Gedanken zum Sonntag: Keine Distanz wahren

Zum 9. September 2018 (Mk 7,31–37)

Keine Distanz wahren

Von Jacqueline Keune*

«Da brachte man einen Taubstummen zu Jesus, und bat, er möge ihn berühren.»

Vielleicht kam er so zur Welt, vielleicht wurden ihm als Kind die Ohren zugebrüllt, vielleicht hat ihm ein Schicksal die Sprache verschlagen, ein Trauma ihn für immer versiegelt. So oder so, obwohl der Mann die Menschen sehen, obwohl er sich unter ihnen bewegen kann, muss er sehr einsam gewesen sein. Nicht hören und nicht reden können, begrenzt auf sich selber, isoliert und macht aus Menschen Randständige. Der Mann sieht, wie die anderen lachen, wie sie reden, aber worüber sie lachen und reden? Am Ende über ihn?

Da brachte man also diesen Taubstummen, und Jesus nimmt ihn als Erstes beiseite, von der Menge weg. Wie einfühlsam er auf den Ort achtet, wo er sich dem Mann zuwenden kann, und wie taktvoll er ihn vor den Blicken der Neugier schützt. Was hier geschieht, geht ganz diesen einen Menschen an.

Die Sprache der Worte versteht er nicht, wohl aber die Sprache der Haut, darum legt Jesus seine Finger in die tauben Ohren und berührt mit seinem Speichel die stumme Zunge. Wortlos und intim, wie sonst nur Liebende beieinander sind. Und wie einer, der weiss, dass Berührung, dass Nähe Menschen heilen kann.

Dann verbindet sich Jesus mit dem Himmel, weil er nicht aus sich selbst heraus lebt, seufzt und sagt zu dem Taubstummen: Effata!

Der Mann sieht das Seufzen und wie sein Leiden dem Fremden zu Herzen geht. Und der Mann liest das einzige Wort, das fällt, von seinen Lippen: Öffne dich! Und seine Ohren gehen auf und seine Zunge wird befreit und «er konnte richtig reden.»

Was er wohl als erstes gesagt hat?

Was ist das für Einer, der mit den Menschen redet, obwohl sie taub sind?

Was ist das für Einer, der seine Finger auf die Wunden legt, obwohl es weh tut?

Es ist einer, der nicht darauf bedacht ist, Distanz zu wahren, sondern Nähe sucht. Es ist einer, der die Dinge nicht einfach hinnimmt, sondern etwas tut – gegen alle Erfahrung, gegen alle Vernunft. Einer, der weiss, dass es das Wort allein nur schwer Tag werden lässt in Menschen, und dass der Leib nicht selten der Schlüssel zur Seele ist.

*Jacqueline Keune ist freischaffende Theologin und lebt in Luzern.

 

8. September 2018 | 10:22
Lesezeit: ca. 1 Min.
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