Gudrun Nassauer
Theologie konkret

Gudrun Nassauer: «Maria kann ein Vorbild für Feministinnen sein»

Weihnachten kann zu einem Kulturwandel beitragen, sagt die Neutestamentlerin Gudrun Nassauer. Dieser sei wichtig, damit ein Strukturwandel geschehen kann. Ein Interview über ihren Lieblingsevangelist Lukas, weswegen Dogmen klug sind und warum Weihnachten ohne Josef nicht möglich wäre.

Jacqueline Straub

Frohe Weihnachten. Welches Weihnachts-Evangelium lesen Sie als Neutestamentlerin jedes Jahr?

Gudrun Nassauer*: Das Lukasevangelium.

Warum?

Nassauer: Ich habe darüber promoviert und bin nachhaltig fasziniert davon. Lukas malt mit rhetorischen Mitteln Bilder. Er inszeniert quasi das, was Weihnachten bedeutet.

Maria und Jesus finden sich auf vielen Weihnachtskarten – Weihnachtsausstellung "Frohe Festtage!"
Maria und Jesus finden sich auf vielen Weihnachtskarten – Weihnachtsausstellung "Frohe Festtage!"

Welche Szene kommt Ihnen da besonders in den Sinn?

Nassauer: Die Stelle mit den Hirten ist mir besonders lieb. Weil dort Gott auf der Bühne erscheint. Da öffnet sich der Himmel, und da kommt die Herrlichkeit Gottes, der Lichtglanz zum Vorschein. Der Glanz der Gegenwart Gottes berührt die Erde. Und das wird verbunden mit der Geburt Christi als der Moment, wo sich die himmlische Sphäre und die irdische Sphäre verbinden. Das hat Lukas einfach genial ins Bild gesetzt.

Diese starke Präsenz Gottes lesen Sie bei den anderen drei Evangelien nicht?

Nassauer: Matthäus, Markus und Johannes machen es anders. Lukas ist aber der Meister der Anschaulichkeit. Das ist eine antike Technik, um einen affektiven Zugang für die Leser oder Hörerinnen zu ermöglichen.

«Die grossen Feste kommen fast alle aus dem Lukas-Evangelium.»

Stellt Lukas mit seinem Bericht dogmatische Sätze auf?

Nassauer: Nein. Dogmatische Formeln kamen erst später ins Spiel, als sich die Gläubigen Gedanken gemacht haben, was die Geburt Jesu nun konkret bedeutet und wie das jetzt mit Gott und Mensch ist. Der Evangelist Lukas hat ein Gesprür für beides. Er malt einfach und stellt Elemente, die Jesus als Gottes Sohn darstellen, neben andere, die ihn als Mensch zeigen. Dadurch entsteht eine Art Mosaik, das anschaulich beides zum Ausdruck bringt.

Krippe
Krippe

Können Sie ein Beispiel nennen?

Nassauer: Die Menschlichkeit Jesu wird etwa gezeigt im Bild des gewickelten Babys. Daneben stellt er die Göttlichkeit Jesu, zum Beispiel in der Hirtenszene. Das ist die Christologie, mit der meine Oma was anfangen konnte. Und die sich deswegen auch ganz stark in unserem Kirchenjahr niedergeschlagen hat. Die grossen Feste kommen fast alle aus dem Lukas-Evangelium.

Weihnachten hat heute viel mit Lametta und Glitzer zu tun. Ist das schon im Lukasevangelium zu finden oder begegnet uns da eher Nüchternheit?

Nassauer: Es ist schon nüchtern. Uns begegnet eine Familie, die in einer sehr prekären Situation ist. Sie wurde auf eine Drei-Tag-Reise geschickt, um sich in eine Steuerliste einzutragen. Das hat was mit Befehl und Gehorsam zu tun. Sie haben der Macht der Welt zu gehorchen. Zudem findet das ganze an einem marginalen Ort des römischen Reiches statt. Nazareth ist ein ziemlich unbedeutendes Dorf und nicht die Welt der Schönen und Reichen.

«Daraus entstand ein Gott beziehungsweise ein Halbgott.»

Das Lukasevangelium beginnt mit der Begegnung zwischen Maria und dem Engel. War Maria ein unterwürfiges Mädchen oder kann sie vielmehr ein Vorbild für Feministinnen sein?

Nassauer: Ich glaube, dass sie tatsächlich ein Vorbild für Feministinnen sein kann, weil sie selber entscheidet und so Gott einen Platz in der Welt gibt. Besonders deutlich wird das, wenn man diese Geschichte gegen ihren zeitgenössischen Hintergrund liest.

