Inkonsequente Sonderregeln für die Petrusbruderschaft: Anfragen an ein neues päpstliches Dekret

Papst Franziskus geht mit einem Dekret auf die Petrusbrüder zu – konterkariert damit aber das Motu proprio «Traditionis custodes». Der Liturgiewissenschaftler Martin Klöckener sieht hier eine «Inkonsequenz ersten Ranges» – mit Folgen für die Schweiz und Liechtenstein.

Martin Klöckener*

Mit einem Dekret vom 11. Februar 2022 hat Papst Franziskus der Petrusbruderschaft erlaubt, weiterhin in vollem Umfang und ohne jede Einschränkung die tridentinische Liturgie nach den liturgischen Büchern zu feiern, die 1962, also vor dem Zweiten Vatikanischen Konzil, in Kraft waren: für die Messe das Missale Romanum (Fassung von 1962), für die von einem Priester vollzogenen Sakramentenfeiern, bestimmte Segnungen etc. das Rituale Romanum (1952), für die bischöfliche Liturgie und bestimmte Feiern unter Leitung eines höheren Prälaten das Pontificale Romanum (1961/62), für das Stundengebet das Breviarium Romanum (1962). Dieser Entscheidung vorausgegangen ist offenbar eine Audienz zweier Oberer der Petrusbruderschaft beim Papst.

Martin Klöckener
Martin Klöckener

Widersprüchlicher Umgang mit «Traditionis custodes»

Es heisst in dem Dekret weiter, dass alle und jedes einzelne Mitglied der Bruderschaft von dieser Befugnis in den eigenen Kirchen und Oratorien Gebrauch machen darf, andernorts jedoch nur mit Zustimmung des Ortsordinarius. Die privat gefeierte Messe nach dem Missale von 1962 wird den Mitgliedern der Bruderschaft hingegen überall erlaubt. Im Übrigen empfiehlt der Papst, die Bestimmungen des Motu Proprio Traditionis custodes zu beachten, wovon er aber im selben Dekret dispensiert hat.

Papst Franziskus hatte am 16. Juli 2021 durch eben dieses Motu Proprio Traditionis custodes mit grosser Konsequenz und aus Beweggründen, die er ausführlich in einem längeren Begleitschreiben an die Bischöfe dargelegt hatte, die unter Benedikt XVI. im Jahre 2007 erfolgte Wiederzulassung der tridentinischen Liturgie in der letzten vorkonziliaren Fassung faktisch widerrufen und nur wenige strikt umschriebene Ausnahmen weiterhin erlaubt, wofür die jeweiligen Bischöfe, teils sogar der Apostolische Stuhl eine Ausnahmegenehmigung erteilen mussten.

Erwartet wurde, dass die Petrusbruderschaft sich neu orientieren muss

Am 4. Dezember 2021 hatte die Kongregation für den Gottesdienst und die Sakramentenordnung in ihren Responsa ad dubia, die vom Papst ausdrücklich gebilligt worden waren, zusätzliche Interpretationen des päpstlichen Erlasses veröffentlicht, die die restriktive Linie unterstrichen und in einigen Punkten, wo Papst Franziskus gewisse Unklarheiten gelassen hatte, noch strengere Vorschriften erliessen. Vor diesem Hintergrund wundert man sich nun über die ausserordentlich grosszügige Sonderregelung für die Petrusbruderschaft.

Begründet wird sie offenbar damit, dass der Gebrauch der tridentinischen Liturgie in den Konstitutionen der 1988 gegründeten Bruderschaft verankert und damit ein konstitutives Element für deren Bestand sei. Das ist zwar richtig, räumt aber nicht die Widersprüchlichkeit der päpstlichen Verlautbarungen aus. Vielmehr hätte man angesichts der hohen Bedeutung für das Leben der Kirche, die der Papst in seinem Motu Proprio vom Juli 2021 dieser grundlegenden Fragestellung beimass, erwartet, dass die Petrusbruderschaft sich neu orientieren musste. Es sei nur auf einige besonders eklatante Widersprüche hingewiesen.

