Bertrand Georges hat lange mit seiner Familie in der Gemeinschaft gelebt.
Schweiz

Gemeinschaft Verbe de Vie: Ehemaliges Mitglied bestätigt Vorwürfe

Der Vatikan hat die Auflösung der charismatischen Gemeinschaft Verbe de Vie beschlossen. Der zuständige Bischof hat erste Gespräche mit Verantwortlichen in Pensier (FR) geführt. Und ein früheres Mitglied bestätigt die Vorwürfe, erwähnt aber auch gute Seiten.

Raphaël Zbinden, cath.ch /Adaption: Regula Pfeifer

«Es ist noch zu früh, um genau zu sagen, was mit dem Standort Pensier geschehen wird», sagt Bischof François Touvet. Er ist Bischof von Châlons-en-Champagne, einem östlich von Paris gelegenen Bistum. Und er ist damit beauftragt, die Gemeinschaft Verbe de Vie bis zu ihrer tatsächlichen Auflösung zu verwalten. Die Auflösung wurde auf den 1. Juli 2023 beschlossen.

Von Frankreich in die Schweiz

Verbe de Vie ist eine Vereinigung von Gläubigen, die 1986 in der Corrèze – im französischen Zentralmassiv – durch das Ehepaar Ehepaar Josette und Georges Bonneval gegründet wurde.

Die Gemeinschaft kam 1992 in die Schweiz, genauer in die Pfarrei Saint-Pierre-de-Clages im Kanton Wallis, wo sie bis 1996 blieb. Ab 1993 war sie auch im Haus Saint-Dominique in Pensier (FR) aktiv.

Im Sommer 2021 verliessen die acht geweihten Verbe-de-Vie-Schwestern das Freiburger Dorf mit der Absicht, zurückzukehren. Die Laien-Gemeinschaft blieb im Haus Saint Dominique wohnen.

Bischof François Touvet von Châlons-en-Champagne
Bischof François Touvet von Châlons-en-Champagne

Unklare Zukunft des Hauses

Mit ihnen hat Touvet bereits Kontakt aufgenommen und über die Zukunft des Hauses Saint Dominique gesprochen. Aber es sei noch nichts Konkretes dabei herausgekommen, sagt der französische Bischof.

Er werde sich über die Eigentumsverhältnisse der Räumlichkeiten informieren, die derzeit von einem Verein verwaltet werden, so der Bischof. Die Verantwortlichen des Verbe de Vie in Pensier, bestätigten auf Anfrage, dass das Haus Saint Dominique Eigentum der Gemeinschaft sei.

Bischof Touvet meinte dazu: «Angesichts der Situation muss eine Trennung vom Haus Saint Dominique in Betracht gezogen werden.»

Das Haus Saint-Dominique in Pensier (FR), Niederlassung der Gemeinschaft Verbe de Vie
Das Haus Saint-Dominique in Pensier (FR), Niederlassung der Gemeinschaft Verbe de Vie

Begleitung der Mitglieder prioritär

Was mit den mit dem Haus verbundenen Personen geschehen wird, kann Touvet nicht sagen. Die Frage nach der Zukunft der Mitglieder des Verbe de Vie sei «ein zentrales Anliegen», versichert der Bischof von Châlons-en-Champagne.

Es sei «ein beispielloses Begleit-Dispositiv» eingerichtet worden. Die Rede- und Meinungs- und Wahlfreiheit sei ihnen hinsichtlich ihrer Zukunft garantiert worden.

François Touvet beauftragte ein Team von 20 Psychologinnen und Psychologen, von deren Dienst jedes Mitglied profitieren kann, mit einem Termin pro Woche.  Auch eine spirituelle Begleitung ist vorgesehen. Darüber hinaus wird eine Telefon-Hotline eingerichtet.

Hauptsorge: die geweihten Frauen

Die Hauptsorge des Bischofs gilt der Zukunft der 27 geweihten Frauen der Gemeinschaft Verbe de Vie. Das sagte der Bischof in einem Interview mit der Zeitung «La Vie». Er habe bereits Ordensgemeinschaften kontaktiert, die sie aufnehmen könnten.

Für die sieben Priester der Gemeinschaft ist die Situation anders. Denn sie sind in den Diözesen Toulon, Brüssel, Bamako (Mali) und Lausanne, Genf und Freiburg (LGF) inkardiniert. Sie können sich ihrer Diözese anschliessen, der Diözese, in der sie ihren Dienst ausüben, oder anderswo einer religiösen Gemeinschaft beitreten, wie der François Touvet sagt.