Die Heilige Familie
Die Heilige Familie

Wie sah der aus?

Nassauer: In der griechisch-römischen Religion gab es viele Geschichten, die von der Empfängnis und Geburt von Göttersöhnen handeln. Das lief meist so ab: Ein männlicher Gott hatte gewaltsamen sexuellen Verkehr mit einer Frau. Daraus entstand ein Gott beziehungsweise ein Halbgott.

«Gegen den zeitgenössischen Hintergrund war es ziemlich revolutionär.»

Können Sie einen konkreten Mythos nennen?

Nassauer: Der römische Gründungsmythos von Romulus und Remus. Sie entstehen aus der Verbindung des Kriegsgottes Mars mit der Priesterin Rhea Silvia, die vergewaltigt wurde. Die wenigste gewaltvolle Version der Geschichte in den zeitgenössischen Quellen ist, dass Rhea Silvia im Schlaf vergewaltigt wird und dabei träumt, dass sie Zwillinge empfangen hat. Solche Geschichten gehörten zur kulturellen Identität der damaligen Zeit.

Die römischen Kaiser haben sie dafür benutzt, ihre eigene göttliche Herkunft zu behaupten…

Nassauer: …und ihren uneingeschränkten Machtanspruch zu untermauern. Und wenn ich dann das Lukasevangelium lese, begegnet mir eine Frau, der Gott eine Beziehung auf Augenhöhe anbietet, die eine Möglichkeit hat, zurück zu fragen und die eine freie Entscheidung hat. Und die dadurch einer Herrschaft Gottes Raum gibt, die völlig anders funktioniert als die der römischen Kaiser. Das ist was völlig anderes. Gegen den zeitgenössischen Hintergrund ziemlich revolutionär. Vielleicht nicht nur damals…

Josef mit Jesuskind, Gemälde von Guido Reni
Josef mit Jesuskind, Gemälde von Guido Reni

Josef steht in der Weihnachtsgeschichte in der zweiten Reihe. Könnten wir auf ihn verzichten?

Nassauer: Ich denke, nein. Josef ist ein ziemlich gutes Beispiel dafür, was es bedeuten kann, wenn Gott sich auf einmal als überraschend lebendige Realität in meinem Leben zeigt. Die Schwangerschaft Mariens sprengt sein komplettes Leben. In dieser Situation zu sagen: Ich lass mich auf die Perspektive Gottes ein, die dann so im Traum auf ihn zukommt, zeugt von grossen Vertrauen. Zum anderen schützt Josef Maria – und damit den menschgewordenen Gott.

Schauen wir mal ins Markusevangelium. Dort beginnt die Geschichte mit Johannes dem Täufer. Da wird die Geburt einfach weggelassen. Ist das schlimm zu Weihnachten?

Nassauer: Markus ist das älteste Evangelium. Damals war zuerst wichtig, die öffentliche Aktivität von Jesus im Erwachsenenalter zu beschreiben. Erst später kamen Fragen auf, wie die Gottheit mit der Menschheit zusammenzudenken sind. Und dann wurden Geschichten über die Geburt und die Kindheit Jesu wichtig.

Warten auf die Geburt Jesu: Krippe in der St. Ursen-Kathedrale Solothurn
Warten auf die Geburt Jesu: Krippe in der St. Ursen-Kathedrale Solothurn

Kritisch könnte gefragt werden: Hat Weihnachten denn überhaupt stattgefunden?

Nassauer: Weihnachten hat sicher stattgefunden. Es ist ausserbiblisch belegt, dass Jesus gelebt hat. Also hat auch seine Geburt stattgefunden.

Die Erkenntnis, dass an Weihnachten Gott Mensch wurde, wurde aber erst später durch Konzilien festgelegt.

Nassauer: Wir haben im Neuen Testament eine narrative Theologie. Es ist ein lebendiger Prozess, hinter dem konkrete Menschen und Gemeinschaften stehen. Der Fragen mit sich bringt und nach Antworten sucht. Die Aussagen über Jesus im Neuen Testament sind deshalb aus ganz verschiedenen Perspektiven getroffen. Teilweise stehen sie auch zueinander in positiver Spannung. Interessant ist, dass die Kirche den Versuchen, das Neue Testament zu vereinheitlichen, also dass es nur ein Evangelium gibt, immer eine Absage erteilt hat. Das finde ich spannend.

«Irgendwo in der Mitte ist dann der Definitionsbereich.»

Warum?

