Hans Weibel ist Provincial des Steyler Ordens in Mexiko.
Story der Woche

«Ich bin ein Latino»: Steyler-Pater Hans Weibel wirkt im gefährlichen Mexiko

Mexiko ist ein hartes Pflaster für Geistliche. Jüngst sind zwei Jesuiten von einer Drogenbande erschossen worden. Der Schweizer Steyler-Pater Hans Weibel ist seit 2020 Leiter seines Ordens in Mexiko. Er hat am eigenen Leib zu spüren bekommen, wie gefährlich es dort ist.

Wolfgang Holz

«Die Patronenhülse habe ich noch», sagt Steyler-Pater Hans Weibel und lächelt. Mit einem zischenden Pfeifen imitiert er den Schuss, der ihn vor Jahren fast tödlich getroffen hat. «Ich befand mich gerade in einem Taufgespräch und ging kurz vor die Tür ins Freie – als plötzlich zwei Jugendbanden aufeinander losgingen und herumballerten.»

Er habe sich sofort auf den Boden geworfen und noch den Luftzug der Kugel gespürt, die an seiner Schulter vorbeisauste. «Um ein Haar bin ich ums Leben gekommen», bilanziert der 57-jährige Geistliche.

Gewaltandrohung
Gewaltandrohung

Dieses Unglück ist ihm widerfahren, als er 1994 nach seiner Priesterweihe fünf Jahre in Ecuador verbrachte – seiner ersten Station als Steyler-Missionar in Lateinamerika. Er arbeitete damals als Seelsorger in dem Elendsviertel «El Guasmo» in Guayaquil – in der drei Millionen-Einwohnerstadt am Pazifik. Er feierte Messen, besuchte die Menschen in ihren Wellblechhütten, organisierte Sportturniere für Jugendliche.

Überfallen von fünf Männern mit Machete

«Das Leben ist dort wirklich sehr gefährlich», bekennt er im Nachhinein. Und erzählt, wie er einmal im Stadtzentrum von vier Männern am helllichten Tag auf der Strasse überfallen wurde. «Sie hielten mich fest, während ein Fünfter dann mit einer Machete vor meinem Gesicht herumfuchtelte, mir Uhr und Brille wegnahm und auch noch das bisschen Geld, das ich bei mir trug.» Auf Geld seien solche Strassenräuber immer scharf. «Wenn man ihnen keines gibt, kann das ganz übel ausgehen, weil das Leben eines Einzelnen nicht viel zählt.»

Tempi passati. Der augenblickliche Kontrast könnte nicht grösser sein. Denn als Weibel über seine gefährlichen Erlebnisse in Ecuador berichtet – er war damals ein junger Missionar um die 30 – sitzt er gerade am Tisch des Ordenshauses «Maria Hilf» in Steinhausen.

Seit mehr als 100 Jahren residieren die Steyler Brüder und Patres auf dem Schlossberg in Steinhausen.
Seit mehr als 100 Jahren residieren die Steyler Brüder und Patres auf dem Schlossberg in Steinhausen.

Die Szenerie könnte nicht friedfertiger sein. Draussen scheint die Julisonne. Duftige Cumulus-Wolken hängen am azurblauen Horizont. In der Ferne schimmert türkis der Zugersee. Hier auf dem Schlossberg, wo die Steyler seit mehr als 100 Jahren residieren, scheint die Welt komplett entrückt.

Holzspeer aus Afrika, Porzellan-Nippes aus China

Auf einer Schwarzweiss-Fotografie im Flur des herrschaftlichen Hauses, gegenüber einem Ölgemälde des Ordensgründers Arnold Janssen, ist das Haus «Maria Hilf» zu erkennen. Damals war Steinhausen noch ein kleines Dorf, umringt von Obstbäumen. Mittlerweile ist der Schlossberg und das Ordenshaus umzingelt von ausufernden Gewerbegebieten und gediegenen Neubauwohnvierteln. Kein Wunder: Steinhausen galt vor Jahren als die am schnellsten wachsende Gemeinde der Schweiz – und fast kein Stein ist dabei auf dem anderen geblieben.