Eine schwere pastorale Problematik

Das päpstliche Motu Proprio fusste massgeblich auf den Rückmeldungen zu einer Umfrage der Glaubenskongregation bei den Bischofskonferenzen und einzelnen Bischöfen vom Jahre 2020. Zwar sind die Umfrageergebnisse bis heute nicht veröffentlicht, doch wird in den verschiedenen diesbezüglichen Äusserungen die schwere pastorale Problematik deutlich, die die Koexistenz der beiden Formen des römischen Ritus bedeutete. Gilt dies für die Petrusbruderschaft nicht mehr?

Wie ist nun Art. 1 des Motu Proprio zu verstehen, in dem Papst Franziskus mit grosser Entschiedenheit geschrieben hatte: «Die von den heiligen Päpsten Paul VI. und Johannes Paul II. in Übereinstimmung mit den Dekreten des Zweiten Vatikanischen Konzils promulgierten liturgischen Bücher sind die einzige Ausdrucksform der Lex orandi des Römischen Ritus»?

Die Petrusbruderschaft legt es auf Präsenz in der Öffentlichkeit an

Wenn einer Gesellschaft apostolischen Lebens wie der Petrusbruderschaft die tridentinische Liturgie in ihrem vollen Umfang und in all ihren Facetten erlaubt wird, ist das nicht mit der Aussage von der «einzigen Ausdrucksform der Lex orandi des Römischen Ritus» vereinbar. Es gibt schlichtweg wieder zwei anerkannte Ausdrucksformen.

In diesem Fall kann man auch nicht mit einem Proprium, wie es viele Orden haben, argumentieren; denn solche Proprien erkennen zwar bestimmte Sondertexte und -riten sowie kalendarische Ergänzungen für die Orden an; jedoch stehen sie auf der Grundlage derselben Fassung des römischen Ritus. Das ist hier nicht der Fall; vielmehr geht es bei der Erlaubnis für die Petrusbruderschaft um die vollständige, durch ein Konzil abgelöste Version des römischen Ritus.

Pater Martin Ramm, Mitglied der Petrusbruderschaft
Pater Martin Ramm, Mitglied der Petrusbruderschaft

Was gilt die Aussage des päpstlichen Begleitbriefes zum Motu Proprio und der Responsa ad dubia, dass die Koexistenz zweier Formen des römischen Ritus Spaltung in die Liturgie hineintrage, die mit dem theologischen Anspruch der Eucharistiefeier unvereinbar sei? Bekanntlich zeichnet sich die Petrusbruderschaft nicht durch ein diskretes Wirken im Hintergrund aus, sondern legt es immer wieder auf Präsenz in der Öffentlichkeit an. Die Gefahr der Spaltung, die davon ausgeht, bleibt in vollem Umfang gegeben.

Lateinische Lesung statt Einheitsübersetzung

Von der Forderung des Motu Proprio, dass bei der Messe nach dem Missale von 1962 die Lesungen auf jeden Fall in der Muttersprache nach einer von der jeweiligen Bischofskonferenz herausgegebenen Bibelausgabe vorzutragen sind (im deutschen Sprachgebiet wäre das die Einheitsübersetzung von 2016), wird nichts mehr gesagt. Offenbar reicht dann doch die lateinische Lesung aus dem vorkonziliaren Missale Romanum.

Die Responsa ad dubia der Gottesdienstkongregation hatten präzisiert, dass Sakramentenfeiern mit dem vorkonziliaren Rituale Romanum und Pontificale Romanum grundsätzlich ausgeschlossen seien. Nur in kanonisch errichteten Personalpfarreien wurde der Diözesanbischof befugt, «nach seinem Ermessen die Erlaubnis zur Verwendung des Rituale Romanum … – nicht jedoch des Pontificale Romanum vor der Liturgiereform des Zweiten Vatikanischen Konzils – zu erteilen.» Schien es schon problematisch, das Rituale Romanum – wenn auch nur sehr eingeschränkt – zuzulassen, so ist es noch unverständlicher, wenn der Petrusbruderschaft der Gebrauch des Pontificale Romanum wieder zugestanden wird.

