Die queere Person Kim de l'Horizon erhielt den Deutschen Buchpreises an der Frankfurter Buchmesse - und Personenschutz.
Kommentar

«Gleichheit als oberste demokratische Maxime»: Warum Kim de l’Horizon Recht hat und Bundesrat Maurer irrt

«Ob meine Nachfolgerin eine Frau oder ein Mann ist, ist mir egal. Solange es kein ‹Es› ist, geht es ja noch.» Mit diesem Satz hat sich Bundesrat Ueli Maurer angesichts des vielfachen Leids von nicht-binären Personen disqualifiziert. Die Bibelstelle, wonach Gott den Menschen männlich und weiblich geschaffen habe, wird oft missverstanden.

Mathias Wirth*

Kim de l’Horizon hat zentrale Erkenntnisse der politischen Ethik mit existentieller Dringlichkeit pointiert. Kim de l’Horizon zeigt, dass dualistische Systeme, wie das exklusiver Zweigeschlechtlichkeit, problematische Strukturen produzieren. Wie zum Beispiel die Vorstellung, dass Männer Frauen überlegen sind. Oder dass es eben zwei Pole gibt und alles andere im weiten Spektrum des Geschlechtlichen im Grunde nicht-existent ist. Dualismen produzieren Welten voller harter Kontraste. 

In Maurers Logik verlieren Non-Binäre das passive Wahlrecht

Eine Politik strikter Unterscheidung, die in harschen Platzanweisungen denkt, macht ebenfalls die Probleme dualistischen Denkens deutlich. Hier das Maskuline, dort das Feminine. Alles andere, wie in Fällen von Trans- oder Intergeschlechtlichkeit, ist im Jenseits der Grenze und im Abseits. 

Mathias Wirth ist Ethik-Professor an der Uni Bern.
Mathias Wirth ist Ethik-Professor an der Uni Bern.

Ein geschlechtliches «Es», das laut der Provokation von Bundesrat Ueli Maurer auf keinen Fall seine Nachfolge antreten sollte, hat in dieser Logik etwas Elementares wie ein passives Wahlrecht per Non-Binarität verloren. Das ist keine anregende Provokation, die einen konstruktiven Diskurs eröffnet, sondern vereitelt massiv die politische und moralische Berücksichtigung konkreter Person. 

In Andersheit könnte das moralisch Richtige liegen

Das ist für die Demokratie deshalb problematisch, weil zum Ethos der Demokratie nicht nur die Berücksichtigung von Mehrheiten, sondern gerade von kleineren Gruppen gehört. Ohne ihren Einfluss bestünde zum Beispiel die Gefahr, dass alles stets bliebe, wie es ist – und nur zur Abstimmung und Wahl steht, was den Status quo spiegelt.  

Die italienische Transperson Alessia Nobile beim Papst. Die französische Ordensschwester Genevier (Mitte) hatte das Treffen vermittelt.
Die italienische Transperson Alessia Nobile beim Papst. Die französische Ordensschwester Genevier (Mitte) hatte das Treffen vermittelt.

Kim de l’Horizon macht das für den Bereich des Geschlechtlichen deutlich. Damit wird etwas angestossen, worauf Demokratien nicht verzichten können: auf den Abbau starker Begriffe von Andersheiten und Grenzregimen. Denn in Andersheit könnte liegen, was aus moralischen Gründen berücksichtigt werden muss und dir näher ist, als du bisher glaubst. 

Missverstandener Schöpfungsbericht

Feindbilder und die Abgrenzung gegenüber vermeintlich anderen schweisst vermeintlich zusammen. Homogenitätsfiktionen über Personengruppen, die Ausdruck von Kontrastdenken und Herrschaftsgebaren sind, schaden jedoch der Demokratie und ihrem Ziel, die Dinge immer wieder, mindestens im Rhythmus von Abstimmungen und Wahlen, neu zu bedenken. 

Adam und Eva im Paradies: Glasfenster der Kapelle am Zürcher Unispital.
Adam und Eva im Paradies: Glasfenster der Kapelle am Zürcher Unispital.

«Gott erschuf den Menschen als sein Bild, als Bild Gottes erschuf er ihn. Männlich und weiblich erschuf er sie»: Wer sich in politisch oft konservativen Statements und Praxen der Verächtlichmachung von nicht-binären Personen, meist implizit, auf Genesis 1,27 beruft und glaubt, die Erschaffung des Menschen dort in zwei Kategorien sei ein zum Natur- und Kulturgut gewordener moralischer Orientierungspunkt, täuscht sich. Denn Absicht des Textes ist gerade die Aufhebung einer patriarchalen Vorordnung des Mannes vor der Frau. Diese nicht-hegemoniale Pointe nun hegemonial-kontrastiv einzusetzen, ist unsachlich. 

Kim de l’Horizons Replik ist beeindruckend entwaffnend

«Sie schicken mir Fäuste, ich küsse sie.» Und: «Ihr habt mich geschlagen. Aber ich vergebe euch.» Was Kim de l’Horizon in einer beeindruckend entwaffnenden Reaktion auf Uelis Maurers kolportierte Vorbehalte in der NZZ kommuniziert, entspricht einer für die Demokratie essentiellen Denkrichtung und verlangt nicht die Aufgabe eines Ortes im weiten Korridor des Geschlechtlichen, mit dem sich eine Person verbindet.

Sehr wohl aber geht es um den Abbau von Privilegien. Denn nur wo es einen anerkennenden und gerade nicht auslandenden Diskurs der Vielen gibt, erlaubt die demokratische Repräsentation eine Erfahrung von Gleichheit, die ihre oberste Maxime bildet.

* Mathias Wirth (38) ist Professor für theologische Ethik an der Universität Bern.


Die queere Person Kim de l'Horizon erhielt den Deutschen Buchpreises an der Frankfurter Buchmesse – und Personenschutz. | © Keystone
23. Oktober 2022 | 05:54
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