«Ich mache drei Monate Ferien hier, alle drei Jahre darf ich so lange freinehmen.»

«Ich mache drei Monate Ferien hier, alle drei Jahre darf ich so lange freinehmen», erklärt Hans Weibel in dem kleinen Zimmer des Stammhauses auf dem Schlossberg. Lediglich Missionars-Trophäen wie ein Holzspeer aus Afrika und Porzellan-Nippes aus China erinnern an die exotische Aufgabe, welche die rund 6000 Steyler Brüder und Patres weltweit an 80 Standorten auf sich nehmen, um Gottes Wort und die Botschaft Jesu Christi zu verkünden.

Arnold Janssen gründete im holländischen Steyl den Orden.
Arnold Janssen gründete im holländischen Steyl den Orden.

«Arnold Janssen aus Deutschland suchte damals Leute, die Christus in der Welt bekannt machen sollten – überall dort, wo sein Name die Menschen noch nicht kennen», schildert er. Kurioserweise sei das in China gewesen. «Bis heute können die Christen im Reich der Mitte nur im Untergrund ihren Glauben praktizieren.» Wobei die Steyler sich 1875 selbst zuerst einmal ins Exil begeben mussten – ins holländische Steyl – um ihren Orden überhaupt gründen zu können. «Wegen des Kulturkampfes war das im Deutschen Reich damals nicht möglich.»

«Mich beeindruckt der einfache Lebensstil des Missionars, und ich finde, die Kirche muss für die Menschen da sein.»

Doch zurück in die Gegenwart. Warum eigentlich begibt sich ein Missionar in derartige Gefahren, um Menschen das christliche Heil näherzubringen? «Mich beeindruckt der einfache Lebensstil des Missionars, und ich finde, die Kirche muss für die Menschen da sein», ist «Juan» Weibel, der perfekt Spanisch spricht, überzeugt. Vor allem möchte er bei jenen Menschen sein, die in Armut leben. Arme haben für ihn ein Gesicht. «Wir hier haben ja alles», sagt der im luzernischen Schongau gebürtige Bauersohn, der mit sieben Geschwistern aufwuchs.

Die Maria-Hilf-Grotte auf dem Schlossberg in Steinhausen.
Die Maria-Hilf-Grotte auf dem Schlossberg in Steinhausen.

2014 nach Kuba

Seine Leidenschaft für Lateinamerika hat ihn nicht in Ruhe gelassen. Zwar legte er nach seiner intensiven Zeit in Ecuador ein dreizehnjähriges Intermezzo in der Schweiz in der Bildungs- und Jugendarbeit ein. Dabei habe er sich auch Sätze wie «Ihr Pfaffen seid schuld, dass die Welt zugrunde geht» anhören müssen. Gleichzeitig wirkte er als Priester im zugerischen Oberwil.

«Im Alter von 50 Jahren wollte ich auch nochmals raus.»

Doch 2014 war es wieder so weit. Zuerst ging er nach Kuba – nicht zuletzt, weil er wissen wollte, welche Freiheiten die Religion unter einem kommunistischen Regime hat. Es herrschte damals eine grosse Aufbruchstimmung in Kuba. Vor allem, nachdem 2015 Papst Franziskus die Karibikinsel besucht und Raul Castro, der Bruder des krebskranken Revolutionsführers, wirtschaftliche Lockerungen durchgesetzt hatte. «Im Alter von 50 Jahren wollte ich auch nochmals raus», verrät Weibel.

Kampf ums Dasein

In Mayarí, einer kleinen Stadt im armen Osten der Karibikinsel, rief er katholische Basisgemeinschaften ins Leben. Er unterstützte die Menschen in ihrem täglichen Kampf ums Dasein. Wenn sie etwa Medikamente brauchten. In seiner persönlichen Sicherheit habe er sich auf Kuba nie bedroht gefühlt. «Man konnte frei durch die Strassen gehen. Man war für die Leute stets der Hermano, der Bruder».

