerne weitersagen würde, was Paulus sagt. Beides bedarf einer sorgfältigen Analyse des Umfeldes: Wie haben die Menschen damals gelebt und wie leben sie heute, welche Sorgen und Hoffnungen hatten sie damals und haben sie heute?

Kipa: 2003 ist das Jahr der Bibel. Worin sehen Sie die Chance dieses Jahres?

Venetz: Ich verfolge das Jahr aufmerksam, und ich bin tief beeindruckt, wie vielfältig die Angebote sind. Sie spiegeln die vielfältigen Möglichkeiten wider, wie man mit der Bibel arbeiten kann: spielerisch, mit Bibliodrama, mit Rollenspielen, meditativ und so weiter. Natürlich engagiere ich mich auch selber mit einzelnen Veranstaltungen.

Ich sehe im Jahr der Bibel die Chance, ein feineres Gespür für die vielfältigen Anliegen und Redeweisen der Bibel zu bekommen. Es geht nicht nur darum, die Bibel besser kennen zu lernen, sondern vor allem darum zu sehen und zu erfahren, dass sie ein Stück Leben ist, das uns selber zum Leben und zu einer grösseren Freiheit verhelfen könnte.

Kipa: Wie sehen Ihre Pläne aus für die Zeit nach der Emeritierung im Sommer 2003?

Venetz: Ich werde so weiterarbeiten wie bisher, nur fällt das ganze Vorlesungspensum weg. Das heisst, ich habe mehr Zeit fürs Schreiben, für Vorträge und Kurse. Auch wenn es etwas unbescheiden tönt: Ich habe den Eindruck, dass ich noch etwas zu sagen habe, und dann will ich das auch tun – mit Freude, wie ich übrigens auch an der Universität immer mit Freude gearbeitet habe.

Ich will nicht die Flucht ergreifen, aber eine Entlastung kann ich jetzt sicher gut gebrauchen. Vielleicht werde ich dabei merken, dass es noch Wesentlicheres gibt als eine Fakultät oder Universität mit all dem akademischen Drumherum.

1 Radiohinweis: Ein «Prisma»-Beitrag des katholischen Internetradios der Deutschschweiz über Hermann-Josef Venetz wird am Ostermontag, 21. April, aufgeschaltet: www.radio.kath.ch

Hinweis für Redaktionen: Ein Schwarzweissbild von Hermann-Josef Venetz kann bei der Presseagentur Kipa angefordert werden: kipa@kipa-apic.ch

(kipa/mmü/job)

6. April 2003 | 00:00
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