Sandra war obdachlos. Filmbild aus «Aufzeichnungen aus dem Abseits» von Silvan Maximilian Hohl
Konstruktiv

Fertig mit Vorurteilen gegen Obdachlose in Zürich

Silvan Maximilian Hohl hat einen Film über Obdachlose in Zürich gemacht. Unbehagen und Vorurteile standen am Anfang seiner Recherchen. Sechs Erkenntnisse aus dem Film: «Aufzeichnungen aus dem Abseits».

Eva Meienberg

«Sorry, häsch mer chli Münz?» Diese Frage kann Silvan Maximilian Hohl* (27) heute mit gutem Gewissen beantworten: «Manchmal gebe ich etwas, manchmal nicht.»

Silvan Maximilian Hohl
Silvan Maximilian Hohl

Das war vor seinem neuesten Dokumentarfilm «Aufzeichnungen aus dem Abseits» anders. Unwissenheit und Vorurteile gegenüber obdachlosen Menschen hatten Silvan Maximilian Hohl vor allem Unbehagen beschert. Das wollte er ändern. Mit seinem Film über obdachlosen Menschen in Zürich ist ihm dies gelungen.

Experten in Sachen Obdachlosigkeit

Karl, Oliver und Sandra sind die Protagonisten und Experten in Sachen Obdachlosigkeit. Sandra war lange Jahre süchtig, litt unter Psychosen. Eines Tages holte sie die Polizei aus ihrer völlig zugemüllten Wohnung.

Die Verwaltung kündigte ihr die Wohnung. Von da an lebte Sandra auf der Strasse. Heute hat sie ihre Sucht überwunden und wohnt wieder selbständig in einer Wohnung.

Ausserhalb gesellschaftlicher Normen

Oliver ist nicht obdachlos, obwohl er äusserlich diesen Anschein macht. Er hat struppiges Haar und viele Zähne fehlen in seinem Mund. Sein Blick ist durchdringend, sein Lachen macht manchmal etwas Angst. Oliver sei ein sogenannter Systemsprenger, sagt Silvan Maximilian Hohl, bewege sich bewusst ausserhalb gesellschaftlicher Normen.

Oliver, der Künstler, hinter seiner Kamera in Bern. Filmbild
Oliver, der Künstler, hinter seiner Kamera in Bern. Filmbild

Sich selbst bezeichnet Oliver als Künstler. Mit seiner verstimmten Gitarre sitzt er in der Bahnhofpassage und singt seine Lieder. Am Abend zieht er mit seiner Kamera durch die nächtlichen Strassen und macht Porträts vom Partyvolk an der Zürcher Langstrasse.

Nächte im Pfuusbus

Karl ist obdachlos, entspricht aber nicht dem Klischee. Sein Tag ist strukturiert, er erledigt kleine Arbeiten und hat seine Routinen. Aber am Abend fährt der ehemalige Sanitärinstallateur mit seinem Velo nicht nach Hause, sondern zum Pfuusbus, wo er seine Nächte verbringt.

Karl macht Pause. Filmbild
Karl macht Pause. Filmbild

Neben diesen Protagonisten lässt der Filmemacher Sozialarbeitende aus städtischen und privaten Institutionen zu Wort kommen. Neben den Institutionen mit einem sozialen Auftrag hätten die Kirchen einen moralischen Auftrag, sagt Silvan Maximilian Hohl. Diesen zu erfüllen scheint aber gar nicht so einfach zu sein.

Kirche für Arme

Grossmünsterpfarrer Christoph Sigrist spricht für die Zürcher Landeskirchen und sagt: «Wir sind als reformierte und katholische Kirche in Zürich sicher nicht mehr die Kirche der Armen. Wir sind auch nicht die Kirche mit den Armen. Wir sind höchstens noch eine Kirche für die Armen.»

Grossmünsterpfarrer Christoph Sigrist
Grossmünsterpfarrer Christoph Sigrist

Der Dokumentarfilm räumt mit einigen Vorurteilen über Obdachlosigkeit in Zürich auf. Es stellt sich das Gefühl ein, dass eine grosse Infrastruktur besteht, auf die von Armut betroffene Menschen zurückgreifen können, wenn sie können und wollen. Und vielleicht entspannt sich der eine oder die andere, wenn das nächste Mal die Frage kommt: «Sorry, häsch mer chli Münz?»

Sechs Erkenntnisse aus Silvan Maximilian Hohls «Aufzeichnungen aus dem Abseits»:

Perspektive

Auf die Perspektive kommt es an. Der Filmemacher trägt dieser Erkenntnis Rechnung, indem er für jeden seiner Protagonisten eine andere Kamera mit einer eigenen Bildsprache wählt. Je nach Perspektive sieht Obdachlosigkeit anders aus. Dieses Gestaltungselement des Films ist auch ein Appell. Nimm doch mal die Perspektive eines obdachlosen Menschen ein!

Pragmatismus

Neben Leid und Verzweiflung hat Silvan Maximilian Hohl sowohl bei den Betroffenen als auch in den Institutionen viel Pragmatismus entdeckt. Jenseits von rührseligem Gutmenschentum helfen oft handfeste Lösungen am besten.

Essen und Rauchen

In der Stadt Zürich muss niemand Hunger leiden. Zahlreiche Institutionen bieten günstiges oder kostenloses Essen an. Viele Obdachlose decken sich an öffentlichen Aschenbechern mit Zigaretten ein.

Obdachlosigkeit

Obdachlosigkeit ist vielfältig. Nicht alle wollen eine Wohnung. Das ist nicht einfach zu verstehen und trotzdem wahr.

Hilfe

Hilfe muss beim Bedürfnis des Menschen beginnen, der Hilfe erwartet. Der Wille zum Helfen sagt noch nichts darüber aus, ob der andere die Hilfe annehmen will. Schlüsselsätze hier sind: «Darf ich dir helfen?» und «Was brauchst du?»

Betteln

Das Betteln sieht Silvan Maximilian Hohl heute als eine Art Vertrag. Eine eigentliche Verpflichtung, auch eine moralische, einer bettelnden Person etwas zu geben, sieht der Filmemacher nicht. Viele Leute regten sich über bettelnde Menschen auf, weil sie in diesem Moment auf eine unangenehme Weise mit sich selbst konfrontiert seien. Geben oder nicht geben? Bettelnde rechnen mit der Grosszügigkeit und dem Geiz der Menschen.

*Silvan Maximilian Hohl ist Filmemacher und Multimediaproduzent bei kath.ch. Er verantwortet den digitalen Jugendtreff underkath.ch. Silvan Maximilian Hohls erster Dokumentarfilm «Habemus Feminas!» von 2016 zeigt die Pilgerreise einer Gruppe von Frauen und Männern, die 1200 km zu Fuss von St. Gallen nach Rom zurücklegten, um sich für die Gleichberechtigung von Frau und Mann in der katholischen Kirche einzusetzen. Die Premiere von «Aufzeichnungen aus dem Abseits» findet am Samstag, 7. Mai 2022 im Kino Arthouse Alba in Zürich statt. Anmeldung zur Premiere unter diesem Link.


Sandra war obdachlos. Filmbild aus «Aufzeichnungen aus dem Abseits» von Silvan Maximilian Hohl | © Silvan Maximilian Hohl
4. Mai 2022 | 05:00
Lesezeit: ca. 3 Min.
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