Bei Ausflügen in seiner Freizeit genoss Weibel mit den Patres die smaragdgrünen Meeresbuchten und die Wärme der Subtropen. Eigentlich wollte er Kuba gar nicht mehr verlassen. Doch dann sei er eben zum Provinzial in Mexiko gewählt worden. Bis 2023 dauert seine erste Amtszeit noch. Sollte er wiedergewählt werden, will er gerne bis 2026 verlängern.

Die Pfarrei im mexikanischen Oaxaca.
Die Pfarrei im mexikanischen Oaxaca.

In Mexico-City lebt er nun in einem ruhigen Viertel, in Coyoacán, einem «wunderschönen Barrio im ehemaligen Kolonialstil.» Dort wohnt und arbeitet er im Zentralgebäude der Steyler-Missionare. Hans Weibel ist vor allem für die Organisation zuständig. «Morgens erledige ich viel Korrespondenz, nachmittags empfange ich Besuche, besichtige Projekte und bin in Pfarreien unterwegs.»

Smog, Staus, Drogenkartelle

Doch die 23-Millionen-Einwohner-Metropole lässt den Missionar nicht wirklich zur Ruhe kommen. Zum einen seien da der Smog in der Stadt und die völlig chaotischen Verkehrsverhältnisse. «Es gibt morgens und abends jeweils drei Stunden lang Stau, und die öffentlichen Verkehrsmittel sind hoffnungslos überfüllt.» Deshalb benutze er seit Corona die sogenannten «Didis» – günstige Kleintaxis. Uber à la mexicana.

Stand mit Souvenirs, Heiligenfiguren und Heiligenbildern am Heiligtum "Unsere Liebe Frau von Guadalupe" in Mexiko-Stadt.
Stand mit Souvenirs, Heiligenfiguren und Heiligenbildern am Heiligtum "Unsere Liebe Frau von Guadalupe" in Mexiko-Stadt.

Zum anderen muss er seine Reisen durchs Land sorgfältig planen, wenn er aus Mexico City irgendwohin will. Denn auf dem Land treiben die Drogenkartelle ihr Unwesen. Es gibt täglich Tote. Überlandfahrten sind alles andere als sicher. Deshalb nimmt er zumeist das Flugzeug – wobei er Bundesstaaten, in denen Drogenkartelle besonders aktiv sind, komplett meidet.

Polnischer Priester geköpft

«Manchmal sperren diese ganze Autobahnabschnitte, um die Autofahrer auszunehmen», berichtet er. Mexiko gelte als das gefährlichste Land für katholische Priester weltweit. Immer wieder würden Geistliche umgebracht. Letztmals am 23. Juni, als zwei Jesuiten-Patres einem Mann vor einer Drogenbande Schutz gewährten. Alle drei wurden getötet. «Ein polnischer Priester, der unseren Orden verlassen hat, weil er heiratete, wurde geköpft aufgefunden. Er hatte jemanden unterstützt, der sich gegen die Drogenmafia gestellt hatte.»

Priester Jorge Atilano Gonzàlez ( 2. v. l.) liest in Mexiko-City am 10. Juli 2022 eine Messe zum Gedenken an ermordete Geistliche.
Priester Jorge Atilano Gonzàlez ( 2. v. l.) liest in Mexiko-City am 10. Juli 2022 eine Messe zum Gedenken an ermordete Geistliche.

«Über die Bluttaten der Drogenmafias wird täglich im Fernsehen berichtet, die mexikanische Bevölkerung lebt in Angst und Schrecken», so der Steyler-Missionar. Die Politik habe den Kampf gegen die Drogenkartelle längst aufgegeben, weil die Drogenbosse besser mit Waffen ausgerüstet seien. «Zwar wird die Polizei durch die Armee unterstützt, doch die Polizei selbst wird eben auch von Drogenbossen geschmiert. Die Sicherheitslage ist eine einzige Katastrophe.»

Mit den Migranten im Flüchtlingszentrum der Steyler Missionsschwestern in Chiapas.
Mit den Migranten im Flüchtlingszentrum der Steyler Missionsschwestern in Chiapas.