«Es gab viele Tränen»

Bischof François Touvet

Laut dem französischen Bischof stecken viele Mitglieder des Verbe de Vie in tiefer Verzweiflung. «Es gab viele Tränen», stellt er nach Einzelgesprächen fest. Der Bischof verteidigt jedoch die Notwendigkeit der Massnahme angesichts der Unfähigkeit der Gemeinschaft, sich zu reformieren.

Ein erster kanonischer Besuch hatte bereits 2002 alarmierende Missstände festgestellt. Eine zweite Visitation von Januar bis April 2022 «fand die gleichen Fakten wieder und vermittelte den Eindruck, dass sich die Dinge nicht ausreichend entwickelt hatten».

Auch die Gemeinschaft "Verbe de Vie" wird aufgelöst
Auch die Gemeinschaft "Verbe de Vie" wird aufgelöst

Ehepaar war fürs Haus verantwortlich

Diese Feststellung wird von ehemaligen Mitgliedern des Verbe de Vie, insbesondere in Freiburg, bestätigt. Der Diakon Bertrand Georges und seine Frau Françoise verbrachten 17 Jahre (1993–2010) in der Gemeinschaft in Pensier. Das Ehepaar war sogar mehrere Jahre lang für dieses Haus verantwortlich.

Bertrand Georges ist heute als Pastoralassistent in der Diözese Lausanne, Genf und Freiburg (LGF) tätig. Er versteht die Entscheidung, Verbe de Vie aufzulösen – angesichts der Schwierigkeiten, die die jüngste kanonische Visitation zutage brachte. Die Gemeinschaft verfüge heute nicht mehr über die notwendigen Kräfte, um eine Neugründung in Angriff zu nehmen, sagt er.

Unangemessene Muster wiederholten sich

«Meine Frau und ich wurden uns im Laufe der Jahre der chronischen Fehlfunktionen in der Gemeinschaft bewusst», sagt Bertrand Georges. Von Beginn an sei ein falscher Weg eingeschlagen worden.» Unangemessene Muster wiederholten sich in den verschiedenen Gemeindegründungen», so Georges. Nie sei der Wille oder die Fähigkeit zur Durchführung der notwendigen Reformen erkennbar gewesen.

Georges spricht auch von einer verpassten Chance nach der Visitation im Jahr 2002. Die von Bischof Bernard Louis Marie Charrier empfohlenen Reformen seien damals nicht umgesetzt worden. Charrier ist emeritierter Bischof von Tulle (Frankreich) und Garant der Gemeinschaft.

Zusammenleben nicht durchdacht

Laut Bertrand und Françoise Georges wurde die Frage der «Gemeinschaft der Lebensstände» nicht ausreichend durchdacht. Dies trotz ihrer grossen Bedeutung für die neuen charismatischen Gemeinschaften.

Denn in den Gemeinschaften von Verbe de Vie leben Familien, zölibatär lebende Laien und geweihte Personen zusammen. Die Instanzen der Gemeinschaft hätten die notwendigen Unterscheidungen zwischen diesen verschiedenen Realitäten – mit ihren je eigenen Anforderungen – damals nicht ausreichend berücksichtigt, sagen Bertrand und Françoise Georges. Das veranlasste das Ehepaar schliesslich, das Haus Saint Dominique in Pensier zu verlassen, in dem sie viele Jahre lang mit ihren Kindern gewohnt hatten.

Trotz aller Kritik sagt Bertrand Georges zum Abenteuer Verbe de Vie: «Man darf all das Gute nicht vergessen, das diese Gemeinschaft getan hat: ihren authentischen Wunsch, das Evangelium zu verkünden und der Kirche zu dienen, und die schönen Dinge, die die Menschen darin erlebt haben.» Pensier sei mit den Jahren «zu einem beliebten Ort für Exerzitien zur Vorbereitung auf die Sakramente der Kommunion und der Firmung geworden».

Der Diakon hofft, dass die derzeitigen Mitglieder des Verbe de Vie die Chance erhalten, ihren Glaubensweg in einem anderen günstigen Umfeld fortzusetzen.


Bertrand Georges hat lange mit seiner Familie in der Gemeinschaft gelebt. | © Grégory Roth
2. Juli 2022 | 13:58
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