Mit Beschlüssen des Zweiten Vatikanischen Konzils nicht in Einklang zu bringen

Das heisst unter anderem, dass die von Paul VI. geänderten sakramentalen Worte für die Firmung für die Petrusbruderschaft nicht gelten, dass die ganze Serie der Niederen Weihen erneut für sie in Kraft gesetzt wird, dass die Chrisam-Messe nach altem Ritus begangen werden kann, dass es in der bischöflichen Liturgie ausserhalb der Messfeier im Prinzip keine Verkündigung der Heiligen Schrift gibt und so weiter.

Wer einmal die Riten des vorkonziliaren Pontificale Romanum studiert hat, findet darin zwar ein hochrangiges Zeugnis der Liturgiegeschichte und mag sich an manchen interessanten Riten früherer Generationen erbauen, wird aber vielfach mit theologischen, ekklesiologischen, amtstheologischen Positionen konfrontiert, die nicht mehr mit den Beschlüssen des Zweiten Vatikanischen Konzils, der nachfolgenden kirchlichen Dokumente und der heutigen theologischen Erkenntnis in Einklang zu bringen sind.

Chrisam-Messe in Vaduz nach vorkonziliarem Ritus?

Und ein Bischof, der möglicherweise einem Priester seiner Diözese unter Beachtung des Motu Proprio von 2021 die privat zelebrierte Messe verboten oder einem anderen mit engen Auflagen nach dem Missale von 1962 erlaubt hat, wird sich korrumpiert sehen, wenn jeder Priester der Petrusbruderschaft in derselben Kirche am selben Altar dies ohne Einschränkung tun kann.

Ohne dass mir dazu Informationen vorliegen, könnte das Dekret für das gebeutelte Erzbistum Vaduz im Übrigen bedeuten, dass die Chrisam-Messe weiterhin nach dem vorkonziliaren Ritus stattfindet, denn die Genehmigung des Ortsordinarius, die Messe in dieser Gestalt in der Kathedrale zu vollziehen, wird die Petrusbruderschaft sicher bekommen.

«Warum der Papst hier anders entscheidet, bleibt für mich ein Rätsel»

Nach den beiden Dokumenten des Apostolischen Stuhls vom Juli und Dezember 2021 ist das neue päpstliche Dekret eine Inkonsequenz ersten Ranges und – bei aller Wertschätzung für Papst Franziskus – in der Sache völlig unverständlich. Für die meisten Diözesen und Regionen wird es keine besonderen Auswirkungen haben, aber der süddeutsche Standort Wigratzbad reicht weit in die Schweiz und nach Liechtenstein hinein; er ist auch nicht der einzige Standort der Bruderschaft.

Nach dem Motu Proprio Traditionis custodes, Art. 6 und 7, wäre es Aufgabe des Apostolischen Stuhls gewesen, dass die beiden zuständigen Dikasterien «über die Beachtung dieser Bestimmungen wachen» (Art. 7). Das hätte eine Neuausrichtung des Selbstverständnisses der Petrusbruderschaft im Rahmen der verbliebenen liturgischen Möglichkeiten verlangt. Warum der Papst hier anders entscheidet, bleibt für mich ein Rätsel.

* Martin Klöckener (66) ist Professor für Liturgiewissenschaft an der Universität Freiburg. Im Jahr 2020 unterstützte er eine Petition von rund 200 Theologinnen und Theologen, die gegen Änderungen von Bestimmungen zur tridentinischen Messe protestierten.


22. Februar 2022 | 16:34
Lesezeit: ca. 5 Min.
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