Dabei helfen die Steyler in Mexiko gerade den vielen Migranten humanitär, die durch das Land strömen. Im neu gegründeten Flüchtlingszentrum der Steyler Missionsschwestern und Steyler Missionare in Chiapas werden täglich bis 80 Flüchtlinge aufgenommen, die durch Mexiko in Richtung USA unterwegs sind.

Hans Weibel: «Die Flüchtlinge, die zumeist aus Honduras, Haiti, Kuba und Venezuela kommen, können bei uns drei Tage lang bleiben. Sie erhalten medizinische Versorgung, Nahrung und ein Dach überm Kopf.» Denn die Tausende von Migranten seien auf ihrem Weg vielen Gefahren ausgesetzt. «Organhändler treiben ihr Unwesen. Junge Frauen werden herausgefischt und zur Prostitution gezwungen. Menschen werden ausgeraubt und von Schleppern geneppt.» Der blanke Horror.

«In Mexiko ist der Katholizismus absolute Volksreligion.»

Zur christlichen Erbauung der Bevölkerung verkaufen die Steyler in drei Buchhandlungen religiöse Literatur – vor allem Bibeln. In allen Variationen. Das Geschäft floriert, und die Einnahmen dienen zur Finanzierung des Ordens in Mexiko. Wobei der Geldtransport der Einnahmen auf die Bank zunehmend zum Sicherheitsproblem werde. Der Grund: Die Drogenmafia hat in einer Autogarage in der Nähe ein Domizil eingerichtet.

80 Prozent der Mexikaner katholisch

«Im Unterschied zu Ecuador, wo die christliche Verwurzelung der Bevölkerung eher oberflächlich erscheint, ist in Mexiko der Katholizismus absolute Volksreligion», berichtet der Provinzial. Die Kirchen seien voll und wichtige Treffpunkte für die Menschen. 80 Prozent der Mexikaner seien Katholiken. Die Katechese funktioniere problemlos.

Hans Weibel (r.) mit dem Steyler Pater Eryk aus Rom in Chiapas
Hans Weibel (r.) mit dem Steyler Pater Eryk aus Rom in Chiapas

Umstrittene europäische Themen wie der Pflichtzölibat, Frauen als Priesterinnen und sexueller Missbrauch seien marginal in Mexiko. Auch die Amazonas-Synode spiele innerkirchlich gesehen keine grosse Rolle. «Bei den wenigen Verdachtsfällen von Missbrauch, die bekannt werden, schützt man oft die Priester im Verhältnis zu den Opfern.» Was die eheliche Enthaltsamkeit der Priester angehe, drückten die Bischöfe meist ein Auge zu. «Die Haushälterin ist eben die compañera des Pfarrers», sagt er.

«Wenn meine Zeit in Mexiko vorbei ist, gehe ich wieder nach Kuba. Dort werden Missionare dringend gebraucht.»

«Juan» Weibel fühlt sich trotz aller Widrigkeiten sehr wohl in Mexiko. «Ich bin ein Latino», bekennt er. Er schätzt die Gastfreundschaft und Herzlichkeit der Menschen. Das ganzjährig warme Klima. Nicht zu vergessen die köstliche mexikanische Küche: Tortillas, Tacos, Enchiladas…, sagts und reibt sich den Bauch. In Kuba habe er damals fünf Kilo abgenommen.

Unbeschwerte Lebensfreude

 »Was wir Europäer von dem Menschen in Südamerika lernen können, ist ihre unbeschwerte Lebensfreude. Nicht aus jedem Problem gleich ein Riesendrama zu machen. Miteinander zu leben. Und gemeinsam einen Weg suchen.» Für Hans Weibel ist seine Bestimmung klar. «Wenn meine Zeit in Mexiko vorbei ist, gehe ich wieder nach Kuba. Dort werden Missionare dringend gebraucht.»


Hans Weibel ist Provincial des Steyler Ordens in Mexiko. | © Wolfgang Holz
15. Juli 2022 | 05:00
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