Nassauer: Die Pluralität gehört zur Offenbarung. Das spiegelt sich auch in den frühen Konzilien. Dogmen sind ja in der Regel keine Positivaussagen, sondern eher so Grenzziehungen. Also, man sagt damit: das ist es auf keinen Fall – und das ist es auch auf keinen Fall. Und irgendwo in der Mitte ist dann der Definitionsbereich, in dem es ist. Aber das wird gar nicht genau definiert, nur der Rahmen. Ich finde das eigentlich relativ klug.

Maria und Jesus finden sich auf vielen Weihnachtskarten – Weihnachtsausstellung "Frohe Festtage!"
Maria und Jesus finden sich auf vielen Weihnachtskarten – Weihnachtsausstellung "Frohe Festtage!"

Im Johannesevangelium gibt es keine Geburt. Fehlt dort Weihnachten?

Nassauer: Es gibt schon eine Geburt. Es gibt diesen Satz: «Und das Wort ist Fleisch geworden und hat unter uns gewohnt.» Wörtlich heisst es: hat unter uns ein Zelt aufgeschlagen. Und dieses Zelt kennen wir aus dem Alten Testament. Das war für das Volk Israel, das durch die Wüste zog, der Ort der Gegenwart Gottes. Und das ist eigentlich das, was mit Jesus verbunden wird. Das Johannesevangelium zeigt, dass Gott zurück zur Welt kommt und dadurch bleibend bei uns ist. Einen zweiten Punkt möchte ich noch anfügen.

Welcher wäre das?

Nassauer: Es heisst dort auch, dass er Vollmacht gab Kinder Gottes zu werden. Es geht am Ende darum, dass Gott uns in Jesus zu einer Beziehung einlädt, die auf Augenhöhe ist. Das ist eine unglaubliche Ansage.

«Es ist ein Ringen, weil wir zwei Sachen zusammendenken wollen, die sehr schwer zusammenzudenken sind.»

Das Matthäusevangelium beginnt mit einem Stammbaum. Warum ist dieser so wichtig?

Nassauer: Matthäus will zeigen, dass es nicht um einen ganz neuen Bund geht, sondern um die Fortsetzung des einen Bundes Gottes mit Israel und damit mit der ganzen Welt, mit der ganzen Menschheit, in einer neuen Qualität, die in Jesus kommt.

Viele Menschen verstehen nicht, wie Gott Mensch werden konnte. Wie erklären Sie diesen Weihnachten?

Nassauer: Darüber ringen Christinnen und Christen seit Anbeginn. Entweder betonen wir ein bisschen zu sehr die Menschheit Jesu oder wir betonen zu sehr die Gottheit Jesu. Es ist ein Ringen, weil wir zwei Sachen zusammendenken wollen, die sehr schwer zusammenzudenken sind. Und gleichzeitig finde ich das unglaublich wichtig.

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«Damit ist aber auch ein Auftrag verbunden: Diese Botschaft ganz real in die Welt zu tragen.»

Was bedeutet es, wenn wir daran glauben, dass Gott Mensch wurde?

Nassauer: Das heisst, dass unsere eigene menschliche Existenz bis in den letzten Winkel, die letzte Banalität und die letzte dunkle Ecke von der Gegenwart Gottes erfüllt ist. Und das finde ich eine unglaublich schöne Botschaft. Damit ist aber auch ein Auftrag verbunden: Diese Botschaft ganz real in die Welt zu tragen. Und nach allem, was ich aus den Weihnachtsgeschichten in der Bibel lerne, wird sich die Welt verändern, wenn wir das machen.

Friedenslicht Ankunft in Olten
Friedenslicht Ankunft in Olten

Ist das nicht utopisch angesichts der vielen Kriege und Konflikten in der Welt?

Nassauer: Ich finde es gerade dadurch stark, dass es eine Utopie ist. Es ist ein Ort, den wir erstreben und ersehnen können. Wenn ich den Weihnachtsfrieden in meinem Leben aufnehme, verändere ich mich, und dadurch verändert sich auch meine Beziehung zu anderen. Und wenn ich das hochrechne, verändert sich dadurch ganz schön viel. Ich glaube, dass wir an ganz vielen Stellen einen Kulturwandel brauchen, bevor wir einen Strukturwandel haben können. Und wenn wir wirklich Weihnachten leben, glaube ich, dann sind wir auf einem ganz guten Weg zu einem Kulturwandel.

*Gudrun Nassauer (42) ist Professorin für Neues Testament an der Universität Freiburg.


Gudrun Nassauer | © zVg
24. Dezember 2023 | 06:00
Lesezeit: ca. 6 Min.
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